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Groſse und dauernde Werke des Geistes,
vornehmlich des dichtenden, entstehn da,
wo sich die
Auſsenwelt des Lebens und die Innenwelt des Herzens berührt haben,
wo beide gemeinschaftlich wirken und wie in ein und
dasselbe Schicksal verflochten 5
sind. Solche Werke tragen Tiefe und Empfindung an sich,
als ein Erbtheil des Her⸗
zens; aber sie wirken auch auf die Welt
zurück, denn das Herz, welches sie hervor⸗
brachte, war vom Leben
selbst und unmittelbar befruchtet worden. Es
ist nur Täu⸗
schung, daſs die Einsamkeit allein die Bildungen des
Geistes begünstige: sie ist viel⸗
mehr hinterher nur da zuträglich, wo
die Welt mehr Begebenheiten über die Seele 10
gehäuft
hat, als diese bestreiten kann. — Und so
möchten wir die merkwürdige
Opposition zwischen
deutscher und französischer Literatur ungefähr mit folgenden
Worten feststellen: die deutschen Autoren haben im
Ganzen vielmehr nach Entäu⸗
ſserung, nach Zurückgezogenheit des Herzens
auf Kosten der Welt, die französi⸗
schen Autoren hingegen
mehr nach Verherrlichung der Welt auf Kosten des Herzens 15
oder nach dem gestrebt, was wir Entinnerung nennen möchten. — Offenbar
neigen beide Nationen
sich aus diesen Extremen wieder zu den Schranken und zur
Vereinigung zurück, und wie wir deutscherseits
Nachsicht erwarten für das, was
uns an äuſserer
Gefälligkeit, Verständlichkeit und Allgemeingültigkeit, welche nur die
Welt gewähren kann, abgeht, eben so wenig können
wir der Frau von Stael einen 20
Vorwurf daraus machen,
daſs sie bei ihrem höchst ungemeinen Streben der Sicherheit
des Geistes entbehrt, an welcher das Herz gröſseren
Antheil hat. —
Daſs sie mit zu groſser
Emsigkeit öffentlich zu machen oder auszusprechen strebt,
was in ihrer Brust neues, und in dem Geist ihrer
Nation unerlebtes, und in ihrer
43Muttersprache seit
langen Jahren ungesagtes, vorgeht — das ist die Schuld, welche 25
sie der Zeit, dem Ort, und den Umständen, unter
welchen sie erzogen worden, be⸗
zahlen muſs. Und soll um die Weiblichkeit gestritten werden, wer möchte ihr, die
doch in ihrer Sphäre bleibt und aus ihrem eignen Leben
herausspricht, nicht den Vor⸗
zug geben vor jenen deutschen
Schriftstellerinnen, die mit unnatürlicher Entäuſserung
nach Kränzen ringen, welche vor Jahrhunderten schon
würdigere Häupter belohnt 30
haben, und die sich demnach
dem Teufel, oder der Öffentlichkeit für nichts erge⸗
ben. — Konnte es einst ein versammeltes Volk ohne Ärgerniſs
bezeugen, wie eine
Griechinn ihre körperlichen Reize vor aller Augen
enthüllte; warum sollte Eu⸗
ropa sich spröde beweisen, da sich ihm
eine weibliche Seele von
vielfältiger Schön⸗
heit, wenn nicht entkleidet, doch in so
mannichfaltigen öffentlichen Umkleidungen 35
zeigen
will, daſs von der Form ihrer Glieder nichts verborgen bleiben kann.
Die
Welt erklärt sich ein
solches Verfahren sehr bald durch irgend ein nichtssagendes
Wort, z. B. durch Eitelkeit: wir freuen uns viel
lieber der merkwürdigen Erschei⸗
nung, der wunderbaren
Empfänglichkeit, der schönen Unruhe dieser Frau, und fol⸗
gen ihr
gern in die Schule ihres uns sehr begreiflichen Schmerzens und ihrer uns
sehr 40
ansprechenden Empfindungen, da sie uns
einladet.
Sollte Anmaſsung, übertriebenes
Selbstgefühl, oder gar hochmüthiges Mitleid mit den Deutschen, in
diesen oder künf⸗
tigen Werken der Frau von Stael sichtbar seyn, so
kann dies unser Urtheil weiter
nicht bestimmen, da
wir zu gut wissen, wie natürlich und wie vorübergehend auch
solche Anwandlungen in einem so schön zerrissenen
Gemüthe sind. 45
Frau von Stael, wohlwissend, wie
alle Gegenstände von den Gefühlen, mit wel⸗
chen sie betrachtet werden,
ihre Farbe erhalten, entsagte, da sie Italien darstellen
wollte, dem nur zu oft gemiſsbrauchten Vorrecht der
Reisebeschreiber auf eine reine,
absprechende, aber
eben so kalte Beschreibung. Der Wiſsbegierde
zu genügen, hatte
sie ihr Herz und ihre Schmerzen in
Copet nicht zurückgelassen: und so zeigen sich 50
auch
wirklich die Denkmäler der alten und neuen Kunst in dem Spiegel ihrer
Gefühle
viel deutlicher und eigenthümlicher, als in
der unbefangensten Zergliederung, und in
der ihnen
angepaſsten Begeisterung der bisherigen deutschen Beschreibungen. Die
Kunstwerke der Vorwelt lieben
es, wenn ihre Betrachter ein bereits angeregtes Herz
mit sich bringen, wie die Sonnenstrahlen sich in dem Duft
kräuterreicher Thäler bes⸗55
ser gefallen, als an den reinen, kahlen
Häuptern der Berge, welche ihnen wohl den
Strahl aber
keine eigenthümliche Antwort zurückgeben.Zwischen jenen ewigen Wer⸗
ken, und den tragischen Stimmungen
unsers Lebens, was diese auch erregt haben
möge und
dafern sie nur menschlich sind, ist kein Widerspruch, keine Eifersucht;
wohl aber ist der Geist der Kunst mit jener
Nüchternheit, und unpartheiischen Wiſs⸗60
begierde, die wir ihm
gewöhnlich entgegengebracht haben, ewig unverträglich. Es
giebt eine allgemeine,
göttliche Aufregung des Herzens und seiner Zeugungskräfte,
aber von dieser, von Winkelmann, von Göthe, von den
Künstlern ist hier die Rede
nicht, sondern nur von
den bekannten Beschreibungen Italiens, und daſs auf die
44Empfindeleien des Dupaty hier
Rücksicht genommen werden soll, wird niemand 65
verlangen.
Der Gedanke des vorliegenden
Romans ist höchst natürlich und einfach: „über
dem
Grabe der Welt“ webt die Dichterinn aus aller Fülle ihrer Phantasie eine
Liebe;
stattet sie aus mit allem, was ihr das Leben
gelehrt; unbesorgt darüber, ob nicht viel⸗
leicht das Bild ihr
allzuähnlich sei, giebt sie sich selbst, wenigstens alle ihre
einzel⸗70
nen Eigenheiten, und diese noch gesteigert und
verklärt und geschmückt, so weit ihre
Vorstellung
reichen will, um nur das beste und persönlichste zu geben, was sie
ge⸗
ben kann — und begräbt endlich die ganze Herrlichkeit zu
dem übrigen untergegan⸗
genen. — „Ohne die Liebe wäre die Welt nicht die Welt, wäre
denn Rom auch
nicht Rom“: was sich an einander
erfreute und entzündete, das Gefühl, welches sie 75
mitbrachte, und Rom, muſs sich nun auch miteinander verzehren; sie
läſs nicht nach,
sie muſs von der Asche ihres Herzens
mischen unter die Asche Roms. — Bei der
Dar⸗
stellung vom Tode der Corinna, wir gestehen es,
konnten wir uns der Erinnrung an
jene
Begräbniſsceremonie,
Begräbnisceremonie,
welche Kaiser Carl der fünfte mit sich selbst lebendigen
Leibes
vornehmen
vornehmem
lieſs, nicht erwehren: so ähnlich ist die Sterbende, der
Dichte⸗80
rinn, welche sie sterben läſst. — Wenn es auch eben nicht als Buſsübung geschieht,
wie bei jenem Kaiser, es hat immer etwas reizendes, zu
sterben, und doch wieder als
Leidtragender an dem
eignen Sterbebett zu stehn, remords und melancolie ohne
Ende in den Gemüthern der übrigen zu hinterlassen.
Die Persönlichkeit der Frau von
Stael ist zu merkwürdig, Europa spricht zu laut 85
von
ihr — als daſs die Ähnlichkeit zwischen ihr und der Corinna irgend einem
Leser
entgehen könnte; überdies hat die Verfasserinn
von ihrem ungemeinen Wesen noch
den übrigen Personen
Eigenschaften mitgetheilt, welche die schon allzuüberladene
Corinna nicht mehr tragen konnte; Oswald hat die sehr
schwierige Partie der Gewis⸗
sensscrupel
erhalten; Lucile, die sich, mit wie unvergleichlichen Zügen sie auch
ge⸗90
malt sei, doch zur Corinna wie die Soubrette zur
Prima Donna verhält, scheint ihr
die Weiblichkeit wie
einen Shawl oder einen Fächer nachzutragen; sogar d’Erfeuil,
der gelungenste und von der Person der Verfasserinn
unabhängigste Character im gan⸗
zen Werk muſs eine Grundlage von
Melancholie haben, aus der die ganze Welt des
Romans
zu entspringen scheint. Aber wie uns die
Eigenheit der Frau von Stael wer⸗95
ther ist, als ihre Eigenschaften, so
hätten wir sie lieber in recht neuer und fremder
Gestalt wiederfinden, oder auch nur sie allein sehen mögen, statt
dessen jetzt unser
Interesse zwischen ihr und der
Corinna, wie zwischen zwei Zwillingsschwestern ge⸗
theilt bleibt: wir
müssen ganz andre Dinge in diesem Romane lieben und bewundern,
als die, welche uns zur Liebe und Bewundrung
dargereicht werden; wir finden die 100
Verfasserinn
poetisch gerade wo sie am wenigsten die Absicht zu dichten hat, und wir
finden sie unerträglich prosaisch, wo sie uns
schleppende Sermonen, bei denen ihr
bald Pindar und
bald Rousseau vorzuschweben scheint, für Improvisationen einer
auſserordentlichen Dichterinn giebt; wir finden sie
rührend, aber durchaus nicht an
45den Stellen,
die mit wirklichem Anspruch auf unsre Thränen geschrieben sind. — 105
Kurz wir müssen uns Frau
von Stael, mit Einschluſs der Corinna, erst selbst wieder
als einen Roman irgend eines anderen gröſseren
Dichters denken, um uns mit einfa⸗
cher, ungestörter
Empfindung ihrer freuen zu können; wir müssen den unzähligen
kleinen und groſsen mit einander streitenden
Absichten der Schriftstellerinn, von de⸗
nen der gutmüthige Leser nach
Herzenslust umhergeschüttelt und geworfen wird, 110
erst
eine Hauptabsicht, einen Grundgedanken unterlegen, um endlich ahnden zu
kön⸗
nen, wie Frau von Stael schreibt und lebt, wenn sie
ohne alle Absicht schreibt und
lebt.
Dem sei wie ihm wolle: auch die
blose äuſsere Erscheinung ist interessant ge⸗
nug — ein weibliches
Gemüth, das mitten im Schmerz nicht vergiſst, wie schön er 115
steht, und das nicht allein in der ersten Potenz über
die Sache selbst, sondern viel⸗
mehr in der zweiten, darüber gerührt
ist, daſs diese Rührung in den Augen andrer
etwas so
rührendes sei. — Im Character der Corinna,
vornehmlich wie er sich gegen
das Ende zeigt, war so
viel kräftiges und unmittelbares, ihr Schmerz schien so groſs⸗
artig zu werden, ihre Seele schien nur um sich selbst
zu weinen — und dennoch er⸗120
fahren wir, daſs sie sich in dem ganzen
Apparat ihrer Trauer habe malen lassen.Die
Reflexion über den Schmerz ist stärker als der
Schmerz: die Seele steht als nächster
Leidtragender
und Anverwandter zur Seite des leidenden Herzens, und schmeichelt
ihm wie einem schönen weinenden Kinde, welches immer
heftiger weint, je mehr
es getröstet wird, und in
eine Art von wollüstiger Rührung über sich selbst geräth. 125
Die Sentimentalität im gewöhnlichen
Verstande ist ein Wucher, ein Luxus,
der mit dem
Schmerz getrieben wird; sie ist in so fern unmenschlich, als es um alle
tiefen Empfindungen der Seele, um allen
gründlichen Schmerz gethan ist, sobald man,
um der
Theilnahme der übrigen willen, sich im Schmerz wohlzugefallen anfangt. —
Der Anblick des
Menschen kann nie merkwürdiger sein, als wenn er im Kampf mit 130
dem Schmerze begriffen ist: darin liegt die
unergründlich tiefe Lust der Tragödie;
Leiden
fordern die Seele heraus, bewaffnen sie, und diese hat nichts gröſseres
zu be⸗
kämpfen und zu besiegen, als ihre Leiden. Nichts also ist unmenschlicher als eine
Parodie dieses göttlichen Kampfes, da ein
ohnmächtiges Gemüth die Maske des
Schmerzes vor sich
nimmt, um den Zuschauer zu reizen und zu rühren, welcher 135
glauben muſs, wie groſse Bewegung, wie viel innerer
Streit hinter diesem Schmerz
verborgen sei. — Ist dieses Fastnachtspiel mit dem Schmerz eine
Zeitlang von den
Menschen getrieben worden, so
verlieren die groſsen Catastrophen des Lebens, der
Tod, der Untergang der menschlichen Werke, das Scheitern groſser
Entwürfe —
ihren hohen, zermalmenden und erhebenden
Character: ein weiches, schlaffes, weh⸗140
müthiges Wesen verdünnet
und verwässert alle Empfindungen; die Schicksale der
Welt laufen zügellos fort: in keiner Seele der Stolz, sie zu lenken
und zu richten; in
allen das kleine Bestreben, sich
nur theatralisch zu gebährden, möglichst rührend zu
sprechen und zu agiren. — Man berufe sich
nicht auf die Thränen, auf den Aus⸗
46druck des Schmerzes, der endlich allen
gemein ist, als deute die Natur damit an, sie 145
wolle
eine so ohnmächtige Gemeinschaft der Klage, des unbestimmten Verlangens
und
der buhlerischen Sehnsucht. Auch die wahren Thränen kennt man nicht mehr; denn
sie zeigen ja nur an, daſs der Schmerz aufgelöst
worden, daſs er sich nun musika⸗
lisch ausdrückt, — aber wie unendlich
mannichfaltig ist der Character dieser Musik,
und
wie einförmig sind jene weinerlichen Rührungen einer sentimentalen Zeit.
—150
Aber es giebt eine zweite höhere
Gattung der Sentimentalität: Anständig ist es
nie,
aber erlaubt zuweilen, wenn die Wege des Schicksals ganz unerforschlich
wer⸗
den, wenn die Seele der überwiegenden Gewalt ihres
Feindes nachgeben muſs, dann
allen Anspruch auf Sieg
fahren zu lassen und von dem tyrannischen Erdgeist wie an
eine unbekannte höhere Macht zu appelliren. Der Glaube an diese Macht ist dann 155
zwar nicht verschwunden, aber der Muth ist dahin,
durch sich selbst sie auszu⸗
drücken, der Muth, sie herabzuziehn in
seine Brust. Keine Spur von weltlicher
Co⸗
quetterie, vielmehr Innigkeit und Frömmigkeit ist in
den Klagen, die dann aus⸗
brechen; sie sind um so wohlklingender,
je gröſser und kräftiger die Bestrebungen
waren,
unter denen die Seele endlich ihre Niederlage erlitten. Die Werke des Men⸗160
schen bleiben unvollendet,
aber eine gütige Gottheit giebt ihm eine Leier in die Hand,
damit niemandem um seinen Untergang zu klagen
gestattet sei, als ihm selbst. —
Diese Sentimentalität findet sich bei Schiller, und vornehmlich
ausgedrückt in dem
berühmten Gedichte Resignation,
von dem wir ein Fragment in vortrefflicher Über⸗
setzung
mitgetheilt haben. Der Dichter klagt, aber um
sein selbst willen, nicht um 165
des Effects willen:
diese innige Sentimentalität ist
den Deutschen angemesse⸗
ner, wie sich jene Coquetterie der Sentimentalität bei
den französischen
Dichtern häufiger nachweisen
läſst. — Frau von Stael schwankt auf die
merkwür⸗
digste Weise zwischen beiden: sie ist tiefer
Empfindungen fähig, sogar des erhabenen
Grames
darüber, daſs die Reflexion den Schmerz gar nicht mehr zum Ausbruch
kom⸗170
men lasse.
Es
giebt
gibt
nichts rührenderes, als ihren Ausruf, da sie kurz nach dem Tode
ihres
Vaters, von der Erinnrung seiner Liebe zu ihr
überwältigt, sagte: Mon Dieu! si l’on
avoit une
nature vraiment profonde, de tels souvenirs tueroient à l’instant!
— Aber
sie weiſs, die
Unglückliche, wie wir andere eben auch, von so unendlich vielen 175
Dingen und Gefühlen und Schmerzen, ohne sie erlebt zu
haben, daher sie uns so
manches vorempfindet, was
sie andern wieder nachempfunden hat, daher jedes Ge⸗
fühl ihrer Brust eine
eigne theatralische Rolle spielt, und wir die meisten Eindrücke
ihrer Werke erst durch die zweite, dritte Hand
erhalten, während wir am liebsten
hätten, was
unmittelbar von ihr selbst käme. 180
Alle diese gerechten Beschwerden
über die Werke der Frau von Stael werden be⸗
sänftigt, durch
die Bemerkung, wie ihre Romane an innerm Gleichgewichte zuneh⸗
men.
Nicht an äuſserem; denn die ungleichartige
Natur der Corinna wird manchen
Leser abgeschreckt
haben: man ist von Reflexionen ermüdet, und von allen Pointen,
47mit denen die einzelnen
Capitel schlieſsen und an denen nur die ihrer bedürftigen Im⸗185
provisationen Mangel leiden, völlig abgestumpft, ehe
man an den eigentlichen Roman
gelangt; Italien steht
der Corinna, die Beschreibung steht dem Roman im Wege und
der Titel würde passender Corinne et l’Italie, als Corinne ou l’Italie heiſsen. —
Aber innerlich im Roman ist mehr
Gleichgewicht als in der Delphine. Im Romane
und im Drama schwebt der Dichter über den
handelnden Personen, er enthüllt die 190
entgegengesetzten Gemüthszustände, sieht in das Herz des einen so tief
als in das des
andern. Dieses fast göttliche Vorrecht muſs er bewähren durch poetische Ge⸗
rechtigkeit, welche sich äuſsert in der
unpartheiischen Ruhe der Darstellung,
und in dem
befriedigten Gefühl, welches ihre Betrachtung zurückläſst. Kann er die
streitenden Personen
und Schicksale untereinander vereinigen, so hat er seine Herr⸗195
schaft über sie und was dasselbe ist sein
Kunstvermögen bewiesen. — In den Roma⸗
nen
der Frau von Stael ist das Schwanken eines männlichen Herzens zwischen
einer
weiblichen und einer geistreichen Frau die
immerwiederkehrende, die Lieblings-⸗
Crise. Das
Hauptgewicht fällt noch immer auf Seiten der geistreichen Frau, weil
„von sich selbst der Mensch nicht lassen kann“, aber
mit steigender Liebe werden 200
die weiblichen Frauen
behandelt, immer mehrere von den kleinen Gewichten fallen
in ihre Schale: man vergleiche nur die Gegnerin der
Delphine mit der Lucile. Eben
so hat in der Opposition zwischen Neigung und
Pflicht, das Aussehn der Pflicht, wie⸗
wohl es noch immer zu trocken
und tyrannisch erscheint, und deshalb die Neigung
und nicht die Tugend zu verklären dient, dennoch viel an
Menschlichkeit gewonnen. 205
Unverkennbar aber ist die groſse
Revolution, welche in dem Gemüthe der Ver⸗
fasserinn seit
Vollendung der Delphine vorgegangen. An
künstlerischer Ganzheit
stehn alle einzelne Personen
in der Corinna denen der Delphine nach: Oswald vor
allen andern wird zu hundert verschiedenen Malen, mitten in der
Darstellung, ganz
von neuem und nach einem immer
wieder abweichenden Plane gezeichnet; er ist 210
der
zusammengesetzte König aus Göthe’s Mährchen. Wie unerträglich aber und mon⸗
strös wir ihn finden mögen, die Unruhe
der Dichterinn in dieser Darstellung eines
männlichen Characters, des höchsten Problems, welches ihr
aufgelegt
auferlegt
werden kann,
ist überaus
merkwürdig
merkwürdig.
[emendiert zu ›merkwürdig.‹ ohne den üblichen
Hinweis in einer Fuſsnote.]
Es ist, als wäre sie mit neuen Elementen des
Lebens be⸗
kannt geworden; als wäre sie in eine gröſsere Schule
gekommen. Der Tod ihres Va⸗215
ters
allein erklärt die gewaltige Veränderung nicht: irren wir uns nicht, — —
so
hat sie Deutschland in diesen Tagen zuerst kennen
gelernt.
Quellenangabe für Zitat:
https://kleist-digital.de/phoebus/02/04 [ + Angabe von Zeile / Vers oder Seite ], 23.11.2024
Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)
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