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II. Die beiden Tauben, /
eine Fabel
Das Original von
Lafontaine ›Les deux Pigeons‹ findet sich hier.
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nach Lafontaine.
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Zwei Täubchen liebten sich mit zarter
Liebe./
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Jedoch, der weichen Ruhe überdrüſsig, /
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Ersann der Tauber eine Reise sich. /
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Die Taube rief: „Was unternimmst du, Lieber? /
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Von mir willst du, der süſsen
Freundinn,
Freundin,
scheiden: /
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Der Übel Gröſstes, ist’s die Trennung nicht? /
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Für dich nicht, leider, Unempfindlicher! / 10
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Denn selbst nicht Mühen können, und Gefahren, /
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Die schreckenden, an diese Brust dich fesseln. /
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Ja, wenn die Jahrszeit freundlicher dir wäre! /
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Doch bei des Winters immer regen Stürmen /
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Dich in das Meer hinaus der Lüfte wagen! /
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Erwarte mindestens den Lenz: was treibt dich? /
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Ein Rab’ auch, der den Himmelsplan durchschweifte, /
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Schien mir ein Unglück anzukündigen. /
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Ach, nichts als Unheil zitternd werd’ ich träumen, /
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Und nur das Netz stets und den Falken sehn. / 20
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Jetzt, ruf’ ich aus, jetzt stürmt’s: mein süſser Liebling, /
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Hat er jetzt Alles auch was er bedarf, /
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Schutz und die goldne Nahrung, die er braucht, /
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Weich auch und warm, ein Lager für die Nacht, /
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Und alles Weitre, was dazu gehört?“ — /
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Dies Wort bewegte einen Augenblick /
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Den raschen Vorsatz unsers jungen Thoren; /
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Doch die Begierde trug, die Welt zu sehn, /
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Und das unruh’ge Herz, den Sieg davon. /
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Er sagte: „Weine nicht! Zwei kurze Monden / 30
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Befriedigen jedweden Wunsch in mir. /
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Ich kehre wieder, Liebchen, um ein Kleines, /
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Jedwedes Abentheuer, Zug vor Zug, /
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Das mir begegnete, dir mitzutheilen. /
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Es wird dich unterhalten, glaube mir! /
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Ach, wer nichts sieht, kann wenig auch erzählen. /
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Hier, wird es heiſsen, war ich; dies erlebt’ ich; /
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Dort auch hat mich die Reise hingeführt: /
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Und du, im süſsen Wahnsinn der Gedanken, /
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Ein Zeuge dessen wähnen wirst du dich.“ — / 40
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Kurz, dies und mehr des Trostes zart erfindend, /
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Küſst er, und unterdrückt was sich ihm regt, /
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Das Täubchen, das die Flügel niederhängt, /
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Und fleucht. — /
Und aus des Horizontes
Tiefe /
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Steigt mitternächtliches Gewölk empor,/
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Gewitterregen häufig niedersendend. /
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Ergrimmte Winde brechen los: der Tauber /
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Kreucht unter’n ersten Strauch, der sich ihm beut. /
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Und während er, von stiller Öd’ umrauscht, / 50
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Die Fluth von den durchweichten Federn schüttelt, /
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Die strömende, und seufzend um sich blickt, /
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Denkt er, nach Wandrerart, sich zu zerstreun, /
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Des blonden Täubchens heim, das er verlieſs. /
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Und sieht erst jetzt, wie sie beim Abschied schweigend /
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Das Köpfchen niederhieng, die Flügel senkte, /
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Den weiſsen Schoos mit stillen Thränen netzend: /
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Und selbst, was seine Brust noch nie empfand, /
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Ein Tropfen, groſs und glänzend, steigt ihm auf. /
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Getrocknet doch, beim ersten Sonnenstrahl, / 60
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So Aug’ wie Leib, setzt er die Reise fort, /
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Und kehrt, wohin ein Freund ihn warm empfohlen, /
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In eines Städters reiche Wohnung ein. /
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Von Moos und duft’gen Kräutern zubereitet, /
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Wird ihm ein Nest, an Nahrung fehlt es nicht, /
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Viel Höflichkeit, um dessen, der ihn sandte, /
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Wird ihm zu Theil, viel Gut’ und Artigkeit: /
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Der lieblichen Gefühle keins für sich. /
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Und sieht die Pracht der Welt und Herrlichkeiten, /
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Die schimmernden, die ihm der Ruhm genannt, / 70
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Und kennt nun Alles, was sie Würd’ges beut, /
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Und fühlt unseel’ger sich, als je, der Arme, /
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Und steht, in Öden steht man öder nicht, /
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Umringt von allen ihren Freuden, da. /
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Und fleucht, das Paar der Flügel emsig regend,/
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Unausgesetzt, auf keinen Thurm mehr achtend, /
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Zum Täubchen hin, und sinkt zu Füſsen ihr, /
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Und schluchzt, in endlos heftiger Bewegung, /
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Und küsset sie, und weiſs ihr nichts zu sagen — /
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Ihr, die sein armes Herz auch wohl versteht! / 80
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Ihr Seel’gen, die ihr liebt; ihr
wollt verreisen? /
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O laſst es in die nächste Grotte sein! /
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Seid euch die Welt einander selbst und achtet, /
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Nicht eines Wunsches werth, das Übrige! /
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Ich auch, das Herz einst eures Dichters, liebte: /
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Ich hätte nicht um Rom und seine Tempel, /
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Nicht um des Firmamentes Prachtgebäude, /
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Des lieben Mädchens Laube hingetauscht!/
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Wann kehrt ihr wieder, o ihr Augenblicke, /
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Die ihr dem Leben einz’gen Glanz ertheilt? / 90
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So viele jungen, lieblichen Gestalten, /
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Mit unempfundnem Zauber sollen sie /
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An mir vorübergehn? Ach, dieses Herz! /
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Wenn es doch einmal noch erwarmen könnte! /
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Hat keine Schönheit einen Reiz mehr, der/
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Mich rührt? Ist sie entflohn, die Zeit der Liebe — ?/
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H. v. K.
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