kleist-digital
  • Werke
  • Briefe
  • Verzeichnisse
  •  Lexikalische Suche
  •  Semantische Suche
kleist-digital
  •  Suche
  • Werke
  • Briefe
  • Verzeichnisse

  • Apparat
  • Überlieferung
  • Emendationen
  • Kollation Editionen
  • Stellenkommentar

    Artikel im Heft

    • Marquise [Phöbus-Fassung]
    • Die beiden Tauben
    • Vorlesungen über das Schöne
    • Corinne ou l’Italie
    • Inhaltsanzeige
  • Home
  • Werke
  • Phöbus 02
  • Vorlesungen über das Schöne

Textwiedergabe  nach Erstdruck.

  • Fassung Erstdruck
    emendiert
  • Textversion
    ohne orig. Zeilenfall
  • Textversion
    [+] ohne ſ, aͤ, oͤ, uͤ

Alle Textversionen sind inhaltlich identisch und folgen dem angegebenen Textzeugen.
Die Fassung Erstdruck/Textzeuge zeigt die zeichengenaue Wiedergabe des Textzeugen. Nur offensichtliche Fehler sind emendiert. Alle Emendationen sind im Apparat verzeichnet. Der originale Zeilenfall ist beibehalten. Die Fassung wird auf Smartphones wegen der Zeilenlänge nicht angezeigt.

In der Textversion ohne originalen Zeilenfall wird der Zeilenfall mit einem Schrägstrich / angezeigt, die Zeile wird aber nicht umbrochen. Ansonsten folgt sie der angegebenen Textquelle.

In der Textversion ohne ſ, aͤ, oͤ, uͤ sind zusätzlich das lange ſ und historische Umlautformen der heutigen Orthographie angepasst.

35

III. Vorlesungen über das Schöne.

I.

Die Leute sagen: in dieser bunten, aus den widersprechendsten Gegenständen zu⸗
sammengesetzten
Welt, gebe es auſser vielen sehr unbequemen Dingen, z. B. auſser
der Tugend, die dem Menschen eine höchst wunderliche Selbstverläugnung zumu⸗5
the
, auſser der Wahrheit, deren Dienst mit mancherlei Zeitverlust und Kopfzerbre⸗
chens
verknüpft sei, auſser dem bürgerlichen und öconomischen Verdienst, worin
eigentlich der Hauptlebenszweck bestehe — auſser allen diesen ehrenwerthen aber
beschwerlichen Dingen gebe es nun auch ein bequemes, angenehmes, den übrigen
zur Erfrischung, zur Erholung beigemischtes Wesen, die Schönheit.
Wenn man 10
den Reden der Leute nachgeht, so möchte man glauben, dieses Wesen sei ein höchst
seltnes Phänomen, man müsse am Leben wie an der Aloe ein halbes Jahrhundert mit
schroffen, stachlichten Blättern vorliebnehmen, bis sich einmal eine Blüthe zeige. —
Wenn diese seltne Erscheinung nun da ist, oder vielmehr wenn einige leichtgläu⸗
bige
, gute, kindliche Seelen sich überredet haben, dieser Mensch, dieses Kunstwerk, 15
dieser Wohnsitz sei schön, so haben die Leute eine bewundernswürdige Fertigkeit
darin, einem diesen Glauben auszureden: da ist keiner so schlecht, daſs er nicht schon
etwas viel schöneres gesehn hätte, oder sich nicht gar etwas unendlich schöneres
denken könne.
Wenn ihr da und da dort gewesen wär’t, so würden euch diese Elbthäler
nicht weiter reizen: wenn ihr jene verstorbene oder abwesende Dame gesehn hättet, 20
so könnte euch dieses Gesicht nicht gefallen u. s. f.
Da sieht es dann wirklich so aus,
als sei die Schönheit überall gewesen, man habe nur allein unter allen Menschen das
Unglück gehabt, sie nie zu Hause zu treffen: wo wir hinkommen mögen, erfahren
wir, daſs sie so eben soeben abgereist sei. —
Die Natur bleibt denn doch aber stärker, wie
die Menschen: plötzlich wirft sie eine glänzende Erscheinung in ihre Mitte, die durch 25
die Gewalt ihrer Gegenwart alle die abwesenden Schönheiten, die jeder einzelne ge⸗
sehn
haben will, augenblicklich verdunkelt: alles liegt auf den Knieen, niemand
kann begreifen, wie die herrliche Bezauberung nicht ewig währen soll.
Daran hal⸗
tet
euch nur, ihr gutmüthigen und treuen Seelen! laſst der Welt nur Zeit, und sie
fängt an, das Göttliche zu zerschneiden und zernagen, und ruht nicht, bis sie es in 30
den Staub gezogen.
Ihr mög’t treu bleiben, aber das schöne Band vieler bewundern⸗
der
Gemüther ist längst aufgelöst, die tempelähnliche Empfindung bei der ersten An⸗
kunft
des Göttlichen ist vorüber wie ein Rausch, der Weihrauch ist verdampft:
überall unerträglich nüchterne Gesichter, und nun läuft die Klugheit in allen Gassen bei
Freunden, Vettern und Verwandten, und protestirt, daſs sie gleich den groſsen 35
Mund, den braunen Teint und das genirte Betragen bemerkt habe: sie habe nur aus
Höflichkeit der allgemeinen Empfindung nachgegeben, übrigens seien ihr aber
36ganz andre Dinge im Leben schon vorgekommen. —
Was will ich mit diesen Wor⸗
ten
? — Klagen über die Unbeständigkeit, den Neid, und die Störungen der Welt?
Bewahre! Dieser Alltagsgesang möchte sich schlecht zu Reden eignen, die heraustre⸗40
ten
sollen aus dem gewöhnlichen und erfreuen und erheben.
Wie viele falsche Gröſse,
wie viel unächte Schönheit ist in der Welt aufgetreten, mit blendendem Glanze, und
durch denselbigen geschäftigen Trieb der Menschen das Groſse zu verkleinern, und das
Schöne zu zernagen glücklich bei Seite gebracht worden.
Wer darüber klagen kann;
wem das Schöne, was er ergriffen hat, erst andre Leute gönnen müssen; wer erst 45
mit den möglichen Störern einen Contract darüber schlieſsen muſs, daſs sie ihn in
Ruhe lassen; wer erst eine feststehende, auf Verabredungen der Gelehrten beruhende
Kritik oder Gesetzgebung für das Schöne braucht, der besitzt es nicht und ergriff
es nie.
Ein sehr richtiger Instinkt — im gemeinen Leben nennt man ihn Egoismus,
aber es ist eben so gut edles Freiheitsgefühl — treibt die Menschen an, den Einzel⸗50
nen
, der von seinem Sorgenstuhl aus die Schönheit der Welt in gemächlicher Ruhe
bewundern will, oder den, der die zerstreuten Schönheiten des Lebens und der Kunst
in seinem Zimmer wie seltne Münzen versammeln möchte, oder den überhaupt, der
an seinem Götzen mit fauler Genügsamkeit klebt — keine Ruhe zu lassen, sie fort zu
locken, bis eine Sehnsucht sie ergreift nach immer höherer Schönheit, und sie treibt 55
bald zu den Mausoleen der Vorwelt, dann zu der auferstandenen Pracht ihrer Museen
und Kunstsäle, dann in die Theater, dann wieder in die Sphäre des lebendigen,
regsamen Handelns und Gewerbes, bis sie einen Kreis der Sehnsucht rund um die Erde
gezogen, nun wieder auf der alten Stelle ankommen, und wenn man sie frägt, wo
die Schönheit wohne, ermattet antworten müssen: Überall oder nirgends. — 60
Darin lag eben der Irrthum: So lange einzelne im ausschlieſsenden Besitz der Schön⸗
heit
zu sein vorgaben, durfte es niemand leiden: jeder muſste mit der Glücksbeglau⸗
bigung
, die ihm die Natur auf seine Lebensreise mitgegeben hatte, mit der Schön⸗
heit
, die ihn vorzüglich reizte, und wenn es auch nur eine volle Scheure, oder Bra⸗
ten
und Torten waren, auftreten gegen den vatikanischen Apoll, der als einzig Schö⸗65
nes
ihm zugemuthet wurde.
Man hat im gemeinen Leben einen ungemein charac⸗
teristischen
Ausdruck für die belobte, schlaffe Ansicht von der Schönheit, da man sie
wie eine angenehme Zuthat oder Würze zu der übrigens geschmacklosen und odiösen
Sorgenbewirthung dieser Welt, kurz da man sie wie den Zucker auf den Brei des Lebens
betrachtete, und die alte Sage von ihrer Allgegenwart in Luft und Meer und bei allen 70
Lebendigen gänzlich verklungen war.
Nemlich man verglich die Schönheit gemei⸗
niglich
mit einem Gewande, das der allzutrocknen Wahrheit und der allzustrengen
Tugend zuletzt umgehängt wurde, um den erwachsenen Kindern durch eine Art von
Täuschung die Bitterkeiten des Lebens beizubringen, und die Künstler waren dann
eben die vermeintlichen Gewandschneider, die Directoren und die Entwerfer dieser75
Täuschungen. Mit dem nackten Leben hatten sie eigentlich nichts zu thun; dies
muſste, wie es Gott gegeben hatte, verbraucht werden.
Da hieſs es dann: eine
Wahrheit in geschmackvollem Gewande darstellen, eine Idee ästhetisch-schön ein⸗
37kleiden
u. s. f., und jene himmlische Schönheit, die eins ist mit der Wahrheit, die
die Seele aller Ideen ist, muſste herauskommen, und die Auſsenseiten des todten Ge⸗80
dankens
mit Zierrathen, und Stuccaturen, und Schnörkeleien, und Farben verkleben,
um die Neigung schlaffer Seelen zu reizen.
Auf die gemeinschaftliche Betrachtung
dieser Schönheit, die ein gutgeartetes Gemüth nicht begehrt, weil es sie nicht begeh⸗
ren
kann ohne das Geständniſs, daſs ihm das Leben an und für sich zu herbe
schmecke — habe ich sie nicht einladen können.
Vielmehr ist von der himmlischen 85
Schönheit die Rede, die, so weit verbreitet, als das Leben, auch durch das ganze Leben
im groſsen und im kleinen empfunden werden kann; von dem Geiste der Schönheit,
den die schönen Künste festhalten, und in bleibenden Ausdrücken und Mustern auf⸗
stellen
; wodurch die vergangenen Generationen ihren herrlichsten Erwerb den nach⸗
folgenden
überliefern; und durch den sich jede anscheinend vergänglichste Hand⸗90
lung
des Lebens an den uralten Stamm der Kunst anschlieſsen und so verewigen kann.
Wem ist es z. B. bei den musikalischen Darstellungen, die wir Opern nennen, worin
die kleinsten Züge einer reichen und grazieusen Handlung von angemeſsnen Tönen
begleitet werden, und die deshalb von alten wohlbestallten Kunstrichtern, als unna⸗
türlich
verdammt wurden, — nicht beigefallen, daſs die Natur, die in der 95
Tiefe unsers Innern spricht, gerade verlangt, daſs jede kleinste Handlung unsers
Lebens von eben solchen, wenn auch unhörbaren Accorden begleitet werden müſste,
und daſs, wenn auch jedesmal von uns nur eine einzelne Handlung gethan, ein ein⸗
zelnes
Wort ausgesprochen werden könne, dennoch immer ein Orchester von Gefüh⸗
len
in unsrer Brust harmonisch mit anklingen, und sich so neben der einzelnen Hand⸗100
lung
, und dem einzelnen Worte immer in unserm Innern wieder offenbaren müsse
der ganze Mensch, wie sich die Gegenwart der ganzen Natur und des ganzen
Reiches der Schönheit im Orchester offenbart, und die Leidenstöne, die der
menschlichen Brust entfahren, dergestalt, durch harmonische Begleitung wieder be⸗
sänftigt
werden.
Der Wein, der Ruhm, die Liebe, der Gesang, das Mitleid und das 105
Glück versetzen uns in schöne Zustände, wo solche Töne in unserm Herzen ver⸗
nommen
werden. Jeder von uns erinnert sich daran und versteht was ich meine.
Wir
sind nie in solchen Zuständen gewesen, ohne den Wunsch sie festzuhalten, ohne
schmerzliches Gefühl, wenn sie entwichen waren.
Nehmen Sie nun an, es gäbe eine
Fähigkeit des Menschen ohne äuſsere Veranlassung, ohne Wein und ohne Ruhm, ohne 110
Liebe und ohne Gesang, den das leibliche Gehör empfindet, ohne Mitleid und ohne
Glück, das innerste und heiligste, welches durch jene Anlässe erzeugt wird, von
selbst durch Kraft der Seele und durch Grazie der Seele zu erzeugen, so haben sie den
Dichter, den Künstler.
Gehn sie noch einen Schritt weiter, und denken sie sich,
diese Fähigkeit sich selbst überall musikalisch zu begleiten, als bleibenden Zustand im 115
Menschen, so haben sie vor sich das Bild einer schönen Seele. Dies ist der natür⸗
liche
Zustand des Menschen, der erste und älteste, dessen wir uns erinnern können,
der Zustand der Kindheit, von dem (wie uns die Welt auch nachher miſshandeln mag,
durch welche Disharmonieen wir auch späterhin hindurch müssen) dennoch durchs
38ganze schmerzenvolle Leben eine gewisse Grundlage von Wohlbehagen zurückbleibt. 120
Das Wesen aller dieser vorübergehenden und bleibenden Zustände ist die Schönheit,
von der ich rede. —

Warum entbehrt die Poesie zu ihrer vollen Wirkung so ungern der Verse und des
Rhythmus?
Es kommt ihr, da sie die Schönheit, d. h. mehr als den bloſsen Sinn der
Worte und Gedanken, mehr als den bloſsen Umriſs der Gestalten, ausdrücken will, 125
darauf an, darzuthun, daſs der ganze Dichter, wie vorher der ganze Mensch,
allenthalben zugegen sei; deshalb bringt die Poesie ihre noch so verschiedenartig be⸗
wegten
Bilder und Gestalten alle in eine gemeinschaftliche Bewegung: nach wie ver⸗
schiedenen
Tacten sich die Glieder der Handlung bewegen mögen, die ganze Hand⸗
lung
bewegt sich dennoch nach einem einzigen Tact; wie sich die Hand und der Fuſs 130
bewegen mögen, ein einziger, gleichförmiger, hör- und fühlbarer Puls schlägt durch
das ganze Werk, und dieser Pulsschlag greift wieder ein in den gröſseren Pulsschlag
der ganzen Natur und so offenbart sich allgegenwärtig der Dichter, und mehr als der
Dichter, der allgemeine Geist der Poesie und des Lebens.
Welches groſse Trauerspiel
uns der Erdgeist zeigen möge, und wenn es der Kampf zwischen Cäsar und Pompe⸗135
jus
um die Weltherrschaft wäre, der groſse, allgemeine Pulsschlag der Natur, der Wech⸗
sel
von Tag und Nacht dauert anscheinend unbekümmert um die Unternehmungen
jener Helden fort, und wer hat nicht schon einmal in seinem Leben gefühlt, wie die⸗
ser
ruhige und rhythmische Wechsel der Tage, der Jahrszeiten und Jahre, die Be⸗
trachtung
der schauerlichsten Catastrophen der Zeit still besänftigt, und den Betrach⸗140
ter
mit einem heiligen Gefühle von der Schönheit der Welt erfüllt.
Deshalb glaube
niemand, daſs er das Wesen der Poesie empfunden, so lange ihm noch die Verse un⸗
wesentlich
erscheinen, so lange er die Bewegung verachtet, welche ihn in den heili⸗
gen
Schlaf, Traum oder Wahnsinn der Poesie einwiegt.

Die Erklärung der Schönheit, da man sagt, sie sei überall da, wo sich ein 145
Mannichfaltiges in einem Einfachen, oder in Einheit offenbart, ist also so uneben nicht:
eine mannichfaltige Bewegung in einer einfachen, die Unruhe in der Ruhe, die
Leidenschaft in der Gemüthsstille. —
Aber wo ist denn die Schönheit, fragen die
Leute, damit wir sie ergreifen, uns aneignen, oder davon Nutzen ziehen können:
wir möchten sie uns gern einfangen, und sie nachher sehen lassen, und beneidet 150
werden.
Mit unsrer unserer Antwort: Überall oder Nirgends, dürfen wir nicht kommen.
Wohlan! es hat ja Leute gegeben, welche Profession von der Schönheitslehre, von
der Ästhetik machten; geschmackvolle Kunstrichter, welche von der Verfertigung und
Fabrication des Schönen Rechenschaft gaben.
Befragen wir diese, so antworten sie:
schön kommt her von scheinen, was zweckmäſsig scheint, ist Schön, und die Kunst 155
ist die Fertigkeit, schönen Schein hervorzubringen.
Sie erklären, daſs derselbe kalte
Verstand, welcher den reellen, zweckmäſsigen und klugen Anordnungen des Lebens
seine Billigung gebe, sich auch durch diese Täuschungen, diesen Schein von Zweck⸗
mäſsigkeit
zufrieden stellen lasse, vorausgesetzt, daſs die betrachtende Seele nur nie
39vergesse, wie alles Schein, bloſser Schein sei.
Eine gewisse Gründlichkeit ist diesen 160
Kunstrichtern nicht abzusprechen, aber an der Schönheit des Gegenstandes selbst gehn
sie unaufhörlich vorüber.
Die Natur muſs ihnen beständig zweckmäſsiger er⸗
scheinen
als die Kunst, und so kann die Befriedigung, welche der Genuſs des Schö⸗
nen
in sich trägt, in ihrem Herzen nie Raum finden.
Ihr Auge ist in den Gegenstand
versenkt, ein Motiv des Künstlers nach dem andern wird aufgefunden, alle Glieder 165
in der Kette seiner Composition werden zart gesondert, aber das ganze bleibt verbor⸗
gen
, das unsichtbare oder doch nur den feineren Sinnen ansprechende Band, worin
gerade sich der Schönheitssinn des Künstlers offenbart, ist für sie nicht vorhanden.
Sie sind zufrieden, wenn sich das erste und das letzte Glied der Kette des Werks nur
unmittelbar wieder an die Natur anschlieſst, und wenn das Ganze nicht mehr oder 170
weniger gewesen, als ein aus der Natur herausgeschnittener Moment.
Jener Puls⸗
schlag
des Dichters oder Künstlers, die Töne jenes Orchesters in seiner Brust, das
eigenthümliche Gesetz der Bewegung in dem Werke ist für sie gänzlich abwesend.
Wie könnte es auch anders, da der Betrachter eines Kunstwerks in das wahre Wesen
desselben nicht eher eingeht, als bis auch er, neben den äuſseren Eindrücken, wel⸗175
che
er vom Werke empfängt, jene innere Musik empfindet, ohne welche alle Romane
und Tragödien der Welt nichts sind, als Capitel aus der Naturgeschichte des Men⸗
schen
, der Laokoon und die berühmten venetianischen Pferde nichts anders als erläu⸗
ternde
Bilder zum Büffon. —
Das Auge dieses Kunstrichters ist geübt, scharf und in
hohem Grade thätig, aber anstatt jenes Mitklingens der Gefühle in der Brust, treiben 180
Herz und Lunge unempfindlich ihr animalisches Wesen fort, und so muſs wohl die
Schönheit unempfunden bleiben. Dadurch, daſs ich also dir, der du mich fragst, wo
die Schönheit sei, antworte: dort ist sie! — wird dir nicht geholfen.
Entweder
siehst du in ihr nichts weiter, als eben wieder ein Stück Welt, wie es dir von
jedem Tage deines Lebens schon zugeschnitten wird, und was hast du dann davon: oder 185
du siehst wirklich eine Welt für sich, die eigenthümliche Bewegung des Kunst⸗
werkes
theilt sich deiner Seele mit, und so wirst du mir erwiedern: dort im
Kunstwerke, mein Freund, ist sie nicht allein!
Sie ist eben so gut
auch in meinem, des Betrachters, Gemüthe. — —
Wir alle haben haben alle die Erfahrung ge⸗
macht
, daſs gewisse Gesichtszüge und Gestalten der Menschen uns auf eine eigenthüm⸗190
liche
Weise ansprechen und reizen, und wenn wir auf diesen Reiz hin, uns auf den
Markt hinstellten, auf diese eigenthümlich reizende Gestalt hinwiesen und riefen:
dort, ihr Leute, ist die Schönheit! — so würde uns vielleicht niemand begreifen und
alles an uns, wie an einem Wahnsinnigen, vorübergehn.
Jede menschliche Gestalt,
kann man sagen, findet, auf diese Weise, ein Herz, das sie in die ihr correpondi⸗195
rende
correspondirende
correspondirende
Bewegung zu versetzen versteht; es ist ja nichts so häſsliches, das nicht, in
wiefern es nur lebt, einige schöne, sinnige, tief ausdrucksvolle Momente darbietet,
und da hat dann immer die Natur eines ihrer Geschöpfe wieder mit einer besondern
Empfänglichkeit gerade für diesen Reiz ausgestattet — und das ist das groſse Geheim⸗
niſs
, wie im Ganzen doch endlich alle noch so bizarre Schönheit, welche die Erde 200
40trägt, an den Mann gebracht wird, und kein Roman so schlecht, kein Bild, keine
menschliche Gestalt so häſslich ist, daſs sie nicht endlich, wenn sie den Moment nur
abwarten können, doch noch ihre uneigennützigen Liebhaber fänden. —
Die s. g.
gebildeten Leute klagen darüber, daſs es in der Welt so unendlich viel häſsliches, wi⸗
driges
und ekelhaftes und so weniges schöne gebe, und wenn andern etwas lebhaft 205
gefällt, so können sie nie begreifen, wie es zugeht.
Woher käme das? Daher, weil
sie immer nur den Gegenstand ansehn, welcher gefällt, und den andern, welcher
das Gefallen empfindet, ganz auſser Acht lassen.
Wie nun, wenn einmal jemand mit
der armseligen Eitelkeit, daſs er einen sehr verfeinerten Geschmack habe und daſs
ihm unendlich wenig gefiele, nicht zufrieden wäre, und sich eine eigne Politik bil⸗210
dete
, damit ihm recht vieles gefallen möchte.
Wenn er z. B. allenthalben, wo er
jenes unbegreifliche Wohlgefallen zweier s. g. häſslichen Naturen an einander wahr⸗
nähme
, dies als eine höchst interessante, lehrreiche Erscheinung festhielte, und durch
unaufhörliche Wechselblicke, die immerfort zwischen den beiden so sonderbar
bezauberten herliefen, endlich das Geheimniſs ihrer Liebe auffände.
Eingeweihter sol⸗215
cher
Mysterien zu sein ist nichts geringes, und wenn es eine Schule der Schönheit
giebt, so ist es diese!
Hier muſs das Wesen, die Seele des Wohlgefallens ergriffen
werden, und gerade die Äuſserlichkeiten, der Schein, die Täuschungen, welche das
Urtheil über die Schönheit so oft bewölken, dürfen über den, der hier etwas wahr⸗
nehmen
will, durchaus nichts vermögen. 220

Wir machen häufig die Erfahrung, daſs Personen, welche wir in unsrer früheren
Kindheit mit Hingebung geliebt haben, deren körperliche Gestalt wir damals ohne
Einwendung so hinnahmen wie sie eben war, daſs diese, wenn wir sie in späteren
Jahren wiedersehn, uns ungemein häſslich vorkommen.
Es ist nemlich in dem Zwi⸗
schenraum
zwischen der Kindheit und den reiferen Iahren, Jahren, Jahren ein gewisser ekler Geist 225
der Auswahl über uns gekommen, wir haben uns ein unbefriedigtes Wesen ange⸗
wöhnt
, kurz wir haben das Geheimniſs der Liebe verlernt, und für das ganze ver⸗
lohrne
Paradies nichts weiter gewonnen als ein tiefes unergründliches Gefühl der
Schaam, womit kein Lebensgenuſs der Welt bestehen kann. —
Wer nun den
Geist der Schönheit, ohne alle falsche Rücksicht auf gewisse Äuſserlichkeiten der Er⸗230
scheinung
, wieder erobert, wer jenes Wohlgefallen am anscheinend Häſslichen er⸗
gründet
, der gewinnt zugleich die göttliche Macht, die dunkelsten Erscheinungen,
welche sein Leben an ihm vorüberführen mag, so zu berühren, daſs sie ihm ihre
Sonnenseite zukehren müssen: er bezaubert die Welt, weil sie ihn wieder bezaubern
kann. —
Gegen diese Lehre von der allgemeinen Schönheit der Welt 235
höre ich eine wichtige Einwendung: Du hast recht, sagt man mir, wenn du deine
Reden von der Schönheit beginnst, mit einem Tadel jener falschen und flachen Deli⸗
catesse
der Welt, jenes Vorurtheils gegen gewisse Formen der bildenden Kunst, wel⸗
che
ganz conventionell mit dem Namen der Häſslichen gestempelt worden, jenes an⸗
dern
Vorurtheils gegen gewisse Begriffe, ja gegen Worte in der Poesie. Wenn man 240
41wie der französische Zuschauer kein Blut auf der Bühne sehn kann, wenn die He⸗
xen
und der blutbefleckte Geist des Banko im Macbeth als absolut häſslich nicht gelit⸗
ten
werden, und nur solche Süjets und Behandlungsweisen auf der Bühne und in den
übrigen Künsten geduldet werden sollen, welche eine ohnmächtige, weichliche, ver⸗
zärtelte
öffentliche Kunstmeinung privilegirt hat, dann ist die Kunst gar bald am Ende. 245
Aber wenn du verlangst, daſs wir Alles Schön nennen sollen, so willst du uns zwar
zu Göttern erheben, die alle ihre Werke gut finden, aber des schönen menschlichen
Vorzugs des Unterscheidens, Wählens und Richtens berauben: wir sind endliche We⸗
sen
, und immer steht uns ein Schönes näher als das andre, das eine schmiegt sich
leichter an uns als das andre, ohne Vorliebe können und mögen wir nicht lieben.250
Sei du doch so gut, könnte man noch spitzfindig aber wahr hinzufügen, du, der du
alles, wie es ist, schön finden willst, handle doch selbst nach deinem Grund⸗
satz
und finde doch unser Häſslichfinden gewisser Dinge auch natürlich und schön. —
Durch diese richtige Einwendung komme ich zu den groſsen Resultaten dieser einlei⸗
tenden
Vorlesung: Die Schönheit wohnt weder allein in dem schönen Gegenstande, 255
der unser Wohlgefallen erweckt, noch wohnt sie allein in der Brust des Betrachters,
dessen, der das Wohlgefallen empfindet, und der nicht etwa den Gegenstand erst zum
schönen macht, sondern ihn blos mit schönem Gefühle begleitet, aber mit seiner Be⸗
gleitung
ganz unentbehrlich ist. Sie ist weder blos objectiv noch blos subjectiv.
Die
Schönheit ist demnach jene rhythmische Bewegung, Harmonie, oder wie soll ich sie260
nennen, zwischen zweien, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Geist und Ge⸗
fühl
, zwischen Ruhe und Bewegung, die das Universum, die Weltgeschichte, das
Leben, wenn wir es mit Stille und Kraft, d. h. wieder mit Schönheit betrachten, un⸗
serm
Gemüthe mittheilt; und welche in beschränktem Umkreise jedes Kunstwerk dar⸗
stellt
. Dieses Geistes, der das Universum beseelt, ist alles und jedes theilhaftig, was 265
sich mit seinem Leben an das Leben des Ganzen anschlieſst, und die Empfänglich⸗
keit
für seine Offenbarungen muſs jeder in sich beleben und erhöhen, wie er ver⸗
mag
. —
Die einzelnen Schönheiten dieser Welt sind die Repräsentanten dieses Gei⸗
stes
der Schönheit, seine Statthalter auf Erden, welche bald deutlicher, vollständiger
und klarer, bald wieder dunkler, enger und unverständlicher das ewige Wort in der 270
endlichen Sprache ausdrücken.
So lassen sie uns denn einen Unterschied machen zwi⸗
schen
der endlichen Schönheit, die vielen und mannichfaltigen Naturen leicht und
dauernd anspricht, wie die groſsen Kunstwerke in Sprache und Bild, die das Alter⸗
thum
hinterlassen; die unser Gemüth in den Rhythmus der Schönheit hineinzieht,
und der andern Schönheit, die die Welt nur darum für Häſslich ausschreit, weil wir, 275
die Betrachter, sie erst in jenen Rhythmus der Schönheit hineinziehen müssen; weil
ihre Schönheit von einer Rinde verdeckt wird, die uns nicht reizt; weil wir erst wer⸗
den
müssen, wie die Kinder, um sie in ihrer Eigenthümlichkeit zu fühlen.
Nennen
wir die erste Gattung der Schönheit, die uns an sich zieht, und von der unser Schön⸗
heitssinn
entzündet wird, gesellige Schönheit, weil sich um ihren Reiz die 280
Menschen gesellig, wie die Planeten um die Sonne versammeln.
Um die andre Art
42von Schönheit, welche im Gegensatze der geselligen individuelle Schönheit hei⸗
ſsen
soll, die wir im gemeinen Leben so oft voreilig häſslich nennen, um diese zu em⸗
pfinden
, muſs der betrachtende Mensch selbst die Sonne werden und jene wie Plane⸗
ten
, die von ihm ihr Licht empfangen, um sich versammeln. —
Und so läſst der 285
wahre Mensch sich freilich von jener geselligen Schönheit entzünden, aber nur
um alle individuelle, verborgene Schönheit des Lebens wieder zu entzünden, um
durch die dunklen Rinden, welche sie verdecken möchten, und durch alle äuſseren
Verzauberungen des Vorurtheils hindurch zu leuchten.
Er stellt dann durch sich selbst,
durch seine Erscheinung jene gesellige Schönheit dar und mag nun zu wechselsei⸗290
tigem
Anschauen jener ewigen Kunstwerke, die seines Gleichen sind, gereinigt von
allem unedlen Anfluge der Welt zurückkehren. —

http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/image/2104383_001/94
Vorlesungen über das Schöne

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/phoebus/02/03, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 18.05.2025

Zeilen- u. Seitennavigation
  • Überlieferung
  • Emendationen
  • Kollation Editionen
  • Stellenkommentar

Apparat

Die Transkription folgt der 1924 erschienenen Faksimile-Ausgabe der Phöbus-Erstdrucke:
Kleist, Heinrich v. / Müller, Adam H. (Hrsg.): Phöbus. Ein Journal für die Kunst. München: Meyer & Jessen, 1924. (= Neudrucke Romantischer Seltenheiten Bd. 2 – [Nachdruck in 400 Exemplaren besorgt v. Fritz Strich]).

Überlieferung

Generell zur Transkription des Phöbus: vgl. editorische Bemerkungen zur Textkonstitution des Phöbus.

Der Vergleich mit der [BKA-TK:2000]-Fassung basiert auf den bei ›textkritik.de‹ publizierten Dokumenten zum Phöbus.

 Emendationen (insges. 2)
  • 195correpondirendecorrespondirende
  • 225Iahren,Jahren,
 Vergleich Editionen

Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)

Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.

[BKA-TK:2000] [6 Abw.]
  • 19da ] dort
  • 24so eben ] soeben
  • 151unsrer ] unserer
  • 189alle haben ] haben alle
  • 195correpondi/rende ] correspondirende
  • 225Iahren, ] Jahren
WERKE
  • Dramen
  • Erzählungen
  • Lyrik
  • Sonstige Prosa
  • Berliner Abendblätter
  • Phöbus
VERZEICHNISSE
  • Personen
  • Orte
  • Kleist Texte (alphabetisch)
  • Von Kleist erwähnte Werke
  • Literaturverzeichnis
SONSTIGES
  • Über die Edition
  • Kleist-Wörter-Rätsel
  • Handschriften-Simulator
  • Handschriften-Fonts
  • Kontakt Herausgeber
  • Impressum / Haftungsausschluss
  • Datenschutzerklärung
  • Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter einer
    Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz