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  • Marquise [Phöbus-Fassung]

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3

I. Die Marquise von O....

In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, lieſs die verwittwete Mar⸗
quise
von O...., eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren
wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: daſs sie, ohne
ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sey; daſs der Vater zu dem Kinde, 5
das sie gebähren würde, sich melden solle; und daſs sie, aus Familien-Rück⸗
sichten
, entschlossen wäre, ihn zu heirathen.
Die Dame, die einen so sonder⸗
baren
, den Spott der Welt reizenden Schritt, beim Drang unabänderlicher Um⸗
stände
, mit dieser Sicherheit that, war die Tochter des Herrn von G...., Com⸗
mendanten
der Citadelle bei M.
Sie hatte, vor ohngefähr drei Jahren, ihren Ge⸗10
mahl
, den Marquis von O...., dem sie auf das Innigste und Zärtlichste zugethan
war, auf einer Reise verloren, die er, in Geschäften der Familie, nach Paris
gemacht hatte.
Auf Frau von G....s, ihrer würdigen Mutter, Wunsch, hatte
sie, nach seinem Tode, den Landsitz verlassen, den sie bisher bei V.... be⸗
wohnt
hatte, und war, mit ihren beiden Kindern, in das Commendantenhaus, 15
zu ihrem Vater, zurückgekehrt.
Hier hatte sie die nächsten Jahre, mit Kunst,
Lectüre, mit Erziehung, und ihrer Eltern Pflege beschäftigt, in der gröſsten Ein⸗
gezogenheit
zugebracht: bis der .... Krieg plötzlich die Gegend umher mit den
Truppen fast aller Mächte, und auch mit russischen, erfüllte.
Der Obrist von
G...., welcher den Platz zu vertheidigen Ordre hatte, forderte seine Gemahlinn 20
und seine Tochter auf, sich auf das Landgut, entweder der Letzteren, oder sei⸗
nes
Sohnes, das bei V.... lag, zurückzuziehen.
Doch ehe sich die Abschätzung
noch, hier der Bedrängnisse, denen man in der Festung, dort der Gräuel, denen
man auf dem platten Lande ausgesetzt sein konnte, auf der Waage der weiblichen
Überlegung entschieden hatte: war die Citadelle von den russischen Truppen schon 25
berennt, und aufgefordert, sich zu ergeben.
Der Obrist erklärte gegen seine Fa⸗
milie
, daſs er sich nunmehr verhalten würde, als ob sie nicht vorhanden wäre;
und antwortete mit Kugeln und Granaten.
Der Feind, seinerseits, bombardirte
die Citadelle.
Er steckte die Magazine in Brand, eroberte ein Auſsenwerk, und
als der Commendant, nach einer nochmaligen Aufforderung, noch mit der Über⸗30
gabe
zauderte, so ordnete er einen nächtlichen Überfall an, und eroberte die
Festung mit Sturm.

4

Eben als die russischen Truppen, unter einem heftigen Haubitzenspiel, von
auſsen eindrangen, fieng der linke Flügel des Commendantenhauses Feuer und nö⸗
thigte
die Frauen, ihn zu verlassen.
Die Obristinn, indem sie der Tochter, die 35
mit den Kindern die Treppe hinabfloh, nacheilte, rief, daſs man zusammenblei⸗
ben
, und sich in die untern Gewölbe flüchten möchte; doch eine Granate, die,
eben in diesem Augenblicke, in dem Hause zerplatzte, vollendete die gänzliche
Verwirrung derselben.
Die Marquise kam, mit ihren beiden Kindern, auf den
Vorplatz des Schlosses, wo die Schüsse schon, im heftigsten Kampf, durch die 40
Nacht blitzten, und sie, besinnungslos, wohin sie sich wenden solle, wieder in
das brennende Gebäude zurückjagten.
Hier, unglücklicher Weise, begegnete ihr,
da sie eben durch eine Hinterthür entschlüpfen wollte, ein Trupp feindlicher
Scharfschützen, der, bei ihrem Anblick, plötzlich still ward, die Gewehre über
die Schultern hieng, und sie, unter abscheulichen Gebährden, mit sich fortführte.
45
Vergebens rief die Marquise, von der entsetzlichen, sich unter einander selbst be⸗
kämpfenden
, Rotte bald hier, bald dorthin gezerrt, ihre zitternden, durch die
Pforte zurückfliehenden Frauen, zu Hülfe.
Man schleppte sie in den hinteren
Schloſshof, wo sie eben, unter den schändlichsten Miſshandlungen, zu Boden
sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russi⸗50
scher
Officier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren,
mit wüthenden Hieben zerstreute.
Der Marquise schien er ein Engel des Himmels
zu sein.
Er stieſs noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken
Leib umfaſst hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daſs er, mit aus dem
Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot der Dame, unter einer verbind⸗55
lichen
, französischen Anrede den Arm; und führte sie, die von allen solchen Auf⸗
tritten
sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen,
Flügel des Pallastes, wo sie auch völlig bewuſstlos niedersank.
Hier — traf er,
da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu
rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daſs sie sich bald erholen 60
würde; und kehrte in den Kampf zurück.

Der Platz war in kurzer Zeit völlig erobert, und der Commendant, der sich
nur noch wehrte, weil man ihm keinen Pardon geben wollte, zog sich eben mit
sinkenden Kräften nach dem Portal des Hauses zurück, als der russische Officier,
sehr erhitzt im Gesicht, aus demselben hervortrat, und ihm zurief, sich zu er⸗65
geben
.
Der Commendant antwortete, daſs er auf diese Aufforderung nur gewartet
habe, reichte ihm seinen Degen dar, und bat sich die Erlaubniſs aus, sich ins
Schloſs begeben und nach seiner Familie umsehen zu dürfen.
Der russische Offi⸗
cier
, der, nach der Rolle zu urtheilen, die er spielte, Einer der Anführer des
Sturms zu sein schien, gab ihm, unter Begleitung einer Wache, diese Freiheit; 70
setzte sich, mit einiger Eilfertigkeit, an die Spitze eines Detaschements, entschied,
wo er noch zweifelhaft sein mochte, den Kampf, und bemannte schleunigst die
5festen Puncte des Forts.
Bald darauf kehrte er auf den Waffenplatz zurück, gab
Befehl, der Flamme, welche wüthend um sich zu greifen anfieng, Einhalt zu
thun, und leistete selbst hierbei Wunder der Anstrengung, als man seine Befehle 75
nicht mit dem gehörigen Eifer befolgte.
Bald kletterte er, den Schlauch in der
Hand, mitten unter brennenden Giebeln umher, und regierte den Wasserstrahl;
bald steckte er, die Naturen der Asiaten mit Schaudern erfüllend, in den Arsenä⸗
len
, und wälzte Pulverfässer und gefüllte Bomben heraus.
Der Commendant, der
inzwischen in das Haus getreten war, gerieth auf die Nachricht von dem Unfall, 80
der die Marquise betroffen hatte, in die äuſserste Bestürzung.
Die Marquise, die
sich schon völlig, ohne Beihülfe des Arztes, wie der russische Officier vorher
gesagt hatte, aus ihrer Ohnmacht wieder erholt hatte, und bei der Freude, alle
die Ihrigen gesund und wohl zu sehen, nur noch, die übermäſsige Sorge dersel⸗
ben
zu beschwichtigen, das Bett hütete, versicherte ihn, daſs sie keinen andern 85
Wunsch habe, als aufstehen zu dürfen, um ihrem Retter ihre Dankbarkeit zu be⸗
zeugen
.
Sie wuſste schon, daſs er der Graf F..., Obristlieutenant vom t...n
Jägercorps, und Ritter eines Verdienst- und mehrerer anderen Orden war.
Sie bat
ihren Vater, ihn inständigst zu ersuchen, daſs er die Citadelle nicht verlasse,
ohne sich einen Augenblick im Schloſs gezeigt zu haben.
Der Commendant, der 90
das Gefühl seiner Tochter ehrte, kehrte auch ungesäumt in das Fort zurück, und
trug ihm, da er unter unaufhörlichen Kriegsanordnungen umherschweifte, und
keine bessere Gelegenheit zu finden war, auf den Wällen, wo er eben die zer⸗
schossenen
Rotten revidirte, den Wunsch seiner gerührten Tochter vor.
Der Graf
versicherte ihn, daſs er nur auf den Augenblick warte, den er seinen Geschäften 95
würde abmüſsigen können, um ihr seine Ehrerbietigkeit zu bezeugen.
Er wollte
noch hören, wie sich die Frau Marquise befinde? als ihn die Rapporte mehrerer
Officiere schon wieder in das Gewühl des Krieges zurückrissen.
Als der Tag an⸗
brach
, erschien der Befehlshaber der russischen Truppen, und besichtigte das
Fort.
Er bezeugte dem Commendanten seine Hochachtung, bedauerte, daſs das 100
Glück seinen Muth nicht besser unterstützt habe, und gab ihm, auf sein Ehren⸗
wort
, die Freiheit, sich hinzubegeben, wohin er wolle.
Der Commendant ver⸗
sicherte
ihn seiner Dankbarkeit, und äuſserte, wie viel er, an diesem Tage, den
Russen überhaupt, und besonders dem jungen Grafen F..., Obristlieutenant vom
t...n Jägercorps, schuldig geworden sei.
Der General fragte, was vorgefallen sei; 105
und als man ihn von dem frevelhaften Anschlag auf die Tochter desselben unter⸗
richtete
, zeigte er sich auf das Äuſserste entrüstet.
Er rief den Grafen F... bei
Namen vor.
Nachdem er ihm zuvörderst wegen seines eignen edelmüthigen Verhaltens
eine kurze Lobrede gehalten hatte: wobei der Graf über das ganze Gesicht roth
ward; schloſs er, daſs er die Schandkerle, die den Namen des Kaisers brand⸗110
markten
, niederschieſsen lassen wolle; und befahl ihm, zu sagen, wer sie seien?

Der Graf F... antwortete, in einer verwirrten Rede, daſs er nicht im Stande
sei, ihre Namen anzugeben, indem es ihm, bei dem schwachen Schimmer der
6Reverberen im Schloſshof, unmöglich gewesen wäre, ihre Gesichter zu erkennen.

Der General, welcher gehört hatte, daſs damals schon das Schloſs in Flammen 115
stand, wunderte sich darüber; er bemerkte, wie man wohlbekannte Leute in
der Nacht an ihren Stimmen erkennen könnte; und gab ihm, da er mit einem
verlegenen Gesicht die Achseln zuckte, auf, der Sache auf das Allereifrigste und
Strengste nachzuspüren.
In diesem Augenblick berichtete jemand, der sich aus
dem hintern Kreise hervordrängte, daſs Einer von den, durch den Grafen F... 120
verwundeten, Frevlern, da er in dem Corridor niedergesunken, von den Leuten
des Commendanten in ein Behältniſs geschleppt worden, und darin noch befind⸗
lich
sei.
Der General lieſs diesen hierauf durch eine Wache herbeiführen, ein
kurzes Verhör über ihn halten; und die ganze Rotte, nachdem er sie genannt
hatte, fünf an der Zahl zusammen, erschieſsen.
Dies abgemacht, gab der Gene⸗125
ral
, nach Zurücklassung einer kleinen Besatzung, Befehl zum allgemeinen Auf⸗
bruch
der übrigen Truppen; die Officiere zerstreuten sich eiligst zu ihren Corps;
der Graf trat, durch die Verwirrung der Auseinander-Eilenden, zum Commandan⸗
ten
, und bedauerte, daſs er sich der Frau Marquise unter diesen Umständen
gehorsamst empfehlen müsse: und in weniger, als einer Stunde, war das ganze 130
Fort von Russen wieder leer.

Die Familie dachte nun darauf, wie sie, in der Zukunft, eine Gelegenheit
finden würde, dem Grafen irgend eine Äuſserung ihrer Dankbarkeit zu geben;
doch wie groſs war ihr Schrecken, als sie erfuhr, daſs derselbe noch am Tage seines
Aufbruchs aus dem Fort, in einem Gefecht mit den feindlichen Truppen seinen 135
Tod gefunden habe.
Der Courier, der diese Nachricht nach M... brachte, hatte
ihn mit eignen Augen, tödtlich durch die Brust geschossen, nach P.... tragen
sehen, wo er, wie man sichere Nachricht hatte, in dem Augenblick, da ihn
die Träger von den Schultern nehmen wollten, verblichen war.
Der Comman⸗
dant
, der sich selbst auf das Posthaus verfügte, und sich nach den näheren Um⸗140
ständen
dieses Vorfalls erkundigte, erfuhr noch, daſs er auf dem Schlachtfeld, in
dem Moment, da ihn der Schuſs traf, gerufen hatte: Julietta! Diese Kugel rächt
dich! und nachher seine Lippen auf immer geschlossen hatte.
Die Marquise war
untröstlich, daſs sie die Gelegenheit hatte vorbeigehen lassen, sich zu seinen Füſsen
zu werfen.
Sie machte sich die lebhaftesten Vorwürfe, daſs sie ihn, bei seiner, 145
vielleicht aus Bescheidenheit, wie sie meinte, herrührenden Weigerung, im
Schlosse zu erscheinen, nicht selbst aufgesucht habe; bedauerte die Unglückliche,
ihre Namensschwester, an die er noch im Tode gedacht hatte; bemühte sich ver⸗
gebens
, ihren Aufenthalt zu erforschen, um sie von diesem unglücklichen und
rührenden Vorfall zu unterrichten; und mehrere Monden vergiengen, ehe sie selbst 150
ihn vergessen konnte.

Die Familie muſste nun das Commandantenhaus räumen, um dem russischen
Befehlshaber darin Platz zu machen.
Man stritt anfangs, ob man sich nicht auf
7die Güter des Commendanten begeben sollte, wozu die Marquise einen groſsen
Hang hatte; doch da der Obrist das Landleben nicht liebte, so bezog die Familie 155
ein Haus in der Stadt, und richtete sich dasselbe zu einer immerwährenden Woh⸗
nung
ein.
Alles kehrte nun in die alte Ordnung der Dinge zurück: die Marquise
knüpfte den lange unterbrochenen Unterricht ihrer Kinder wieder an, und suchte,
für die Feierstunden, ihre Staffelei und Bücher hervor: als sie sich, sonst die Göttinn
der Gesundheit selbst, von wiederholten Unpäſslichkeiten befallen fühlte, die sie, 160
ganze Wochen lang, für die Gesellschaft untauglich machten.
Sie litt an Übelkeiten,
Schwindeln und Ohnmachten, und wuſste nicht, was sie aus diesem sonderbaren
Zustand machen solle.
Eines Morgens, da die Familie beim Thee saſs, und der Vater
sich, auf einen Augenblick, aus dem Zimmer entfernt hatte, sagte die Marquise, aus
einer langen Gedankenlosigkeit erwachend, zu ihrer Mutter: wenn mir eine Frau 165
sagte, daſs sie ein Gefühl hätte, eben so, wie ich jetzt, da ich die Tasse ergriff, so
würde ich bei mir denken, daſs sie in gesegneten Leibesumständen wäre.
Frau von
G.... sagte, sie verstände sie nicht.
Die Marquise erklärte sich noch einmal, daſs
sie eben jetzt eine Sensation gehabt hätte, wie damals, als sie mit ihrer zweiten Toch⸗
ter
schwanger war.
Frau von G.... sagte, sie würde vielleicht den Phantasus 170
gebähren, und lachte.
Der Traum wenigstens, versetzte die Marquise, würde
sein Vater sein; und scherzte gleichfalls.
Doch der Obrist kam, das Gespräch
ward abgebrochen, und der ganze Gegenstand, da die Marquise sich in einigen Tagen
wieder erholte, vergessen.

Bald darauf ward der Familie, eben zu einer Zeit, da sich auch der Forstmeister 175
von G...., des Commendanten Sohn, in dem Hause eingefunden hatte, der sonder⸗
bare
Schrecken, durch einen Kammerdiener, der in’s Zimmer trat, den Grafen F...
anmelden zu hören.
Der Graf F...! sagte der Vater und die Tochter zugleich; und
das Erstaunen machte Alle sprachlos.
Der Kammerdiener versicherte, daſs er recht
gesehen und gehört habe; und daſs der Graf schon im Vorzimmer stehe, 180
und warte.
Der Commendant sprang sogleich selbst auf, ihm zu öffnen, wor⸗
auf
er, schön, wie ein junger Gott, ein wenig bleich im Gesicht, ein⸗
trat
.
Nachdem die Scene unbegreiflicher Verwunderung vorüber war, und der Graf,
auf die Anschuldigung der Eltern, daſs er ja todt sei, versichert hatte, daſs er
lebe; wandte er sich, mit vieler Rührung im Gesicht, zur Tochter, und seine erste 185
Frage war gleich, wie sie sich befinde?
Die Marquise versicherte, sehr wohl, und
wollte nur wissen, wie er in’s Leben erstanden sei?
Doch er, auf seinen Gegen⸗
stand
beharrend, erwiederte: daſs sie ihm nicht die Wahrheit sage; auf ihrem Antlitz
drücke sich eine seltsame Mattigkeit aus; ihn müsse Alles trügen, oder sie sei unpäſs⸗
lich
, und leide.
Die Marquise, durch die Herzlichkeit, womit er dies vorbrachte, 190
gut gestimmt, versetzte: nun ja, diese Mattigkeit, wenn er wolle, könne für die
Spur einer Kränklichkeit gelten, an welcher sie vor einigen Wochen gelitten hätte; sie
fürchte inzwischen nicht, daſs diese weiter von Folgen sein würde.
Worauf er, mit
8einer aufflammenden Freude, erwiederte: er auch nicht! und hinzusetzte, ob sie ihn
heirathen wolle?
Die Marquise wuſste nicht, was sie von dieser Aufführung denken 195
solle.
Sie sah, über und über roth, ihre Mutter, und diese, mit Verlegenheit, den
Sohn und den Vater an; während der Graf vor die Marquise trat, und indem er ihre
Hand nahm, als ob er sie küssen wolle, wiederholte: ob sie ihn verstanden hätte?

Der Commendant sagte: ob er nicht Platz nehmen wolle; und setzte ihm, auf eine
verbindliche, obschon etwas ernsthafte, Art einen Stuhl hin.
Die Obristinn sprach: 200
in der That, wir werden glauben, daſs Sie ein Geist sind, bis Sie uns werden eröff⸗
net
haben, wie Sie aus dem Grabe, in welches man Sie zu P... gelegt hatte, erstan⸗
den
sind.
Der Graf setzte sich, indem er die Hand der Dame fahren lieſs, nieder,
und sagte, daſs er, durch die Umstände gezwungen, sich sehr kurz fassen müsse;
daſs er, tödtlich durch die Brust geschossen, nach P... gebracht worden wäre; daſs 205
er mehrere Monate daselbst an seinem Leben verzweifelt hätte; daſs während dessen
die Frau Marquise sein einziger Gedanke gewesen wäre; daſs er die Lust und den
Schmerz nicht beschreiben könnte, die sich in dieser Vorstellung umarmt hätten; daſs
er endlich, nach seiner Wiederherstellung, wieder zur Armee gegangen wäre; daſs
er daselbst die lebhafteste Unruhe empfunden hätte; daſs er mehrere Male die Feder 210
ergriffen, um in einem Briefe, an den Herrn Obristen und die Frau Marquise, seinem
Herzen Luft zu machen; daſs er plötzlich mit Depeschen nach Neapel geschickt wor⸗
den
wäre; daſs er nicht wisse, ob er nicht von dort weiter nach Constantinopel werde
abgeordert werden; daſs er vielleicht gar nach St. Petersburg werde gehen müssen,
daſs ihm inzwischen unmöglich wäre, länger zu leben, ohne über eine nothwendige 215
Forderung seiner Seele ins Reine zu sein; daſs er dem Drang bei seiner Durchreise
durch M..., einige Schritte zu diesem Zweck zu thun, nicht habe widerstehen kön⸗
nen
; kurz, daſs er den Wunsch hege, mit der Hand der Frau Marquise beglückt zu
werden, und daſs er auf das Ehrfurchtvollste, Inständigste und Dringendste bitte,
sich ihm hierüber gütig zu erklären. —
Der Commendant, nach einer langen Pause, 220
erwiederte: daſs ihm dieser Antrag zwar, wenn er, wie er nicht zweifle, ernsthaft
gemeint sei, sehr schmeichelhaft wäre.
Bei dem Tode ihres Gemahls, des Marquis
von O..., hätte sich seine Tochter aber entschlossen, in keine zweite Vermählung
einzugehen.
Da ihr jedoch kürzlich von ihm eine so groſse Verbindlichkeit auferlegt
worden sei: so wäre es nicht unmöglich, daſs ihr Entschluſs dadurch, seinen Wün⸗225
schen
gemäſs, eine Abänderung erleide; er bitte sich inzwischen die Erlaubniſs für
sie aus, darüber im Stillen während einiger Zeit nachdenken zu dürfen.
Der Graf
versicherte, daſs diese gütige Erklärung zwar alle seine Hoffnungen befriedige; daſs
sie ihn, unter anderen Umständen, auch völlig beglücken würde; daſs er die ganze
Unschicklichkeit fühle, sich mit derselben nicht zu beruhigen: daſs dringende Ver⸗230
hältnisse
jedoch, über welche er sich näher auszulassen nicht im Stande sei, ihm eine
bestimmtere Erklärung äuſserst wünschenswerth machten; daſs die Pferde, die ihn
nach Neapel tragen sollten, vor seinem Wagen stünden; und daſs er inständigst bitte,
wenn irgend etwas in diesem Hause günstig für ihn spreche, — wobei er die Mar⸗
9quise
ansah — ihn nicht, ohne eine gütige Äuſserung darüber, abreisen zu lassen.
235
Der Obrist, durch diese Aufführung ein wenig betreten, antwortete, daſs die Dank⸗
barkeit
, die die Marquise für ihn empfände, ihn zwar zu groſsen Voraussetzungen
berechtige; doch nicht zu so groſsen, sie werde bei einem Schritte, bei welchem es
das Glück ihres Lebens gelte, ohne die gehörige Klugheit verfahren.
Es wäre uner⸗
laſslich
, daſs seiner Tochter, bevor sie sich erkläre, das Glück seiner näheren Bekannt⸗240
schaft
würde.
Er lade ihn ein, nach Vollendung seiner Geschäftsreise, nach M...
zurückzukehren, und auf einige Zeit der Gast seines Hauses zu sein.
Wenn alsdann die
Frau Marquise hoffen könne, durch ihn glücklich zu werden, so werde er, doch eher
nicht, mit Freuden vernehmen, daſs sie ihm eine bestimmte Antwort gegeben habe.

Der Graf äuſserte, indem ihm eine Röthe in’s Gesicht stieg, daſs er seinen ungeduldi⸗245
gen
Wünschen, während seiner ganzen Reise, dies Schicksal vorausgesagt habe; daſs
er sich inzwischen dadurch in die äuſserste Bekümmerniſs gestürzt sehe; daſs ihm,
bei der ungünstigen Rolle, die er eben jetzt zu spielen gezwungen sei, eine nähere
Bekanntschaft nicht anders, als vortheilhaft, sein könne; daſs er für seinen Ruf, wenn
anders diese zweideutigste aller Eigenschaften in Erwägung gezogen werden solle, 250
einstehen zu dürfen glaube; daſs die einzige nichtswürdige Handlung, die er in sei⸗
nem
Leben begangen hätte, der Welt unbekannt, und er schon im Begriff sei, sie
wieder gut zu machen; daſs er, mit einem Wort, ein ehrlicher Mann sei, und die
Versicherung anzunehmen bitte, daſs diese Versicherung wahrhaftig sei. —
Der Com⸗
mendant
erwiederte, indem er ein wenig, obschon ohne Ironie, lächelte, daſs er 255
alle diese Äuſserungen unterschreibe.
Noch hätte er keines jungen Mannes Bekannt⸗
schaft
gemacht, der, in so kurzer Zeit, so viele vortreffliche Eigenschaften des Cha⸗
racters
entwickelt hätte.
Er glaube fast, daſs eine kurze Bedenkzeit die Unschlüssig⸗
keit
, die noch obwalte, heben würde; bevor er jedoch Rücksprache genommen hätte,
mit seiner sowohl, als des Herrn Grafen Familie, könne keine andere Erklärung, als 260
die gegebene, erfolgen.
Hierauf äuſserte der Graf, daſs er ohne Eltern, und frei sei.
Sein Onkel sei der General K..., für dessen Einwilligung er stehe. Er setzte hinzu,
daſs er Herr eines ansehnlichen Vermögens wäre, und sich würde entschlieſsen kön⸗
nen
, Italien zu seinem Vaterlande zu machen. —
Der Commendant machte ihm eine
verbindliche Verbeugung, erklärte seinen Willen noch einmal; und bat ihn, bis nach 265
vollendeter Reise, von dieser Sache abzubrechen.
Der Graf, nach einer kurzen Pause,
in welcher er alle Merkmale der gröſsten Unruhe gegeben hatte, sagte, indem er sich
zur Mutter wandte, daſs er sein Äuſserstes gethan hätte, um dieser Geschäftsreise aus⸗
zuweichen
; daſs die Schritte, die er deshalb beim General en Chef, und dem General
K..., seinem Onkel, gewagt hätte, die Entscheidendsten gewesen wären, die sich 270
hätten thun lassen; daſs man aber geglaubt hätte, ihn dadurch aus einer Schwermuth
aufzurütteln, die ihm von seiner Krankheit noch zurückgeblieben wäre; und daſs er
sich jetzt völlig dadurch ins Elend gestürzt sehe. —
Die Familie wuſste nicht, was
sie zu dieser Äuſserung sagen sollte.
Der Graf fuhr fort, indem er sich die Stirn rieb,
daſs wenn irgend Hoffnung wäre, dem Ziele seiner Wünsche dadurch näher zu kom⸗275
10men,
er seine Reise, auf einen Tag, auch wohl noch etwas darüber, aussetzen
würde, um es zu versuchen. —
Hierbei sah er, nach der Reihe, den Commendan⸗
ten
, die Marquise und die Mutter an.
Der Commendant blickte miſsvergnügt vor
sich nieder, und antwortete ihm nicht.
Die Obristinn sagte: gehn Sie, gehn Sie,
Herr Graf; reisen Sie nach Neapel; schenken Sie uns, wenn Sie wiederkehren, auf 280
einige Zeit das Glück Ihrer Gegenwart; so wird sich das Übrige finden. —
Der Graf
saſs einen Augenblick, und schien zu suchen, was er zu thun habe.
Drauf, indem
er sich erhob, und seinen Stuhl wegsetzte: da er die Hoffnungen, sprach er, mit de⸗
nen
er in dies Haus getreten sei, als übereilt erkennen müsse, und die Familie, wie
er nicht miſsbillige, auf eine nähere Bekanntschaft bestehe: so werde er seine Depe⸗285
schen
, zu einer anderweitigen Expedition, nach Z..., in das Hauptquartier, zurück⸗
schicken
, und das gütige Anerbieten, der Gast dieses Hauses zu sein, auf einige Wo⸗
chen
annehmen.
Worauf er noch, den Stuhl in der Hand, an der Wand stehend,
einen Augenblick verharrte, und den Commendanten ansah.
Der Commendant ver⸗
setzte
, daſs es ihm äuſserst leid thun würde, wenn die Leidenschaft, die er zu sei⸗290
ner
Tochter gefaſst zu haben scheine, ihm Unannehmlichkeiten von der ernsthaftesten
Art zuzöge: daſs er inzwischen wissen müsse, was er zu thun und zu lassen habe,
die Depeschen abschicken, und die für ihn bestimmten Zimmer beziehen möchte.

Man sah ihn bei diesen Worten sich entfärben, der Mutter ehrerbietig die Hand küs⸗
sen
, sich gegen die Übrigen verneigen und sich entfernen.
295

Als er das Zimmer verlassen hatte, wuſste die Familie nicht, was sie aus dieser
Erscheinung machen solle.
Die Mutter sagte, es wäre wohl nicht möglich, daſs er
Depeschen, mit denen er nach Neapel gienge, nach Z... zurückschicken wolle, bloſs,
weil es ihm nicht gelungen wäre, auf seiner Durchreise durch M..., in einer fünf
Minuten langen Unterredung, von einer ihm ganz unbekannten Dame ein Jawort zu 300
erhalten.
Der Forstmeister äuſserte, daſs eine so leichtsinnige That ja mit nichts Ge⸗
ringerem
, als Festungsarrest, bestraft werden würde!
Und Cassation obenein, setzte
der Commendant hinzu.
Es habe aber damit keine Gefahr, fuhr er fort. Es sei ein
bloſser Schreckschuſs beim Sturm; er werde sich wohl noch, ehe er die Depeschen
abgeschickt, wieder besinnen.
Die Mutter, als sie von dieser Gefahr unterrichtet 305
ward, äuſserte die lebhafteste Besorgniſs, daſs er sie abschicken werde.
Sein hefti⸗
ger
, auf einen Punct hintreibender Wille, meinte sie, scheine ihr grade einer sol⸗
chen
That fähig.
Sie bat den Forstmeister auf das Dringendste, ihm sogleich nachzu⸗
gehen
, und ihn von einer so unglücksvollen Handlung abzuhalten.
Der Forstmeister
erwiederte, daſs ein solcher Schritt gerade das Gegentheil bewirken, und ihn nur in 310
der Hoffnung, durch seine Kriegslist zu siegen, bestärken würde.
Die Marquise war
derselben Meinung, obschon sie versicherte, daſs ohne ihn die Absendung der Depe⸗
schen
unfehlbar erfolgen würde, indem er lieber werde unglücklich werden, als sich
eine Blöſse geben wollen.
Alle kamen darin überein, daſs sein Betragen sehr sonder⸗
bar
sei, und daſs er Damenherzen durch Anlauf, wie Festungen, zu erobern gewohnt 315
11scheine.
In diesem Augenblick bemerkte der Commendant den angespannten Wagen
des Grafen vor seiner Thür.
Er rief die Familie an’s Fenster, und fragte einen eben
eintretenden Bedienten, erstaunt, ob der Graf noch im Hause sei?
Der Bediente ant⸗
wortete
, daſs er unten, in der Domestikenstube, in Gesellschaft eines Adjutanten,
Briefe schreibe und Pakete versiegle.
Der Commendant, der seine Bestürzung unter⸗320
drückte
, eilte mit dem Forstmeister hinunter, und fragte den Grafen, da er ihn auf
dazu nicht schicklichen Tischen seine Geschäfte betreiben sah, ob er nicht in seine
Zimmer treten wolle?
Und ob er sonst irgend etwas befehle? Der Graf erwiederte,
indem er mit Eilfertigkeit fortschrieb, daſs er unterthänigst danke; daſs sein Geschäft
abgemacht sei; fragte noch, indem er den Brief zusiegelte, nach der Uhr; und 325
wünschte dem Adjutanten, nachdem er ihm das ganze Portefeuille übergeben hatte,
eine glückliche Reise.
Der Commendant, der seinen Augen nicht traute, sagte, in⸗
dem
der Adjutant zum Hause hinausgieng: Herr Graf, wenn Sie nicht sehr wichtige
Gründe haben —
Entscheidende! fiel ihm der Graf in’s Wort; begleitete den Adju⸗
tanten
zum Wagen, und öffnete ihm die Thür.
In diesem Fall würde ich wenigstens, 330
fuhr der Commendant fort, die Depeschen —
Es ist nicht möglich, antwortete der
Graf, indem er den Adjutanten in den Sitz hob.
Die Depeschen gelten nichts in Nea⸗
pel
ohne mich.
Ich habe auch daran gedacht. Fahr zu! — Und die Briefe Ihres
Herrn Onkels? rief der Adjutant, sich aus der Thür hervorbeugend.
Treffen mich,
erwiederte der Graf, in M....
Fahr zu, sagte der Adjutant, und rollte mit dem Wa⸗335
gen
dahin.

Hierauf fragte der Graf F..., indem er sich zum Commendanten wandte, ob er
ihm gefälligst sein Zimmer anweisen lassen wolle?
Er würde gleich selbst die Ehre
haben, antwortete der verwirrte Obrist; rief seinen und des Grafen Leuten, das Ge⸗
päck
desselben aufzunehmen; und führte ihn in die für fremden Besuch bestimmten 340
Gemächer des Hauses; wo er sich ihm mit einem trocknen Gesicht empfahl.
Der
Graf kleidete sich um; verlieſs das Haus, um sich bei dem Gouverneur des Platzes zu
melden; und für den ganzen weiteren Rest des Tages im Hause unsichtbar, kehrte er
erst kurz vor der Abendtafel dahin zurück.

Inzwischen war die Familie in der lebhaftesten Unruhe. Der Forstmeister er⸗345
zählte
, wie bestimmt, auf einige Vorstellungen des Commendanten, des Grafen Ant⸗
worten
ausgefallen wären; meinte, daſs sein Verhalten einem völlig überlegten Schritt
ähnlich sehe; und fragte, in aller Welt, nach den Ursachen einer so auf Courierpfer⸗
den
gehenden Bewerbung.
Der Commendant sagte, daſs er von der Sache nichts ver⸗
stehe
, und forderte die Familie auf, davon weiter nicht in seiner Gegenwart zu spre⸗350
chen
.
Die Mutter sah alle Augenblicke aus dem Fenster, ob er nicht kommen, seine
leichtsinnige That bereuen, und wieder gut machen werde.
Endlich, da es finster
ward, setzte sie sich zur Marquise nieder, welche, mit vieler Emsigkeit, an einem
Tisch arbeitete, und das Gespräch zu vermeiden schien.
Sie fragte sie halblaut, wäh⸗
rend
der Vater auf- und niedergieng, ob sie begreife, was aus dieser Sache werden 355
12solle?
Die Marquise antwortete, mit einem, schüchtern nach dem Commendanten
gewandten, Blick: wenn der Vater bewirkt hätte, daſs er nach Neapel gereis’t wäre,
so wäre Alles gut.
Nach Neapel! rief der Commendant, der dies gehört hatte. Sollt’
ich den Priester holen lassen?
Oder hätt’ ich ihn binden lassen und arretiren, und
mit Bewachung nach Neapel schicken sollen? —
Nein, antwortete die Marquise; 360
aber lebhafte und eindringliche Vorstellungen thun ihre Wirkung, und sah, ein wenig
unwillig, wieder auf ihre Arbeit nieder. —
Endlich gegen die Nacht erschien der
Graf.
Man erwartete nur, nach den ersten Höflichkeitsbezeugungen, daſs dieser
Gegenstand zur Sprache kommen würde, um ihn mit vereinter Macht zu bestürmen,
den Schritt, den er gewagt hätte, wenn es noch möglich sei, wieder zurückzuneh⸗365
men
. Doch vergebens, während der ganzen Abendtafel, erharrte man diesen Augen⸗
blick
.
Geflissentlich Alles, was darauf führen konnte, vermeidend, unterhielt er den
Commendanten vom Kriege und den Forstmeister von der Jagd.
Als er des Gefechts
bei P..., in welchem er verwundet worden war, erwähnte, verwickelte ihn die
Mutter bei der Geschichte seiner Krankheit, fragte ihn, wie es ihm an diesem klei⸗370
nen
Orte ergangen sei, und ob er die gehörigen Bequemlichkeiten gefunden hätte.

Hierauf erzählte er mehrere, durch seine Leidenschaft zur Marquise interessanten,
Züge: wie sie beständig, während seiner Krankheit, an seinem Bette gesessen hätte;
wie er die Vorstellung von ihr, in der Hitze des Wundfiebers, immer mit der Vor⸗
stellung
eines Schwans verwechselt hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gü⸗375
tern
gesehen; daſs ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, da er die⸗
sen
Schwan einst mit Koth beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein wie⸗
der
aus der Fluth emporgekommen sei; daſs sie immer auf feurigen Fluthen umherge⸗
schwommen
wäre, und er Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans
gewesen wäre, aber nicht im Stande gewesen wäre, sie an sich locken, indem sie 380
ihre Freude gehabt hätte blos am Rudern und In-die-Brust-sich-werfen; versicherte
plötzlich, blutroth im Gesicht, daſs er sie auſserordentlich liebe: sah wieder auf sei⸗
nen
Teller nieder, und schwieg.
Man muſste endlich von der Tafel aufstehen; und
da der Graf, nach einem kurzen Gespräch mit der Mutter, sich sogleich gegen die
Gesellschaft verneigte, und wieder in sein Zimmer zurückzog: so standen die Mitglieder 385
derselben wieder, und wuſsten nicht, was sie sagen sollten.
Der Commendant
meinte: man müsse der Sache ihren Lauf lassen.
Er rechne wahrscheinlich auf seine
Verwandten bei diesem Schritte.
Infame Cassation stünde sonst darauf. Frau von
G.... fragte ihre Tochter, was sie denn von ihm halte?
Und ob sie sich wohl zu
irgend einer Äuſserung, die ein Unglück vermiede, würde verstehen können?
Die 390
Marquise antwortete: Liebste Mutter! Das ist nicht möglich.
Es thut mir leid, daſs
meine Dankbarkeit auf eine so harte Probe gestellt wird.
Doch es war mein Ent⸗
schlu
ſs, mich nicht wieder zu vermählen; ich mag mein Glück nicht, und nicht so
unüberlegt, auf ein zweites Spiel setzen.
Der Forstmeister bemerkte, daſs wenn dies
ihr fester Wille wäre; auch diese Erklärung ihm Nutzen schaffen könne, und daſs 395
es fast nothwendig scheine, ihm irgend eine bestimmte zu geben.
Die Obristinn
13versetzte, daſs da dieser junge Mann, den so viele auſserordentliche Eigenschaften
empfehlen, seinen Aufenthalt in Italien nehmen zu wollen, erklärt habe, sein Antrag,
nach ihrer Meinung, einige Rücksicht, und der Entschluſs der Marquise Prüfung ver⸗
diene
.
Der Forstmeister, indem er sich bei ihr niederlieſs, fragte, wie er ihr denn, 400
was seine Person anbetreffe, gefalle?
Die Marquise antwortete, mit einiger Verlegen⸗
heit
: er gefällt und miſsfällt mir; und berief sich auf das Gefühl der Anderen.
Die
Obristinn sagte: wenn er von Neapel zurückkehrte, und die Erkundigungen, die wir
inzwischen über ihn einziehen könnten, dem Gesammteindruck, den du von ihm
empfangen hast, nicht widersprächen: wie würdest du dich, falls er alsdann seinen 405
Antrag wiederholte, erklären?
In diesem Fall, versetzte die Marquise, würd’ ich
— da in der That seine Wünsche so lebhaft scheinen, diese Wünsche — sie schwieg,
und ihre Augen glänzten, indem sie dies sagte — um der Verbindlichkeit willen, die
ich ihm schuldig bin, erfüllen.
Die Mutter, die eine zweite Vermählung ihrer Toch⸗
ter
immer gewünscht hatte, hatte Mühe, ihre Freude über diese Erklärung zu verber⸗410
gen
, und sann, was sich wohl daraus machen lasse.
Der Forstmeister sagte, indem
er unruhig vom Sitz wieder aufstand, daſs wenn die Marquise irgend an die Möglich⸗
keit
denke, ihn einst mit ihrer Hand zu erfreuen, jetzt gleich nothwendig ein Schritt
dazu geschehen müsse, um den Folgen seiner rasenden That vorzubeugen.
Die Mut⸗
ter
war derselben Meinung, und behauptete, daſs zuletzt das Wagstück nicht allzu⸗415
gro
ſs wäre, indem bei so vielen vortrefflichen Eigenschaften, die er in jener Nacht,
da das Fort von den Russen erstürmt ward, entwickelte, kaum, daſs sein übriger
Lebenswandel ihnen nicht entsprechen sollte, zu fürchten sei.
Die Marquise sah,
mit dem Ausdruck der lebhaftesten Unruhe, vor sich nieder.
Man könnte ihm ja,
fuhr die Mutter fort, indem sie ihre Hand ergriff, etwa eine Erklärung, daſs du, bis 420
zu seiner Rückkehr von Neapel, in keine andre Verbindung eingehen wollest, zukom⸗
men
lassen.
Die Marquise sagte: diese Erklärung, liebste Mutter, kann ich ihm
geben; ich fürchte nur, daſs sie ihn nicht beruhigen, und uns verwickeln wird.
Das
sei meine Sorge! erwiederte die Mutter, mit lebhafter Freude; und sah sich nach dem
Commendanten um.
Lorenzo! fragte sie, was meinst du? und machte Anstalten, 425
sich vom Sitz zu erheben.
Der Commendant, der Alles gehört hatte, stand am Fen⸗
ster
, sah auf die Straſse hinaus, und sagte nichts.
Der Forstmeister versicherte, daſs
er, mit dieser unschädlichen Erklärung, den Grafen aus dem Hause zu schaffen sich
anheischig mache.
Nun so macht! macht! macht! rief der Vater, indem er sich um⸗
kehrte
: ich muſs mich diesem Russen schon zum zweitenmal ergeben! —
Hierauf 430
sprang die Mutter auf, küſste ihn und die Tochter, und fragte, indem der Vater über
ihre Geschäftigkeit lächelte, wie man dem Grafen jetzt diese Erklärung augenblicklich
hinterbringen solle?
Man beschloſs, auf den Vorschlag des Forstmeisters, ihn bitten
zu lassen, sich, falls er noch nicht entkleidet sei, gefälligst auf einen Augenblick zur
Familie zu verfügen.
Er werde gleich die Ehre haben zu erscheinen! lieſs der Graf 435
antworten, und kaum war der Kammerdiener mit dieser Meldung zurück, als er
schon selbst, mit Schritten, die die Freude beflügelte, in’s Zimmer trat, und zu den
14Füſsen der Marquise, in der allerlebhaftesten Rührung, niedersank.
Der Commen⸗
dant
wollte etwas sagen: doch er, indem er aufstand, versetzte, er wisse genug!
küſste ihm und der Mutter die Hand, umarmte den Bruder, und bat nur um die Ge⸗440
fälligkeit
, ihm sogleich zu einem Reisewagen zu verhelfen.
Die Marquise, obschon
von diesem Auftritt bewegt, sagte doch: ich fürchte nicht, Herr Graf, daſs Ihre
rasche Hoffnung Sie zu weit —
Nichts! Nichts! versetzte der Graf; es ist nichts ge⸗
schehen
, wenn die Erkundigungen, die Sie über mich einziehen mögen, dem Ge⸗
fühl
widersprechen, das mich zu Ihnen in dies Zimmer zurückberief.
Hierauf umarmte 445
der Commendant ihn auf das Herzlichste, der Forstmeister bot ihm sogleich seinen
eignen Reisewagen an, ein Jäger flog auf die Post, Courierpferde auf Prämien zu be⸗
stellen
, und Freude war bei dieser Abreise, wie noch niemals bei einem Empfang.

Er hoffe, sagte der Graf, die Depeschen in B... einzuholen, von wo er jetzt einen
näheren Weg nach Neapel, als über M..., einschlagen würde; in Neapel würde er 450
sein Möglichstes thun, die fernere Geschäftsreise nach Constantinopel abzulehnen; und
da er, auf den äuſsersten Fall, entschlossen wäre, sich krank anzugeben, so ver⸗
sicherte
er, daſs wenn nicht unvermeidliche Hindernisse ihn abhielten, er in Zeit von
vier bis sechs Wochen unfehlbar wieder in M... sein würde.
Hierauf meldete sein
Jäger, daſs der Wagen angespannt, und Alles zur Abreise bereit sei.
Der Graf nahm 455
seinen Huth, trat vor die Marquise, und ergriff ihre Hand.
Nun denn, sprach er,
Julietta, so bin ich einigermaſsen beruhigt; und legte seine Hand in die ihrige; ob⸗
schon
es mein sehnlicher Wunsch war, mich noch vor meiner Abreise mit Ihnen zu
vermählen.
Vermählen! riefen alle Mitglieder der Familie aus. Vermählen, wieder⸗
holte
der Graf, küſste der Marquise die Hand, und versicherte, da diese fragte, ob 460
er von Sinnen sei: es würde ein Tag kommen, wo sie ihn verstehen würde!
Die
Familie wollte auf ihn böse werden; doch er nahm gleich hierauf auf das Wärmste
von Allen Abschied, bat sie, über diese Äuſserung nicht nachzudenken, und reis’te ab.

Mehrere Wochen, in welchen die Familie, mit sehr verschiedenen Empfindun⸗
gen
, auf den Ausgang dieser sonderbaren Sache gespannt war, verstrichen: der Com⸗465
mendant
empfieng vom General K..., dem Onkel des Grafen, eine höfliche Zuschrift;
der Graf selbst schrieb aus Neapel; die Erkundigungen, die man über ihn einzog,
sprachen ziemlich zu seinem Vortheil; kurz, man hielt die Verlobung schon für so
gut, wie abgemacht: als sich die Kränklichkeiten der Marquise, mit gröſserer Leb⸗
haftigkeit
, als jemals, wieder einstellten.
Sie bemerkte eine unbegreifliche Verände⸗470
rung
ihrer Gestalt.
Sie entdeckte sich mit völliger Freimüthigkeit ihrer Mutter, und
sagte, sie wisse nicht, was sie von ihrem Zustand denken solle.
Die Mutter, welche
so sonderbare Zufälle für die Gesundheit ihrer Tochter äuſserst besorgt machten, ver⸗
langte
, daſs sie einen Arzt zu Rathe ziehe.
Die Marquise, die durch ihre Natur zu
siegen hoffte, sträubte sich dagegen; sie brachte mehrere Tage noch, ohne dem Rath 475
der Mutter zu folgen, unter den empfindlichsten Leiden zu: bis Gefühle, immer wie⸗
derkehrende
, und von so wunderbarer Art, sie in die lebhafteste Unruhe stürzten.

15Sie lieſs einen Arzt rufen, der das Vertrauen ihres Vaters besaſs, nöthigte ihn, da ge⸗
rade
die Mutter abwesend war, auf den Divan nieder, und eröffnete ihm, nach einer
kurzen Einleitung, scherzend, was sie von sich glaube.
Der Arzt warf einen for⸗480
schenden
Blick auf sie; schwieg noch, nachdem er eine genaue Untersuchung vollen⸗
det
hatte, eine Zeitlang: und antwortete dann, mit einer sehr ernsthaften Miene, daſs
sich die Frau Marquise ganz richtig beurtheile.
Nachdem er sich, auf die Frage der
Dame, wie er dies verstehe? ganz deutlich erklärt, und mit einem Lächeln, das er
nicht unterdrücken konnte, gesagt hatte, daſs sie ganz gesund sei, und keinen Arzt 485
brauche: zog die Marquise, und sah ihn sehr streng von der Seite an, die Klingel,
und bat ihn, sich zu entfernen.
Sie äuſserte halblaut, als ob er der Rede nicht werth
wäre, vor sich nieder murmelnd: daſs sie nicht Lust hätte, mit ihm über Gegenstände
dieser Art zu scherzen.
Der Doctor erwiederte empfindlich: er müsse wünschen,
daſs sie immer zum Scherz so wenig aufgelegt gewesen wäre, wie jetzt; nahm Stock 490
und Huth, und machte Anstalten, sich sogleich zu empfehlen.
Die Marquise ver⸗
sicherte
, daſs sie von diesen Beleidigungen ihren Vater unterrichten würde.
Der Arzt
antwortete, er würde eher Berge, als seine feste Meinung von ihr, versetzen können;
öffnete die Thür, verneigte sich, und wollte das Zimmer verlassen.
Die Marquise
fragte, da er noch einen Handschuh, den er hatte fallen lassen, von der Erde auf⸗495
nahm
: und die Möglichkeit davon, Herr Doctor?
Der Arzt erwiederte, daſs er ihr
die letzten Gründe der Dinge nicht werde zu erklären brauchen; verneigte sich ihr
noch einmal, und gieng ab.

Die Marquise stand, wie vom Donner gerührt. Sie raffte sich auf, und wollte
zu ihrem Vater eilen; doch der sonderbare Ernst des Mannes, von dem sie sich belei⸗500
digt
sah, lähmte alle ihre Glieder.
Sie warf sich in der gröſsten Bewegung auf den
Divan nieder.
Sie durchlief, gegen sich selbt miſstrauisch, alle Momente des verflos⸗
senen
Jahres, und hielt sich für verrückt, wenn sie an den letzten dachte.
Endlich
erschien die Mutter; und auf die bestürzte Frage, weshalb sie so unruhig sei? er⸗
zählte
ihr die Tochter, was ihr der Arzt so eben eröffnet hatte.
Frau von G.... 505
nannte ihn einen Unverschämten und Nichtswürdigen, und bestärkte die Tochter in
dem Entschluſs, diese Beleidigung dem Vater zu entdecken.
Die Marquise ver⸗
sicherte
, daſs es sein völliger Ernst gewesen sei, und daſs er entschlossen scheine,
dem Vater in’s Gesicht seine rasende Behauptung zu wiederholen.
Frau von G....
fragte, nicht wenig erschrocken, ob sie denn an die Möglichkeit eines solchen Zu⸗510
standes
glaube?
Eher, antwortete die Marquise, daſs die Gräber befruchtet werden,
und sich dem Schooſse der Leichen eine Geburt entwickeln wird!
Nun, du liebes,
wunderliches Weib, sagte die Obristinn, indem sie sie fest an sich drückte: was
beunruhigt dich denn?
Wenn dein Bewuſstsein dich rein spricht: wie kann dich
das Urtheil, und wäre es einer ganzen Consulta von Ärzten, nur kümmern?
Ob das 515
Seinige aus Irrthum, ob es aus Bosheit entsprang: gilt es dir nicht völlig gleichviel?

Doch schicklich ist es, daſs wir es dem Vater entdecken. — O Gott! sagte die Marquise,
16mit einer convulsivischen Bewegung: wie kann ich mich beruhigen.
Hab’ ich nicht
mein eignes, innerliches, mir nur allzuwohlbekanntes Gefühl gegen mich?
Würd‘
ich nicht, wenn ich einer Andern meine Empfindung wüſste, von ihr selbst urthei⸗520
len
, daſs es damit seine Richtigkeit habe?
Es ist entsetzlich, versetzte die Obristinn.
Bosheit! Irrthum! fuhr die Marquise fort. Was kann dieser Mann, der uns bis auf
den heutigen Tag schätzenswürdig erschien, für Gründe haben, mich auf eine so
muthwillige und niederträchtige Art zu kränken?
Mich, die ihn nicht beleidigt hatte?
Die ihn mit Vertrauen, und dem Vorgefühl zukünftiger Dankbarkeit, empfieng? 525
Bei der er, wie seine ersten Worte zeugten, mit dem reinen und unverfälschten Wil⸗
len
erschien, zu helfen, nicht Schmerzen, grimmigere, als ich empfand, erst zu er⸗
regen
?
Und wenn ich in der Nothwendigkeit der Wahl, fuhr sie fort, während die
Mutter sie unverwandt ansah, an einen Irrthum glauben wollte: ist es wohl möglich,
daſs ein Arzt, auch nur von mittelmäſsiger Geschicklichkeit, in solchem Falle irre? —
530
Die Obristinn sagte ein wenig spitz: und gleichwohl muſs es doch nothwendig Eins
oder das Andere gewesen sein.
Ja! versetzte die Marquise, meine theuerste Mutter,
indem sie ihr, mit dem Ausdruck der gekränkten Würde, hochroth im Gesicht glü⸗
hend
, die Hand küſste: das muſs es!
Obschon die Umstände so auſserordentlich sind,
daſs es mir erlaubt ist, daran zu zweifeln.
Ich schwöre, weil es doch einer Versi⸗535
cherung
bedarf, daſs mein Bewuſstsein, wie meiner Kinder ist; nicht reiner, Vereh⸗
rungswürdigste
, kann das Ihrige sein.
Gleichwohl bitte ich Sie, mir eine Hebamme
rufen zu lassen, damit ich mich von dem, was ist, überzeuge, und gleichviel als⸗
dann
, was es sei, beruhige.
Eine Hebamme! rief Frau von G.... mit Entwürdi⸗
gung
.
Ein reines Bewuſstsein, und eine Hebamme! Und die Sprache gieng ihr aus. 540
Eine Hebamme, meine theuerste Mutter, wiederholte die Marquise, indem sie sich
auf Knieen vor ihr niederlieſs; und das augenblicklich, wenn ich nicht wahnsinnig
werden soll.
O sehr gern, versetzte die Obristinn. Nur bitte ich, das Wochenlager
nicht in meinem Hause zu halten.
Und damit stand sie auf, und wollte das Zimmer
verlassen.
Die Marquise, ihr mit ausgestreckten Armen folgend, fiel ganz auf das 545
Gesicht nieder, und umfaſste ihre Kniee.
Wenn irgend ein unsträfliches Leben, rief
sie, mit der Beredtsamkeit des Schmerzes, ein Leben, nach Ihrem Muster geführt,
mir ein Recht auf Ihre Achtung giebt, wenn irgend ein mütterliches Gefühl auch nur,
so lange meine Schuld nicht sonnenklar entschieden ist, in Ihrem Busen für mich
spricht: so verlassen Sie mich in diesen entsetzlichen Augenblicken nicht. —
Was 550
ist es, das dich beunruhigt? fragte die Mutter.
Ist es weiter nichts, als der Aus⸗
spruch
des Arztes?
Weiter nichts, als dein innerliches Gefühl? Nichts weiter, meine
Mutter, versetzte die Marquise, und legte ihre Hand auf die Brust.
Nichts, Julietta?
fuhr die Mutter fort.
Besinne dich. Ein Fehltritt, so unsäglich er mich schmerzen
würde, er lieſse sich, und ich müſst’ ihn zuletzt verzeihn; doch wenn du, um einem 555
mütterlichen Verweis auszuweichen, ein Mährchen von der Umwälzung der Welt⸗
ordnung
ersinnen, und gotteslästerliche Schwüre häufen könntest, um es meinem, dir
nur allzugerngläubigen, Herzen aufzubürden: so wäre das schändlich: ich würde dir
17niemals wieder gut werden. —
Möge das Reich der Erlösung einst so offen vor mir
liegen, wie meine Seele vor Ihnen, rief die Marquise.
Ich verschweige Ihnen nichts, 560
meine Mutter. —
Diese Äuſserung, voll Pathos gethan, erschütterte die Mutter.
O Himmel! rief sie: mein liebenswürdiges Kind! Wie rührst du mich! Und hob sie
auf, und küſste sie, und drückte sie an ihre Brust.
Was denn, in aller Welt, fürchtest
du?
Komm, du bist sehr krank. Sie wollte sie in ein Bett führen. Doch die Mar⸗
quise
, welcher die Thränen häufig flossen, versicherte, daſs sie sehr gesund wäre, 565
und daſs ihr gar nichts fehle, auſser jenem sonderbaren und unbegreiflichen Zu⸗
stand
. —
Zustand! rief die Mutter wieder. Welch ein Zustand? Wenn dein Ge⸗
dächtni
ſs über die Vergangenheit so sicher ist, welch ein Wahnsinn der Furcht ergriff
dich?
Kann ein innerliches Gefühl denn, das doch nur dunkel sich regt, nicht trü⸗
gen
?
Nein! Nein! sagte die Marquise, es trügt mich nicht! Und wenn Sie die 570
Hebamme rufen lassen wollen, so werden sie hören, daſs das Entsetzliche, mich
Vernichtende, wahr ist. —
Komm, meine liebste Tochter, sagte Frau von G...,
die für ihren Verstand zu fürchten anfieng.
Komm, folge mir, und lege dich zu
Bett.
Was meintest du, daſs dir der Arzt gesagt hat? Wie dein Gesicht glüht!
Wie du an allen Gliedern so zitterst! Was war es schon, daſs dir der Arzt gesagt 575
hat?
Und damit zog sie die Marquise, ungläubig nunmehr an den ganzen Auftritt,
den sie ihr erzählt hatte, mit sich fort. —
Die Marquise sagte: Liebe! Vortreffliche!
indem sie mit weinenden Augen lächelte.
Ich bin meiner Sinne mächtig. Der Arzt
hat mir gesagt, daſs ich in gesegneten Umständen bin.
Lassen Sie die Hebamme ru⸗
fen
: und sobald sie sagt, daſs es nicht wahr ist, bin ich wieder ruhig.
Gut, gut! 580
erwiederte die Obristinn, die ihre Angst unterdrückte.
Sie soll gleich kommen. Sie
soll gleich, wenn du dich von ihr willst auslachen lassen, erscheinen, und dir sagen,
daſs du eine Träumerinn, und nicht recht klug bist.
Und damit zog sie die Klingel,
und schickte augenblicklich einen ihrer Leute, der die Hebamme rufe.

Die Marquise lag noch, mit unruhig sich hebender Brust, in den Armen ihrer 585
Mutter, als diese Frau erschien, und die Obristinn ihr, an welcher seltsamen Vor⸗
stellung
ihre Tochter krank liege, eröffnete.
Die Frau Marquise schwöre, daſs sie
sich tugendhaft verhalten habe, und gleichwohl halte sie, von einer unbegreiflichen
Empfindung getäuscht, für nöthig, daſs eine sachverständige Frau ihren Zustand un⸗
tersuche
.
Die Hebamme, während sie sich von demselben unterrichtete, sprach von590
jungem Blut und der Arglist der Welt; äuſserte, als sie ihr Geschäft vollendet hatte,
dergleichen Fälle wären ihr schon vorgekommen; die jungen Wittwen, die in ihre
Lage kämen, meinten alle auf wüsten Inseln gelebt zu haben; beruhigte inzwischen
die Frau Marquise, und versicherte sie, daſs sich der muntere Corsar, der zur Nacht⸗
zeit
gelandet, schon finden würde.
Bei diesen Worten fiel die Marquise in Ohnmacht. 595
Die Obristinn, die ihr mütterliches Gefühl nicht überwältigen konnte, brachte sie
zwar, mit Hülfe der Hebamme, wieder ins Leben zurück.
Doch die Entrüstung
siegte, da sie erwacht war.
Julietta! rief die Mutter mit dem lebhaftesten Schmerz.
18Willst du dich mir entdecken? Willst du den Vater mir nennen? Und schien noch
zur Versöhnung geneigt.
Doch als die Marquise sagte, daſs sie wahnsinnig werden 600
würde, sprach die Mutter, indem sie sich vom Divan erhob: geh! geh! du bist
nichtswürdig!
Verflucht die Stunde, da ich dich gebahr! und verlieſs das Zimmer.

Die Marquise, der das Tageslicht von Neuem schwinden wollte, zog die Geburts⸗
helferinn
vor sich nieder, und legte ihr Haupt heftig zitternd an ihre Brust.
Sie
fragte, mit gebrochener Stimme, wie denn die Natur auf ihren Wegen walte?
Und 605
ob die Möglichkeit einer unwissentlichen Empfängniſs sei? —
Die Hebamme lächelte,
machte ihr das Tuch los, und sagte, das würde ja doch der Frau Marquise Fall nicht
sein.
Nein, nein, antwortete die Marquise, sie habe wissentlich empfangen, sie
wolle nur im Allgemeinen wissen, ob diese Erscheinung im Reiche der Natur sei?

Die Hebamme versetzte, daſs dies, soviel ihr bekannt sei, noch keinem Weibe auf 610
Erden zugestoſsen wäre.
Die Marquise zitterte immer heftiger. Sie glaubte, daſs sie
augenblicklich niederkommen würde, und bat die Geburtshelferinn, indem sie sich
mit krampfhafter Beängstigung an sie schloſs, sie nicht zu verlassen.
Die Hebamme
beruhigte sie.
Sie versicherte, daſs das Wochenbett noch beträchtlich entfernt wäre,
gab ihr auch die Mittel an, wie man, in solchen Fällen, dem Leumund der Welt aus⸗615
weichen
könne, und meinte, es würde noch Alles gut werden.
Doch da diese Trost⸗
gründe
der unglücklichen Dame völlig wie Messerstiche durch die Brust fuhren, so
sammelte sie sich, sagte, sie befände sich besser, und bat ihre Gesellschafterinn, sich
zu entfernen.

Kaum war die Hebamme aus dem Zimmer, als ihr ein Schreiben von der Mutter 620
gebracht ward, in welchem diese sich auslieſs: „Herr von G.... wünsche, unter
den obwaltenden Umständen, daſs sie sein Haus verlasse.
Er sende ihr hierbei die
über ihr Vermögen lautenden Papiere, und hoffe, daſs ihm Gott den Jammer ersparen
werde, sie wieder zu sehen.“ —
Der Brief war inzwischen von Thränen benetzt;
und in einem Winkel stand ein verwischtes Wort: dictirt. —
Der Marquise stürzte 625
der Schmerz aus den Augen.
Sie gieng, heftig über den Irrthum ihrer Eltern weinend,
und über die Ungerechtigkeit, zu welcher diese vortrefflichen Menschen verführt wur⸗
den
, nach den Gemächern ihrer Mutter.
Es hieſs, sie sei bei ihrem Vater: sie wankte
nach den Gemächern ihres Vaters.
Sie sank, als sie die Thüre verschlossen fand, mit
jammernder Stimme, alle Heiligen zu Zeugen ihrer Unschuld anrufend, vor derselben 630
nieder.
Sie mochte wohl schon einige Minuten hier gelegen haben, als der Forstmei⸗
ster
aus derselben hervortrat, und mit flammendem Gesicht sagte, sie höre, daſs der
Commendant sie nicht sehen wolle.
Die Marquise rief: mein liebster Bruder! unter
vielem Schluchzen; drängte sich ins Zimmer, und rief: mein theuerster Vater! und
streckte die Arme nach ihm aus.
Der Commendant wandte ihr, bei ihrem Anblick, 635
den Rücken zu, und eilte in sein Schlafgemach.
Er rief, als sie ihn dahin verfolgte,
hinweg! und wollte die Thüre zuwerfen; doch da sie, unter Jammern und Flehen,
daſs er sie schlieſse, verhinderte, so gab er plötzlich nach und eilte, während die
19Marquise zu ihm hineintrat, nach der Wand.
Sie warf sich ihm, der ihr den Rücken
zugekehrt hatte, eben zu Füſsen, und umfaſste zitternd seine Kniee, als ein Pistol, 640
das er ergriffen hatte, in dem Augenblick, da er es von der Wand herabriſs, losgieng,
und der Schuſs schmetternd in die Decke fuhr.
Herr meines Lebens! rief die Marquise,
erhob sich leichenblaſs von ihren Knieen, und eilte aus seinen Gemächern wieder hin⸗
weg
.
Man soll sogleich anspannen! sagte sie, indem sie in die ihrigen trat; setzte
sich, matt bis in den Tod, auf einen Sessel nieder, zog ihre Kinder eilfertig an, und 645
lieſs die Sachen einpacken.
Sie hatte eben ihr Kleinstes zwischen den Knieen, und
schlug ihm noch ein Tuch um, um nunmehr, da Alles zur Abreise bereit war, in
den Wagen zu steigen: als der Forstmeister eintrat, und auf Befehl des Commendan⸗
ten
die Zurücklassung und Überlieferung der Kinder von ihr forderte.
Dieser Kinder?
fragte sie; und stand auf.
Sag deinem unmenschlichen Vater, daſs er kommen, und 650
mich niederschieſsen: nicht aber mir meine Kinder entreiſsen könne!
Und hob, mit
dem ganzen Stolz der Unschuld gerüstet, ihre Kinder auf, trug sie, ohne daſs der
Bruder gewagt hätte, sie anzuhalten, in den Wagen, und fuhr ab.

Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich
plötzlich, wie an ihrer eignen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal655
sie herabgestürzt hatte, empor.
Der Aufruhr, der ihre Brust zerriſs, legte sich, als
sie im Freien war, sie küſste häufig die Kinder, diese ihre liebe Beute, und mit gro⸗
ſser
Selbstzufriedenheit gedachte sie, welch einen Sieg sie, durch die Kraft ihres
schuldfreien Bewuſstseins, über ihren Bruder davon getragen hatte.
Ihr Verstand,
stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reiſsen, gab sich ganz unter der gro⸗660
ſsen
, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen.
Sie sah die Un⸗
möglichkeit
ein, ihre Familie von ihrer Unschuld zu überzeugen, begriff, daſs sie
sich darüber trösten müsse, falls sie nicht untergehen wolle, und wenige Tage nach
ihrer Ankunft in V.... verflossen: so machte der Schmerz ganz und gar dem helden⸗
müthigen
Vorsatz Platz, sich mit Stolz gegen die Anfälle der Welt zu rüsten.
Sie be⸗665
schlo
ſs, sich ganz in ihr Innerstes zurückzuziehen, sich, mit ausschlieſsendem Eifer,
der Erziehung ihrer beiden Kinder zu widmen, und des Geschenks, das ihr Gott mit
dem Dritten gemacht hatte, mit voller, mütterlichen Liebe zu pflegen.
Sie machte
Anstalten, gleich nach ihrer Niederkunft, ihren schönen, aber durch die lange Abwe⸗
senheit
ein wenig verfallenen, Landsitz wieder herzustellen; saſs in der Gartenlaube, 670
und dachte, während sie kleine Mützen und Strümpfe für kleine Beine strickte, wie
sie die Zimmer bequem vertheilen würde, auch, welches sie mit Büchern füllen, und
in welchem die Staffelei am Schicklichsten stehen würde: und noch war der Zeit⸗
punct
, da der Graf F... von Neapel wiederkehren sollte, nicht abgelaufen, da sie
schon völlig mit dem Schicksal, in ewig klösterlicher Eingezogenheit zu leben, ver⸗675
traut
war.
Der Portier erhielt Befehl, keinen Menschen im Hause vorzulassen. Nur
der Gedanke war ihr unerträglich, daſs dem jungen Wesen, das sie in der gröſsten
Unschuld und Reinheit empfangen hatte, ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesell⸗
20schaft
ankleben sollte.
Ein sonderbares Mittel war ihr eingefallen, den Vater zu ent⸗
decken
: ein Mittel, bei dem sie, als sie es zuerst dachte, das Strickzeug selbst vor 680
Schrecken aus der Hand fallen lieſs.
Durch ganze Nächte, in unruhiger Schlaflosig⸗
keit
durchwacht, ward es gedreht und gewendet, um sich an seine, ihr innerstes
Gefühl verletzende, Natur zu gewöhnen.
Immer noch sträubte sie sich, mit dem
Menschen, der sie so hintergangen hatte, in irgend ein Verhältniſs zu treten: indem
sie sehr richtig schloſs, daſs derselbe doch, ohne alle Rettung, zum Auswurf seiner 685
Gattung gehören müsse, und, auf welchem Platz der Welt man ihn auch denken
wolle, nur aus dem zertretensten und unfläthigsten Schlamm derselben hervorgegan⸗
gen
sein könne.
Doch da das Gefühl ihrer Selbstständigkeit immer lebhafter in ihr
wurde, und sie bedachte, daſs der Stein seinen Werth behält, er mag auch eingefaſst
sein, wie er wolle, so griff sie eines Morgens, da sich das junge Leben wieder in ihr 690
regte, ein Herz, und lieſs jene sonderbare Aufforderung in die Intelligenzblätter von
M... rücken, die man am Eingang dieser Erzählung gelesen hat.

Der Graf F..., den unvermeidliche Geschäfte in Neapel aufhielten, hatte inzwi⸗
schen
zum zweitenmal an die Marquise geschrieben, und sie aufgefordert, es möch⸗
ten
fremde Umstände eintreten, welche da wollten, ihrer, ihm gegebenen, still⸗695
schweigenden
Erklärung getreu zu bleiben.
Sobald es ihm geglückt war, seine fer⸗
nere
Geschäftsreise nach Constantinopel abzulehnen, und es seine übrigen Verhält⸗
nisse
gestatteten, gieng er augenblicklich von Neapel ab, und kam auch richtig, nur
wenige Tage nach der von ihm bestimmten Frist, in M... an.
Der Commendant
empfieng ihn mit einem verlegenen Gesicht, sagte, daſs ein nothwendiges Geschäft 700
ihn aus dem Hause nöthige, und forderte den Forstmeister auf, ihn inzwischen zu
unterhalten.
Der Forstmeister zog ihn auf sein Zimmer, und fragte ihn, nach einer
kurzen Begrüſsung, ob er schon wisse, was sich während seiner Abwesenheit in dem
Hause des Commendanten zugetragen habe.
Der Graf antwortete, mit einer flüchti⸗
gen
Blässe: nein.
Hierauf unterrichtete ihn der Forstmeister von der Schande, die 705
die Marquise über die Familie gebracht hatte, und gab ihm die Geschichtserzählung
dessen, was unsre Leser so eben erfahren haben.
Der Graf schlug sich mit der Hand
vor die Stirn.
Warum legte man mir so viele Hindernisse in den Weg! rief er in
der Vergessenheit seiner.
Wenn die Vermählung erfolgt wäre: so wäre alle Schmach
und jedes Unglück uns erspart!
Der Forstmeister fragte, indem er ihn anglotzte, ob 710
er rasend genug wäre: zu wünschen, mit dieser Nichtswürdigen vermählt zu sein?

Der Graf erwiederte, daſs sie mehr werth wäre, als die ganze Welt, die sie verach⸗
tete
; daſs ihre Erklärung über ihre Unschuld vollkommnen Glauben bei ihm fände;
und daſs er noch heute nach V... gehen, und seinen Antrag bei ihr wiederholen
würde.
Er ergriff auch sogleich seinen Huth, empfahl sich dem Forstmeister, der 715
ihn für seiner Sinne völlig beraubt hielt, und gieng ab.

Er bestieg ein Pferd und sprengte nach V... hinaus. Als er am Thore
abgestiegen war, und in den Vorplatz treten wollte, sagte ihm der Portier, daſs die
21Frau Marquise keinen Menschen spräche.
Der Graf fragte, ob diese, für Fremde ge⸗
troffene
, Maſsregel auch einen Freund des Hauses gälte; worauf der Portier antwor⸗720
tete
, daſs er von keiner Ausnahme wisse, und bald darauf, auf eine zweideutige Art,
hinzusetzte: ob er vielleicht der Graf F... wäre?
Der Graf erwiederte, nach einem
forschenden Blick, nein; und äuſserte, zu seinem Bedienten gewandt, doch so, daſs
jener es hören konnte, er werde, unter solchen Umständen, in einem Gasthofe ab⸗
steigen
, und sich bei der Frau Marquise schriftlich anmelden.
Sobald er inzwischen 725
dem Portier aus den Augen war, bog er um eine Ecke, und umschlich die Mauer ei⸗
nes
weitläufigen Gartens, der sich hinter dem Hause ausbreitete.
Er trat, durch eine
Pforte, die er offen fand, in den Garten, durchstrich die Gänge desselben, und wollte
eben die hintere Rampe hinaufsteigen, als er, in einer Laube, die zur Seite lag, die
Marquise, in ihrer lieblichen und geheimniſsvollen Gestalt, an einem kleinen Tisch⸗730
chen
emsig arbeiten sah.
Er näherte sich ihr so, daſs sie ihn nicht früher erblicken
konnte, als bis er am Eingange der Laube, drei kleine Schritte von ihren Füſsen,
stand.
Der Graf F...! sagte die Marquise, als sie die Augen aufschlug, und die Röthe
der Überraschung überflog ihr Gesicht.
Der Graf lächelte, blieb noch eine Zeitlang,
ohne sich im Eingang zu rühren, stehen, setzte sich dann, mit so bescheidener Zu⸗735
dringlichkeit
, als sie nicht zu erschrecken nöthig war, neben ihr nieder, und schlug,
ehe sie noch, in ihrer sonderbaren Lage, einen Entschluſs gefaſst hatte, seinen Arm
sanft um ihren lieben Leib.
Von wo, Herr Graf, ist es möglich, fragte die Marquise —
und sah schüchtern vor sich auf die Erde nieder.
Der Graf sagte: von M..., und
drückte sie ganz leise an sich; durch eine hintere Pforte, die ich offen fand.
Ich 740
glaubte auf Ihre Verzeihung rechnen zu dürfen, und trat ein.
Hat man Ihnen denn in
M... nicht gesagt — ? — fragte sie, und rührte noch kein Glied in seinen Armen.

Alles, geliebte Frau, versetzte der Graf; doch von Ihrer Unschuld völlig überzeugt —
Wie! rief die Marquise, indem sie aufstand, und sich loswickelte; und Sie kom⸗
men
gleichwohl —
Der Welt zum Trotz, fuhr er fort, indem er sie festhielt, und 745
Ihrer Familie zum Trotz, und dieser lieblichen Erscheinung sogar zum Trotz;
wobei er auf ihre Brust glühend niedersah —
Hinweg! rief die Marquise — So
überzeugt, sagte er, Julietta, als ob ich allwissend wäre, als ob meine Seele in deiner
Brust wohnte —
Die Marquise rief: Lassen Sie mich! Komme, schloſs er, und
lieſs sie nicht: meinen Antrag zu wiederholen, und das Loos der Seeligen, wenn sie 750
mich erhören wollen, von Ihrer Hand zu empfangen.
Lassen Sie mich augenblick⸗
lich
! rief die Marquise; ich befehl’s Ihnen! riſs sich gewaltsam aus seinen Armen, und
entfloh.
Geliebte! Vortreffliche! flüsterte er, indem er wieder aufstand und ihr
folgte —
Sie hören! rief die Marquise, und wandte sich, und wich ihm aus.
Ein einziges, heimliches, geflüstertes — ! sagte der Graf, und griff hastig nach ihrem 755
glatten, ihm entschlüpfenden Arm —
Ich will nichts wissen, versetzte die Mar⸗
quise
, stieſs ihn heftig vor die Brust zurück, eilte auf die Rampe, und verschwand.

Er war schon halb auf die Rampe gekommen, um sich, es koste, was es wolle,
bei ihr Gehör zu verschaffen, als die Thür vor ihm zuflog, und der Riegel heftig, mit
22verstörter Beeiferung, vor seinen Schritten zurasselte.
Unschlüssig, einen Augen⸗760
blick
, was unter solchen Umständen zu thun sei, stand er, und überlegte, ob er
durch ein, zur Seite offen stehendes, Fenster einsteigen, und seinen Zweck, bis er
ihn erreicht, verfolgen solle; doch so schwer es ihm auch in jedem Sinne war, um⸗
zukehren
, diesmal schien es die Nothwendigkeit zu erfordern, und grimmig erbittert
über sich, daſs er sie aus seinen Armen gelassen hatte, schlich er die Rampe hinab 765
und verlieſs den Garten, um seine Pferde aufzusuchen.
Er fühlte, daſs der Versuch,
sich an ihrem Busen zu erklären, für immer fehlgeschlagen sei, und ritt schrittweis,
indem er einen Brief überlegte, den er jetzt zu schreiben verdammt war, nach M...
zurück.
Abends, da er sich, in der übelsten Laune von der Welt, bei einer öffentli⸗
chen
Tafel eingefunden hatte, traf er den Forstmeister an, der ihn auch sogleich be⸗770
fragte
, ob er seinen Antrag in V... glücklich angebracht habe?
Der Graf antwortete
kurz: nein! und war sehr gestimmt, ihn mit einer bitterern Wendung abzu⸗
fertigen
; doch um der Höflichkeit ein Genüge zu thun, setzte er nach einer Weile
hinzu: er habe sich entschlossen, sich schriftlich an sie zu wenden, und werde da⸗
mit
in Kurzem in’s Reine sein.
Der Forstmeister sagte: er sehe mit Bedauern, daſs 775
seine Leidenschaft für die Marquise ihn seiner Sinne beraube.
Er müsse ihm inzwi⸗
schen
versichern, daſs sie bereits auf dem Wege sei, eine andere Wahl zu treffen;
klingelte nach den neuesten Zeitungen, und gab ihm das Blatt, in welchem die Auf⸗
forderung
derselben an den Vater ihres Kindes eingerückt war.
Der Graf durchlief,
indem ihm das Blut in’s Gesicht schoſs, die Schrift.
Eine Verwirrung von Gefühlen 780
ergriff ihn.
Der Forstmeister fragte, ob er nicht glaube, daſs die Person, die die
Frau Marquise suche, sich finden werde? —
Unzweifelhaft! versetzte der Graf; in⸗
dessen
seine Seele über dem Papier lag, und den Sinn desselben verschlang, und wie⸗
derkäute
.
Drauf, nachdem er einen Augenblick, während er das Blatt zusammen⸗
legte
, an das Fenster getreten war: nun ist es gut! kehrte er sich um; nun weiſs ich, 785
was ich zu thun habe! fragte den Forstmeister noch, auf eine verbindliche Art, ob
man ihn bald wiedersehen werde; empfahl sich ihm, und gieng, völlig ausgesöhnt
mit seinem Schicksal, fort. —

Inzwischen waren in dem Hause des Commendanten die lebhaftesten Auftritte
vorgefallen.
Die Obristinn war über die zerstörende Heftigkeit desselben, und über 790
die Schwäche, mit welcher sie sich, bei der tyrannischen Verstoſsung der Tochter,
von ihm hatte unterjochen lassen, äuſserst erbittert.
Sie war, als der Schuſs in des
Commendanten Schlafgemach fiel, und die Tochter aus demselben hervorstürzte, in
eine Ohnmacht gesunken, aus der sie sich zwar bald wieder erholte.
Doch der Com⸗
mendant
hatte, in dem Augenblick ihres Erwachens, weiter nichts gesagt, als, es 795
thäte ihm leid, daſs sie diesen Schrecken umsonst gehabt, und das abgeschossene
Pistol auf einen Tisch geworfen.
Nachher, da von der Abforderung der Kinder die
Rede war, wagte sie schüchtern, zu erklären, daſs man zu einem solchen Schritt
kein Recht habe; sie bat mit einer, durch die gehabte Anwandlung, schwachen und
23rührenden Stimme, heftige Auftritte im Hause zu vermeiden; doch der Commendant 800
erwiederte weiter nichts, als, indem er sich zum Forstmeister wandte, vor Wuth
schäumend: geh! und schaff sie mir!
Als der zweite Brief des Grafen F... ankam,
hatte der Commendant befohlen, daſs er nach V... zur Marquise herausgeschickt wer⸗
den
solle, welche ihn, wie man nachher durch den Boten erfuhr, bei Seite gelegt,
und gesagt hatte, es wäre gut.
Die Obristinn, der in der ganzen Begebenheit so vie⸗805
les
, und besonders die Geneigtheit der Marquise, eine neue, ihr ganz gleichgültige,
Vermählung einzugehen, dunkel war, suchte vergebens, diesen Umstand zur Sprache
zu bringen.
Der Commendant bat immer, auf eine Art, die einem Befehle gleich sah,
zu schweigen; versicherte, indem er einst, bei einer solchen Gelegenheit, ein
Portrait herabnahm, das noch von ihr an der Wand hieng, daſs er sein Gedächtniſs 810
ihrer ganz zu vertilgen wünsche, und meinte, er hätte keine Tochter mehr.
Drauf
erschien der sonderbare Aufsatz der Marquise in den Zeitungen.
Die Obristinn, die
auf das Lebhafteste darüber betroffen war, gieng mit dem Zeitungsblatt, das sie von
dem Commendanten erhalten hatte, in sein Zimmer, wo sie ihn an einem Tisch ar⸗
beitend
fand, und fragte ihn, was er in aller Welt davon halte?
Der Commendant 815
sagte, indem er fortschrieb: o! sie ist unschuldig.
Wie! rief Frau von G...., mit
dem alleräuſsersten Erstaunen: unschuldig?
Sie hat es im Schlaf gethan, sagte der
Commendant, ohne aufzusehen.
Im Schlafe! versetzte Frau von G.... Und ein so
ungeheurer Vorfall wäre — ?
Die Närrinn! rief der Commendant, schob die Papiere
über einander, und gieng weg.
820

Am nächsten Zeitungstage las die Obristinn, da beide beim Frühstück saſsen, in
einem Intelligenzblatt, das eben ganz feucht von der Presse kam, folgende Antwort
darauf:
„Wenn die Frau Marquise von O.... sich, am 3ten ... 11 Uhr Morgens, im
Hause des Herrn von G...., ihres Vaters, einfinden will: so wird sich derjenige, 825
den sie sucht, ihr daselbst zu Füſsen werfen.“ –

Der Obristinn vergieng, ehe sie noch auf die Hälfte dieses unerhörten Artikels ge⸗
kommen
war, die Sprache, sie überflog das Ende, und reichte das Blatt dem Com⸗
mendanten
dar.
Der Obrist durchlas das Blatt dreimal, als ob er seinen eignen Augen
nicht traute.
Nun sage mir, um des Himmels Willen, Lorenzo, rief die Obristinn, 830
was hältst du davon?
O die Schändliche! versetzte der Commendant, und stand auf;
o die verschmitzte Heuchlerinn!
Zehnmal die Schamlosigkeit einer Hündinn, mit
zehnfacher List des Fuchses gepaart, reichen noch an die ihrige nicht!
Solch eine
Miene!
Zwei solche Augen! Ein Cherub hat sie nicht treuer! — und jammerte und
konnte sich nicht beruhigen.
Aber was in aller Welt, fragte die Obristinn, wenn es 835
eine List ist, kann sie damit bezwecken? —
Was sie damit bezweckt? Ihre nichts⸗
würdige
Betrügerei, mit Gewalt will sie sie durchsetzen, erwiederte der Obrist.

Auswendig gelernt ist sie schon, die Fabel, die sie uns beide, sie und er, am 3ten
2411 Uhr Morgens hier aufbürden wollen.
Mein liebes Töchterchen, soll ich sagen,
das wuſste ich nicht, wer konnte das denken, vergieb mir, nimm meinen Seegen, 840
und sei wieder gut.
Aber die Kugel dem, der am 3ten Morgens über meine Schwelle
tritt!
Es müſste denn schicklicher sein, ihn mir durch Bedienten aus dem Hause zu
schaffen. —
Frau von G.... sagte, nach einer nochmaligen Überlesung des Zeitungs⸗
blattes
, daſs wenn sie, von zwei unbegreiflichen Dingen, Einem Glauben beimessen
solle, sie lieber an ein unerhörtes Spiel des Schicksals, als an diese Niederträchtigkeit 845
ihrer sonst so vortrefflichen Tochter glauben wolle.
Doch eh sie noch vollendet hatte,
rief der Commendant schon: thu mir den Gefallen und schweig! und verlieſs das
Zimmer.
Es ist mir verhaſst, wenn ich nur davon höre.

Wenige Tage nachher erhielt der Commendant, in Beziehung auf diesen Zeitungs⸗
artikel
, einen Brief von der Marquise, in welchem sie ihn, da ihr die Gnade versagt 850
wäre, in seinem Hause erscheinen zu dürfen, auf eine ehrfurchtsvolle und rührende
Art bat, denjenigen, der sich am 3ten Morgens bei ihm zeigen würde, gefälligst zu ihr
nach V... hinauszuschicken.
Die Obristinn war gerade gegenwärtig, als der Com⸗
mendant
diesen Brief empfieng; und da sie auf seinem Gesicht deutlich bemerkte, daſs
er in seiner Empfindung irre geworden war: denn welch ein Motiv jetzt, falls es eine 855
Betrügerei war, sollte er ihr unterlegen, da sie auf seine Verzeihung gar keine An⸗
sprüche
zu machen schien? so rückte sie, dadurch dreist gemacht, mit einem Plan
hervor, den sie schon lange, in ihrer von Zweifeln bewegten Brust, mit sich herum
getragen hatte.
Sie sagte, während der Obrist noch, mit einer nichtssagenden Miene,
in das Papier hineinsah: sie habe einen Einfall.
Ob er ihr erlauben wolle, auf ein 860
oder zwei Tage, nach V... hinauszufahren?
Sie werde die Marquise, falls sie wirk⸗
lich
denjenigen, der ihr durch die Zeitungen, als ein Unbekannter, geantwortet, schon
kenne, in eine Lage zu versetzen wissen, in welcher sich ihre Seele verrathen müſste,
und wenn sie die abgefeimteste Verrätherinn wäre.
Der Commendant erwiederte,
indem er, mit einer plötzlich heftigen Bewegung, den Brief zerriſs: sie wisse, daſs 865
er mit ihr nichts zu schaffen haben wolle, und er verbiete ihr, in irgend eine Gemein⸗
schaft
mit ihr zu treten.
Er siegelte die zerrissenen Stücken ein, schrieb eine Adresse
an die Marquise, und gab sie dem Boten, als Antwort, zurück.
Die Obristinn, durch
diesen hartnäckigen Eigensinn, der alle Möglichkeit der Aufklärung vernichtete, heim⸗
lich
erbittert, beschloſs ihren Plan jetzt, gegen seinen Willen, auszuführen.
Sie 870
nahm einen von den Jägern des Commendanten, und fuhr am nächstfolgenden Mor⸗
gen
, da ihr Gemahl noch im Bette lag, mit demselben nach V... hinaus.
Als sie am
Thore des Landsitzes angekommen war, sagte ihr der Portier, daſs niemand bei der
Frau Marquise vorgelassen würde.
Frau von G... antwortete, daſs sie von dieser
Maſsregel unterrichtet wäre, daſs er aber gleichwohl nur gehen, und die Obristinn 875
von G... bei ihr anmelden mögte.
Der Portier versetzte, daſs dies zu nichts helfen
würde, indem die Frau Marquise keinen Menschen auf der Welt spräche.
Frau von
G... antwortete, daſs sie von ihr gesprochen werden würde, indem sie ihre Mutter
25wäre, und daſs er nur nicht länger säumen, und sein Geschäft verrichten möchte.

Kaum noch war der Portier zu diesem, wie er meinte, gleichwohl vergeblichen, Un⸗880
ternehmen
ins Haus gegangen, als man schon die Marquise daraus hervortreten, nach
dem Thore eilen, und sich auf Knieen vor dem Wagen der Obristinn niederstürzen
sah.
Frau von G.... stieg, von ihrem Jäger unterstützt, aus, und hob die Marquise,
nicht ohne einige Bewegung, vom Boden auf.
Die Marquise drückte sich, von Ge⸗
fühlen
überwältigt, tief auf ihre Hand hinab, und führte sie, indem ihr die Thränen 885
häufig flossen, ehrfurchtsvoll in die Zimmer ihres Hauses.
Meine theuerste Mutter!
rief sie, nachdem sie ihr den Divan angewiesen hatte, und noch vor ihr stehen blieb
und sich die Augen trocknete: welch ein glücklicher Zufall ist es, dem ich Ihre, mir
unschätzbare, Erscheinung verdanke?
Frau von G.... sagte, indem sie ihre Tochter
vertraulich faſste, sie müsse ihr nur sagen, daſs sie komme, sie wegen der Härte, 890
mit welcher sie aus dem väterlichen Hause verstoſsen worden sei, um Verzeihung zu
bitten.
Verzeihung! fiel ihr die Marquise ins Wort, und wollte ihre Hände küssen.
Doch diese: denn nicht nur, fuhr sie fort, indem sie den Handkuſs vermied, daſs die,
in den letzten öffentlichen Blättern eingerückte, Antwort auf die bewuſste Bekanntma⸗
chung
, mir sowohl, als dem Vater, die Überzeugung von deiner Unschuld gegeben 895
hat; ich muſs dir nur eröffnen, daſs er sich selbst schon, zu unserm groſsen und freu⸗
digen
Erstaunen, gestern im Hause gezeigt hat.
Wer hat sich — ? fragte die Mar⸗
quise
, und setzte sich bei ihrer Mutter nieder; welcher er selbst hat sich gezeigt — ?
und Erwartung spannte jede ihrer Mienen.
Er, erwiederte Frau von G..., der Ver⸗
fasser
jener Antwort, er persönlich selbst, an welchen dein Aufruf gerichtet war. —
900
Nun denn, sagte die Marquise, mit unruhig arbeitender Brust: wer ist es? Und noch
einmal: wer ist es? —
Das, erwiederte Frau von G...., möchte ich dich errathen las⸗
sen
.
Denn denke, daſs sich gestern, da wir beim Thee sitzen, und eben das sonder⸗
bare
Zeitungsblatt lesen, ein Mensch, von unsrer genauesten Bekanntschaft, mit Gebähr⸗
den
der Verzweiflung ins Zimmer stürzt, und deinem Vater, und bald darauf auch mir, 905
zu Füſsen fällt.
Wir, unwissend, was wir davon denken sollen, fordern ihn auf, zu re⸗
den
; drauf er: sein Gewissen, spricht er, lasse ihm keine Ruhe, er sei der Schändliche,
der die Frau Marquise betrogen, er müsse wissen, wie man sein Verbrechen beur⸗
theile
, und wenn Rache über ihn verhängt werden solle, so komme er, sich ihr selbst
darzubieten.
Aber wer? wer? wer? versetzte die Marquise. Wie gesagt, fuhr Frau 910
von G.... fort, ein junger, sonst wohlerzogener Mensch, dem wir eine solche
Nichtswürdigkeit niemals zugetraut hätten.
Doch erschrecken wirst du nicht, meine
Tochter, wenn du erfährst, daſs er von niedrigem Stande, und von allen Forderun⸗
gen
, die man sonst an deinen Gemahl machen dürfte, entblöſst ist.
Gleichviel, meine
vortreffliche Mutter, sagte die Marquise, er kann nicht ganz unwürdig sein, da er 915
sich Ihnen zuerst zu Füſsen geworfen hat.
Aber, wer? wer? Sagen Sie mir nur: wer?
Nun denn, versetzte die Mutter, es ist Leopardo, der Jäger, den sich der Vater jüngst aus
Tyrol verschrieb, und den ich, wenn du ihn wahrnahmst, schon mitgebracht habe, um
ihn dir als Bräutigam vorzustellen.
Leopardo, der Jäger! rief die Marquise, und drückte
26ihre Hand, mit dem Ausdruck der Verzweiflung, vor die Stirn.
Was erschreckt dich? 920
fragte die Obristinn.
Hast du Gründe, daran zu zweifeln? — Wie? Wo? Wann?
fragte die Marquise verwirrt.
Das, antwortete jene, will er nur dir anvertrauen.
Schaam und Liebe, meinte er, machten es ihm unmöglich, sich einer Andern hier⸗
über
zu erklaren, als dir.
Doch wenn du willst, so öffnen wir das Vorzimmer, wo
er, mit klopfendem Herzen, auf den Ausgang wartet; und du magst sehen, ob du 925
ihm sein Geheimniſs, indessen ich abtrete, entlockst. —
Gott, mein Vater!
rief die Marquise; ich war einst in der Mittagshitze eingeschlummert, und sah ihn
von meinem Divan gehen, als ich erwachte! —
Und damit legte sie ihre kleinen
Hände vor ihr, in Schaam erglühendes, Gesicht.
Bei diesen Worten sank die Mutter
auf Knieen vor ihr nieder.
O meine Tochter! rief sie; o du Vortreffliche! und schlug 930
die Arme um sie.
Und o ich Nichtswürdige! und verbarg das Antlitz in ihren Schooſs.
Die Marquise fragte bestürzt: was ist Ihnen, meine Mutter? Denn begreife, fuhr
diese fort, o du Reinere als Engel sind, daſs von Allem, was ich dir sagte, nichts
wahr ist; daſs meine verderbte Seele an solche Unschuld nicht, als von der du um⸗
strahlt
bist, glauben konnte, und daſs ich dieser schändlichen List erst bedurfte, um 935
mich davon zu überzeugen.
Meine theuerste Mutter, rief die Marquise, und neigte
sich voll froher Rührung zu ihr herab, und wollte sie aufheben.
Doch jene: nein,
eher nicht von deinen Füſsen weich’ ich, sprach sie, bis du mir sagst, ob du mir die
Niedrigkeit meines Verhaltens, o du Himmlische, verzeihen kannst.
Ich Ihnen
verzeihen, meine Mutter!
Stehen Sie auf, rief die Marquise, ich beschwöre Sie — 940
Du hörst, sagte Frau von G...., ich will wissen, ob du mich noch lieben, und so
aufrichtig verehren kannst, als sonst?
Meine angebetete Mutter! rief die Marquise,
und legte sich gleichfalls auf Knieen vor ihr nieder; Ehrfurcht und Liebe sind nie aus
meinem Herzen gewichen.
Wer konnte mir, unter so unerhörten Umständen, Ver⸗
trauen
schenken?
Wie glücklich bin ich, daſs Sie von meiner Unsträflichkeit über⸗945
zeugt
sind!
Nun denn, versetzte Frau von G...., indem sie, von ihrer Tochter un⸗
terstützt
, aufstand: so will ich dich auf Händen tragen, mein liebstes Kind.
Du
sollst bei mir dein Wochenlager halten; und wären die Verhältnisse so, daſs ich einen
jungen Fürsten von dir erwartete, mit gröſserer Zärtlichkeit nicht und Würdigkeit
könnt’ ich dein pflegen.
Die Tage meines Lebens nicht mehr von deiner Seite weich’ ich.950
Ich biete deinem unmenschlichen Vater Trotz, ich biete deinem Bruder, ich biete der
ganzen Welt Trotz, ich will heine keine andre Ehre mehr, als deine Schande: wenn du
mir nur wieder gut wirst, und der Härte nicht, mit welcher ich dich verstieſs, mehr
gedenkst.
Die Marquise suchte sie mit Liebkosungen und Beschwörungen ohne Ende
zu trösten; doch der Abend kam heran, und Mitternacht schlug, ehe es ihr gelang.
955
Am folgenden Tage, da sich der Affect der alten Dame, der ihr während der Nacht
eine Fieberhitze zugezogen hatte, ein wenig gelegt hatte, fuhren Mutter und Tochter
und Enkel, wie im Triumph, wieder nach M... zurück.
Sie waren äuſserst ver⸗
gnügt
auf der Reise, scherzten über Leopardo, den Jäger, der vorn auf dem Bock
saſs; und die Mutter sagte zur Marquise, sie bemerke, daſs sie roth würde, so oft sie 960
27seinen breiten Rücken ansähe.
Die Marquise antwortete, mit einer Regung, die halb
ein Seufzer, halb ein Lächeln war: wer weiſs, wer zuletzt noch am 3ten 11 Uhr Mor⸗
gens
bei uns erscheint! —
Drauf, je mehr man sich M... näherte, je ernsthafter
stimmten sich wieder die Gemüther, in der Vorahndung entscheidender Auftritte,
die ihnen noch bevorstanden.
Frau von G...., die sich von ihren Plänen nichts mer⸗965
ken
lieſs, führte ihre Tochter, da sie vor dem Hause ausgestiegen waren, wieder in
ihre alten Zimmer ein; sagte, sie möchte es sich nur bequem machen, sie würde
gleich wieder bei ihr sein und schlüpfte ab.
Nach einer Stunde kam sie mit einem
ganz erhitzten Gesicht wieder.
Nein, solch ein Thomas! sprach sie mit heimlich
vergnügter Seele; solch ein ungläubiger Thomas!
Hab’ ich nicht eine Seigerstunde 970
gebraucht, ihn zu überzeugen.
Aber nun sitzt er, und weint. Wer? fragte die Mar⸗
quise
.
Er, antwortete die Mutter. Wer sonst, als wer die gröſste Ursache dazu hat.
Der Vater doch nicht? rief die Marquise. Wie ein Kind, erwiederte die Mut⸗
ter
; daſs ich, wenn ich mir nicht selbst hätte die Thränen aus den Augen wischen
müssen, gelacht hätte, so wie ich nur aus der Thüre heraus war.
Und das wegen 975
meiner? fragte die Marquise; und stand auf.
Und ich sollte hier — ? Nicht von der
Stelle! sagte Frau von G....
Warum dictirte er mir den Brief. Hier sucht er dich
auf, wenn er mich, so lang’ ich lebe, wiederfinden will.
Meine theuerste Mutter,
flehte die Marquise —
Unerbittlich! fiel ihr die Obristinn in’s Wort. Warum griff
er nach der Pistole. —
Aber ich beschwöre Sie — Du sollst nicht, versetzte Frau 980
von G...., indem sie die Tochter wieder auf ihren Sessel niederdrückte.
Und wenn
er nicht heut vor Abend noch kommt, zieh’ ich morgen mit dir weiter.
Die Marquise
nannte dies Verfahren hart und ungerecht.
Doch die Mutter erwiederte: Beruhige
dich — denn eben hörte sie jemand von Weitem heranschluchzen: er kömmt schon!

Wo? fragte die Marquise, und horchte. Ist wer hier drauſsen vor der Thür dies hef⸗985
tige
— ?
Allerdings, versetzte Frau von G.... Er will, daſs wir ihm die Thüre öff⸗
nen
.
Lassen Sie mich! rief die Marquise, und riſs sich vom Stuhl empor. Doch:
wenn du mir gut bist, Julietta, versetzte die Obristinn, so bleib; und in dem Augen⸗
blick
trat auch der Commendant schon, das Tuch vor das Gesicht haltend, ein.
Die
Mutter stellte sich breit vor ihre Tochter, und kehrte ihm den Rücken zu.
Mein 990
theuerster Vater! rief die Marquise, und streckte ihre Arme nach ihm aus.
Nicht von
der Stelle, sagte Frau von G...., du hörst!
Der Commendant stand in der Stube und
weinte.
Er soll dir abbitten, fuhr Frau von G.... fort. Warum ist er so heftig!
Und warum ist er so hartnäckig! Ich liebe ihn, aber dich auch; ich ehre ihn, aber
dich auch.
Und muſs ich eine Wahl treffen, so bist du vortrefflicher, als er, und ich 995
bleibe bei dir.
Der Commendant beugte sich ganz krumm, und heulte, daſs die
Wände erschallten.
Aber mein Gott! rief die Marquise, gab der Mutter plötzlich nach,
und nahm ihr Tuch, ihre eigenen Thränen flieſsen zu lassen.
Frau von G....
sagte – : er kann nur nicht sprechen! und wich ein wenig zur Seite aus.
Hierauf er⸗
hob
sich die Marquise, umarmte den Commendanten, und bat ihn, sich zu beruhi⸗1000
higen.
beruhigen.
[Kein Hinweis auf Satzfehler in Phöbusfassung] [Kein Hinweis auf Satzfehler in Phöbusfassung]
Sie weinte selbst heftig. Sie fragte ihn, ob er sich nicht setzen wolle? sie
28wollte ihn auf einen Sessel niederziehen; sie schob ihm einen Sessel hin, damit er
sich darauf setze: doch er antwortete nicht; er war nicht von der Stelle zu bringen;
er setzte sich auch nicht: er stand bloſs, das Gesicht tief zur Erde gebeugt, und
weinte.
Die Marquise sagte, indem sie ihn aufrecht hielt, halb zur Mutter gewandt: 1005
er werde krank werden; die Mutter selbst schien, da er sich ganz convulsivisch ge⸗
bährdete
, ihre Standhaftigkeit verlieren zu wollen.
Doch da der Commendant sich
endlich, auf die wiederholten Anforderungen der Tochter, niedergesetzt hatte, und
diese ihm, mit unendlichen Liebkosungen, zu Füſsen gesunken war: so nahm sie
wieder das Wort, sagte, es geschehe ihm ganz Recht, er werde nun wohl zur Ver⸗1010
nunft
kommen, entfernte sich aus dem Zimmer, und lieſs sie allein.

Sobald sie drauſsen war, wischte sie sich selbst die Thränen ab, dachte, ob ihm
die heftige Erschütterung nicht doch, in welche sie ihn versetzt hatte, gefährlich
sein könnte, und ob es wohl rathsam sei, einen Arzt rufen zu lassen?
Sie kochte
ihm für den Abend Alles, was sie nur Stärkendes und Beruhigendes aufzutreiben1015
wuſste, in der Küche zusammen, bereitete und wärmte ihm das Bett, um ihn sogleich
hineinzulegen, sobald er nur, an der Hand der Tochter, erscheinen würde, und
schlich, da er immer nicht kam, und schon die Abendtafel gedeckt war, dem Zim⸗
mer
der Marquise zu, um doch zu hören, was sich zutrage?
Sie vernahm, da sie
mit sanft an die Thür gelegtem Ohr horchte, ein leises, eben verhallendes Gelispel, 1020
das, wie es ihr schien, von der Marquise kam; und, wie sie durch’s Schlüsselloch
bemerkte, saſs sie auch auf des Commendanten Schooſs, was er in seinem Leben
nicht zugegeben hatte.
Drauf endlich öffnete sie die Thür, und sah nun — und das Herz
quoll ihr vor Freuden empor: die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die
Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem 1025
Lehnstuhl sitzend, lange, heiſse und lechzende Küsse, das groſse Auge voll glänzen⸗
der
Thränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter!
Die Tochter
sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saſs er, wie über das
Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küſste sie.
Die
Mutter fühlte sich, wie eine Seelige; ungesehen, wie sie hinter seinem Stuhle stand, 1030
säumte sie, die Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause wieder geworden
war, zu stören.
Sie nahte sich dem Vater endlich, und sah ihn, da er eben wieder mit
Fingern und Lippen in unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war,
sich um den Stuhl herumbeugend, von der Seite an.
Der Commendant schlug, bei ihrem
Anblick, das Gesicht schon wieder ganz kraus nieder und wollte etwas sagen; doch 1035
sie: o was für ein Gesicht! rief sie, küſste es jetzt auch ihrerseits in Ordnung, und
machte der Rührung durch Scherzen ein Ende.
Sie lud und führte beide, die wie
Brautleute giengen, zur Abendtafel, an welcher der Commendant zwar sehr heiter
war, aber noch von Zeit zu Zeit schluchzte, wenig aſs und sprach, auf den Teller
niedersah, und mit der Hand seiner Tochter spielte.
1040

Nun galt es, beim Anbruch des nächsten Tages, die Frage, wer nur, in aller
Welt, morgen um 11 Uhr sich zeigen würde; denn morgen war der gefürchtete
29Dritte.
Vater und Mutter, und auch der Bruder, der sich mit seiner Versöhnung ein⸗
gefunden
hatte, stimmten unbedingt, falls die Person nur von einiger Er⸗
träglichkeit
sein würde, für Vermählung; Alles, was nur immer möglich war, sollte 1045
geschehen, um die Lage der Marquise glücklich zu machen.
Sollten die Verhältnisse
derselben jedoch so beschaffen sein, daſs sie selbst dann, wenn man ihnen durch Be⸗
günstigungen
zu Hülfe kommen wollte, zu weit hinter den Verhältnissen der Mar⸗
quise
zurückblieben, so widersetzten sich die Eltern der Heirath; sie beschlossen,
die Marquise nach wie vor bei sich zu behalten, und das Kind zu adoptiren.
Die 1050
Marquise hingegen schien willens, in jedem Falle, wenn die Person nur nicht ruch⸗
los
wäre, ihr gegebenes Wort in Erfüllung zu bringen, und dem Kinde, es koste,
was es wolle, einen Vater zu verschaffen.
Am Abend fragte die Mutter, wie es denn
mit dem Empfang der Person gehalten werden solle?
Der Commendant meinte, daſs
es am Schicklichsten sein würde, wenn man die Marquise um 11 Uhr allein lieſse. 1055
Die Marquise hingegen bestand darauf, daſs beide Eltern, und auch der Bruder, ge⸗
genwärtig
sein möchten, indem sie keine Art des Geheimnisses mit dieser Person zu
theilen haben wolle.
Auch meinte sie, daſs dieser Wunsch sogar in der Antwort der
Person, dadurch, daſs sie das Haus des Commendanten zur Zusammenkunft vorge⸗
schlagen
, ausgedrückt scheine; ein Umstand, um dessentwillen ihr gerade diese Ant⸗1060
wort
, wie sie frei gestehen müsse, sehr gefallen habe.
Die Mutter bemerkte die Un⸗
schicklichkeit
der Rollen, die der Vater und der Bruder dabei zu spielen haben wür⸗
den
, bat die Tochter, die Entfernung der Männer zuzulassen, wogegen sie in ihren
Wunsch willigen, und bei dem Empfang der Person gegenwärtig sein wolle.
Nach
einer kurzen Besinnung der Tochter ward dieser letzte Vorschlag endlich angenom⸗1065
men
.
Drauf nun erschien, nach einer, unter den gespanntesten Erwartungen zuge⸗
brachten
, Nacht der Morgen des gefürchteten Dritten.
Als die Glocke eilf Uhr schlug,
saſsen beide Frauen, festlich, wie zur Verlobung angekleidet, im Besuchzimmer;
das Herz klopfte ihnen, daſs man es gehört haben würde, wenn das Geräusch des Tages
geschwiegen hätte.
Der eilfte Glockenschlag summte noch, als Leopardo, der Jäger, 1070
eintrat, den der Vater aus Tyrol verschrieben hatte.
Die Weiber erblaſsten bei diesem
Anblick.
Der Graf F..., sprach er, ist vorgefahren, und läſst sich anmelden. Der
Graf F...! riefen beide zugleich, von einer Art der Bestürzung in die andre gewor⸗
fen
.
Die Marquise rief: Verschlieſst die Thüren! Wir sind für ihn nicht zu Hause;
stand auf, das Zimmer gleich selbst zu verriegeln, und wollte eben den Jäger, der 1075
ihr im Wege stand, hinausdrängen, als der Graf schon, in genau demselben Kriegs⸗
rock
, mit Orden und Waffen, wie er sie bei der Eroberung des Forts getragen hatte,
zu ihr eintrat.
Die Marquise glaubte vor Verwirrung in die Erde zu sinken; sie griff
nach einem Tuch, das sie auf dem Stuhl hatte liegen lassen, und wollte eben in ein
Seitenzimmer entfliehn; doch Frau von G...., indem sie die Hand derselben ergriff, 1080
rief: Julietta — ! und wie erstickt von Gedanken, gieng ihr die Sprache aus.
Sie
heftete die Augen fest auf den Grafen und wiederholte: ich bitte dich, Julietta! indem
sie sie nach sich zog: Wen erwarten wir denn — ?
Die Marquise rief, indem sie
30sich plötzlich wandte: nun? doch ihn nicht — ? und schlug mit einem Blick fun⸗
kelnd
, wie ein Wetterstrahl, auf ihn ein, indessen Blässe des Todes ihr Antlitz über⸗1085
flog
.
Der Graf hatte ein Knie vor ihr gesenkt; die rechte Hand lag auf seinem Her⸗
zen
, das Haupt sanft auf seine Brust gebeugt, lag er, und blickte hochglühend vor
sich nieder, und schwieg.
Wen sonst, rief die Obristin mit beklemmter Stimme, wen
sonst, wir Sinnberaubten, als ihn — ?
Die Marquise stand starr über ihm, und sagte:
ich werde wahnsinnig werden, meine Mutter!
Du Thörinn, erwiederte die Mutter, 1090
zog sie zu sich, und flüsterte ihr etwas in das Ohr.
Die Marquise wandte sich, und
stürzte, beide Hände vor das Gesicht, auf den Sopha nieder.
Die Mutter rief: Un⸗
glückliche
!
Was fehlt dir? Was ist geschehn, worauf du nicht vorbereitet warst? —
Der Graf wich nicht von der Seite der Obristinn; er faſste, immer noch auf seinen
Knieen liegend, den äuſsersten Saum ihres Kleides, und küſste ihn.
Liebe! Gnädige! 1095
Verehrungswürdigste! flüsterte er: eine Thräne rollte ihm die Wangen herab.
Die
Obristinn sagte: stehn Sie auf, Herr Graf, stehn Sie auf!
Trösten Sie jene; so sind
wir Alle versöhnt, so ist Alles vergeben und vergessen.
Der Graf erhob sich weinend.
Er lieſs sich von Neuem vor der Marquise nieder, er faſste leise ihre Hand, als ob sie
von Gold wäre, und der Duft der seinigen sie trüben könnte.
Doch diese –: gehn Sie! 1100
gehn Sie! gehn Sie! rief sie, indem sie aufstand; auf einen Lasterhaften war ich ge⸗
fast
, aber auf keinen — – — Teufel! öffnete, indem sie ihm dabei, gleich einem
Pestvergifteten, auswich, die Thür des Zimmers, und sagte: ruft den Obristen!

Julietta! rief die Obristinn mit Erstaunen. Die Marquise blickte, mit tödtender Wild⸗
heit
, bald auf den Grafen, bald auf die Mutter, ein; ihre Brust flog, ihr Antlitz lo⸗1105
derte
: eine Furie sieht nicht schrecklicher.
Der Obrist und der Forstmeister kamen.
Diesem Mann, Vater, sprach sie, als jene noch unter dem Eingang waren, kann ich
mich nicht vermählen! griff in ein Gefäſs mit Weihwasser, das an der hinteren Thür
befestigt war, besprengte, in einem groſsen Wurf, Vater und Mutter und Bruder da⸗
mit
, und verschwand.
1110

Der Commendant, von dieser seltsamen Erscheinung betroffen, fragte, was vor⸗
gefallen
sei, und erblaſste, da er, in diesem entscheidenden Augenblick, den Grafen
F... im Zimmer erblickte.
Die Mutter nahm den Grafen bei der Hand und sagte:
frage nicht; dieser junge Mann bereut von Herzen Alles, was geschehen ist; gieb dei⸗
nen
Seegen, gieb, gieb: so wird sich Alles noch glücklich endigen.
Der Graf stand wie 1115
vernichtet.
Der Commendant legte seine Hand auf ihn; seine Augenwimpern zuck⸗
ten
, seine Lippen waren weiſs, wie Kreide.
Möge der Fluch des Himmels von die⸗
sen
Scheiteln weichen! rief er: wann gedenken Sie zu heirathen? —
Morgen, ant⸗
wortete
die Mutter für ihn, denn er konnte kein Wort hervorbringen, morgen oder
heute, wie du willst; dem Herrn Grafen, der so viel schöne Beeiferung gezeigt hat, 1120
sein Vergehen wieder gut zu machen, wird immer die nächste Stunde die liebste
sein. —
So habe ich das Vergnügen, Sie morgen um 11 Uhr in der Augustinerkirche
zu finden! sagte der Commendant; verneigte sich gegen ihn, rief Frau und Sohn ab,
um sich in das Zimmer der Marquise zu verfügen, und lieſs ihn stehen.

31

Man bemühte sich vergebens, von der Marquise den Grund ihres sonderbaren Be⸗1125
tragens
zu erfahren; sie lag im heftigsten Fieber, wollte durchaus von Vermählung
nichts wissen, und bat, sie allein zu lassen.
Auf die Frage: warum sie denn ihren
Entschluſs plötzlich geändert habe? und was ihr den Grafen gehässiger mache, als
einen Anderen? sah sie den Vater mit groſsen, zerstreuten Augen an, und antwortete
nichts.
Die Obristinn sprach: ob sie vergessen habe, daſs sie Mutter sei? worauf sie 1130
erwiederte, daſs sie, in diesem Falle, mehr an sich, als ihr Kind, denken müsse,
und nochmals, indem sie alle Engel und Heiligen zu Zeugen anrief, versicherte, daſs
sie nicht heirathen würde.
Der Vater, der sie offenbar in einem überreizten Gemüthszu⸗
stande
sah, erklärte, daſs sie ihr Wort halten müsse; verlieſs sie, und ordnete Alles, nach
gehöriger Rücksprache schriftlich mit dem Grafen, zur Vermählung an.
Er legte dem⸗1135
selben
einen Heirathscontract vor, in welchem dieser auf alle Rechte eines Gemahls
Verzicht that, dagegen sich zu allen Pflichten, die man von ihm fordern würde,
verstehen sollte.
Der Graf sandte das Blatt, ganz von Thränen durchfeuchtet, mit
seiner Unterschrift zurück.
Als der Commendant am andern Morgen der Marquise
dieses Papier überreichte, hatten sich ihre Geister ein wenig beruhigt.
Sie durchlas 1140
es, noch im Bette sitzend, mehrere Male, legte es sinnend zusammen, öffnete es,
und durchlas es wieder; und erklärte hierauf, daſs sie sich um 11 Uhr in der Augusti⸗
nerkirche
einfinden würde.
Sie stand auf, zog sich, ohne ein Wort zu sprechen, an,
stieg, als die Glocke schlug, mit allen Ihrigen in den Wagen und fuhr dahin ab.

Erst an dem Portal der Kirche war es dem Grafen erlaubt, sich an die Familie an⸗1145
zuschlieſsen
.
Die Marquise sah, während der Feierlichkeit, starr auf das Altarbild;
nicht ein flüchtiger Blick ward dem Manne zu Theil, mit welchem sie die Ringe
wechselte.
Der Graf bot ihr, als die Trauung vorbei war, den Arm; doch sobald sie
wieder aus der Kirche heraus waren, verneigte sich die Gräfinn vor ihm: der Com⸗
mendant
fragte, ob er die Ehre haben würde, ihn zuweilen in den Gemächern seiner 1150
Tochter zu sehn, worauf der Graf etwas stammelte, das niemand verstand, den Huth
vor der Gesellschaft abnahm, und verchwand. verschwand.
Er bezog eine Wohnung in M..., in
welcher er mehrere Monate zubrachte, ohne auch nur den Fuſs in des Commendanten
Haus zu setzen, bei welchem die Gräfinn zurückgeblieben war.
Nur seinem zarten,
würdigen und völlig musterhaften Betragen überall, wo er mit der Familie in irgend 1155
eine Berührung kam, hatte er es zu verdanken, daſs er, nach der nunmehr erfolgten
Entbindung der Gräfinn von einem jungen Sohne, zur Taufe desselben eingeladen
ward.
Die Gräfinn, die, mit Teppichen bedeckt, auf dem Wochenbette saſs, sah ihn
nur auf einen Augenblick, da er unter die Thür trat, und sie von Weitem ehrfurchts⸗
voll
grüſste.
Er warf unter den Geschenken, womit die Gäste den Neugebohrnen be⸗1160
willkommten
, zwei Papiere auf die Wiege desselben, deren Eines, wie sich nach
seiner Entfernung auswies, eine Schenkung von 20000 Rubel an den Knaben, und
das Andere ein Testament war, in dem er die Mutter, falls er stürbe, zur Erbinn sei⸗
nes
ganzen Vermögens einsetzte.
Von diesem Tage an ward er öfter eingeladen;
32das Haus stand seinem Eintritt offen, es vergieng bald kein Abend, da er sich nicht 1165
darin gezeigt hätte.
Er fieng, da sein Gefühl ihm sagte, daſs ihm von allen Seiten,
um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei, seine Bewerbung
um die Gräfinn, seine Gemahlinn, von Neuem an, erhielt, nach Verlauf eines Jahres,
ein zweites Jawort von ihr, und auch eine zweite Hochzeit ward gefeiert, froher,
als die erste, nach deren Abschluſs die ganze Familie nach V... hinauszog.
Eine 1170
ganze Reihe von jungen Russen folgten jetzt noch dem ersten; und da der Graf, in ei⸗
ner
glücklichen Stunde, seine Frau einst fragte, warum sie, an jenem fürchterlichen
Dritten, da sie auf jeden Lasterhaften gefaſst gewesen war, vor ihm, gleich einem
Teufel, geflohen wäre, antwortete sie, indem sie ihm um den Hals fiel: er würde
ihr damals nicht ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Er⸗1175
scheinung
, wie ein Engel vorgekommen wäre.

http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2104383_001/62
Marquise [Phöbus-Fassung]

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/phoebus/02/01, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 18.05.2025

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1Die Marquise von O....In der Inhaltsanzeige des Heftes ist zum Titel angemerkt: ›(nach einer wahren Begebenheit, deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt worden)‹.

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