(Textwiedergabe nach Erstdruck.)
Alle Textversionen sind inhaltlich identisch und folgen dem angegebenen Textzeugen.
Die
Fassung Erstdruck/Textzeuge zeigt die zeichengenaue Wiedergabe des Textzeugen. Nur offensichtliche Fehler sind emendiert. Alle Emendationen sind im Apparat verzeichnet. Der originale Zeilenfall ist beibehalten. Die Fassung wird auf Smartphones wegen der Zeilenlänge nicht angezeigt.
In der Textversion ohne originalen Zeilenfall wird der Zeilenfall mit einem Schrägstrich / angezeigt, die Zeile wird aber nicht umbrochen. Ansonsten folgt sie der angegebenen Textquelle.
In der Textversion ohne ſ, aͤ, oͤ, uͤ sind zusätzlich das lange ſ und historische Umlautformen der heutigen Orthographie angepasst.
Wir können für den Zweck, den wir uns vorgesetzt, die einzelnen menschlichen /Gestalten, die das Leben, die Gesellschaft, die Geschäfte an uns vorüberführen, in /drei groſse, leicht zu unterscheidende Classen abtheilen. Die Naturen der einen Gat/tung sind monolog; sie sprechen und lehren, ohne selbst wieder zu hören, oder /ohne eigentlich eines Hörers zu bedürfen, die ganze Welt wird von ihnen abgehandelt, /ohne je behandelt zu werden; wenn man den Spuren der gesellschaftlichen Langen/weile nachgeht, wird man meistentheils als Veranlassung auf eine dogmatische Crea/tur der Art stoſsen, die aus der fröhlichen, reichen, sonnigen Natur nichts weiter zu / 10 machen weiſs, als einen Catheder für ihre finstre, einsame Weisheit. Um ihre Stirne /spielt vergebens in tausend Farben die Poesie und alle Lebenslust: sie wissen von /nichts als von weiſs und schwarz, und nur wo etwa ihre Eitelkeit schmeichelnd er/griffen wird, meldet sich einiges Gehör bei ihnen: der schmeichelnde Widersprecher /wird als Curiosität, als zu den sonderbaren Spielarten der Natur gehörig, abgefertigt, /und der Faden der Behauptungen wieder angeknüpft ohne Ende. Die zweite Gattung /möchte ich aus den dialogischen Naturen bilden: ein leichtblütigeres, lockeres /Geschlecht: ohne ferneren Wunsch, die Welt weiter zu fördern, übt es sich, der /Thorheit und der Weisheit gleich faſslich und mundrecht zu sprechen. Diesen viel/fragenden, wiſsbegierigen Wesen ist jeder andre in seiner Art, wie sie sich aus/ 20 zudrücken pflegen, der wahre und rechte, wie sie denn auch den Triumph ihrer /Umgänglichkeit und Beweglichkeit darin setzen, sich in die Welt zu schicken, und /die Menschen zu nehmen, wie sie sind. Das allzuernste, allzubestimmte, be/sonders die recht characteristischen Exemplare der ersten Gattung mit ihren Behaup/tungen und Abhandlungen widerstehn ihnen, und sie haben eine Virtuosität darin, /jene in sich selbst zu verwickeln oder sie inmitten des Vortrags im Stich zu lassen. /In sich etwas entwickeln, sich durch die Einsamkeit zu erheben und auszuweiten für /umfassende Geschäfte oder lang nachklingende Werke ist ihre Sache nicht: was der /Augenblick erwirbt, muſs der Augenblick verzehren; wie der Gedanke sich meldet, /muſs er gesagt werden und ergreifen. Daher ihre Geselligkeit, ihre Unschädlichkeit, / 30 ihre zierliche Unruhe, ihre Flüchtigkeit, ihre Entzündbarkeit; daher die Gemein/sprüche meistentheils von ihrer Seite herklingen: alles in der Welt ist relativ, jede /Sache hat zwei Seiten, es kommt auf den Standpunct an, aus dem man die Dinge /betrachtet. /
Über diesen beiden Gattungen, in ihrer Mitte, oder wie wir wollen, erhebt sich /eine dritte, seltene und unvergleichliche: möge sie einstweilen die dramatische /heiſsen. Gleich weit entfernt von der Versteinerung der monologischen, und von der /Zerschmolzenheit der dialogischen Naturen, dennoch fester als Stein, flüssiger und /42beweglicher als Wasser: der Einsamkeit der ersteren und der Vielsamkeit der letzte/ren auf gleiche Weise abgeneigt und dennoch allein, eigenthümlich zugleich, und / 40 durch das ganze Reich des Lebendigen verbreitet, allgegenwärtig möchte ich sagen, /wenn ich des Shakespear gedenke — so stehn und wandeln sie weder blos auſser /aller Zeit, und abstrahirend von aller Zeit wie jene Prediger in der Wüste, noch bloſs /in ihrer Zeit, wie die in der zweiten Gattung beschriebenen farben- und tonreichen, /federleichten, gesprächigen Seelen. /
Ihr Gespräch, oder soll ich es Rede nennen, denn es ist beides, verweilt weder /blos, noch bewegt es sich blos: es ist lehrreich und nachgiebig, tief und leicht, ernst /und spielend zugleich, und wenn die monologischen Naturen zurückschrecken, die /dialogischen hingegen verführen, so zwingen und reizen die dramatischen, dahin, /wohin man gern folgt und wo man auch ewig bleiben kann. — Für das am dritten / 50 höheren Orte hier aufgestellte Ideal vereinigen vereingen sich unbedingt alle Stimmen der Leser /um so mehr, da die Ideale des dramatischen Dichters, des Schauspielers und des Men/schen, darin aneinandergeknüpft, in einem Bilde erscheinen: des Menschen, sage ich, /auf den ich, wie auf die dramatische Poesie und Kunst, durch die Überschrift nicht /erst besonders eingeladen habe, weil er, von dessen Lebenskunst alle anderen Künste /nur einzelne Glieder sind, sich selbst ohnehin nie vergessen darf. — /
Das Interesse, welches wir alle bei dramatischen Vorstellungen empfinden, möchte /sich aufs natürlichste nach unserm erwähnten Eintheilungsgrunde, unter dreierlei /Gestalten betrachten lassen. Wir brauchen nur das monologische Interesse an der dra/ 60 matischen Poesie in’s Auge zu fassen, so ergeben sich die beiden andern Gestalten von /selbst: besonders dem weiblichen Character ist dieser monologische Antheil eigen. /Empfänglicher für das Mitleiden und zur Hingebung fähiger folgen die Frauen gar zu /leicht ausschlieſsend den Schicksalen eines Lieblingshelden, der unter den übrigen /Personen des Drama’s ihrer Neigung und dem Ideale in ihnen vornehmlich entspricht. /Der Dichter verlangt für sein ganzes Drama und jeden einzelnen Character darin ein /ungetheiltes Interesse: das reinere und zartere Urtheil der Frauen ganz besonders, /sei es Eitelkeit oder ächter Kunststolz in ihm, möchte er für sich und sein ganzes Werk / gewinnen; gewinnen dies wünscht er, möge noch mehr als der einzelne Held interessiren. /In den meisten Fällen wird indeſs nicht der Dichter, sondern sein Held mit der weib/ 70 lichen Gunst belohnt: hingerissen von der Schönheit des einzelnen Characters, unwil/lig über die vielen und harten Schläge des Schicksals, die der Dichter über seinen /Helden herführt, bange um die endliche Lösung des traurigen Knotens, versäumen /die Frauen oft die ganze schöne Umgebung des Helden, entschlossen sich lieber in /Thränen aufzulösen, als seine Feinde oder das ihn verfolgende Schicksal irgend eines /Antheils zu würdigen. — Ophelien, die einzige Erscheinung, die neben dem Ham/let sie [fehlt] zu interessiren vermochte, hat Wahnsinn und Tod schon verzehrt: allen An/43theil, der ihr geweiht seyn muſste, erbt Hamlet, der liebe, weiche, unentschlossene /Grübler; die Zuschauerinnen verfolgen ihn mit unverwandtem Blicke, sie möchten /lieber, daſs er sich nie entschlösse, nie die Rache für den ermordeten Vater ausführte; / 80 wie gern sähen sie ihn eingeschifft nach England und in Sicherheit. Aber der bösar/tige Dichter nöthigt ihn zur That. /
Wenn nun endlich die ganze Familie von Leichen auf dem Boden gestreckt daliegt /und der geliebte, blonde Schwärmer dahin ist, und der Dichter den Fortinbras kom/men, und kalt und gleichgültig vom ausgestorbenen verödeten Throne Besitz nehmen /läſst, — verläſst der Theil der Zuschauer, um dessen Beifall der Dichter am eifrigsten /buhlte, die Bühne unbefriedigt und mit zerrissenem Herzen. Wie wenn nun der /Dichter mehr ausdrücken wollte, als einen reizenden Jüngling, der nach hohem Ideale /des Lebens vergeblich ringt, und, weil dieses sich nicht ergreifen läſst, sich schauer/lich in Gedanken von Verbrechen, Wahnsinn und Tod vertieft: Wie wenn dem Dich/ 90 ter jene häſslichen Schlingen des Schicksals eben so werth wären, als der jugendliche /Held, der sich darin verwickelt: wie, wenn er am Schluſs mit der Aussicht auf eine /glückliche Regierung eines thronbesteigenden Hamlets nicht zufrieden wäre, wenn er /eine Aussicht in die Unendlichkeit, in das Universum der Schönheit grade dadurch er/öffnen wollte, daſs er den einzelnen Helden und die irdische Schönheit hinopfert, um /das Heldenthum und eine himmlische Schönheit siegreich zu erhöhen. Dann wäre er /dennoch zu rechtfertigen wegen der Angst, die er in schönen weiblichen Herzen ent/zündet. — Möge es also monologisches Interesse heiſsen, das den Hamlet lieber ent/führen, einzeln und allein herausheben möchte aus seiner ganzen Umgebung, ehe es /ihn für einen groſsen Gedanken untergehen läſst. Ich habe meine Beschuldigungen an / 100 Frauen gerichtet, um das Beispiel zu veredeln. Beim männlichen Geschlecht, so oft /es auch die hier beschriebene Schwäche für den Helden des Stücks theilen mag, /drückt sich der monologische Antheil noch auf eine andre minder reizende und mensch/liche, als characteristische Weise aus. /
Dieses Geschlecht nemlich von der Natur zum Erwerbe bestimmt, mag nicht /leicht einen Schritt ohne bestimmten Zweck und augenscheinlichen Nutzen thun. /Wenn es sich also in das Theater begiebt, so setzt es voraus, daſs der Dichter durch /sein Werk irgend eine wichtige und gemeinnützige Wahrheit wie an Beispielen erläu/tern werde, daſs der Dichter wirklich keine höhere Absicht haben könne, als irgend /eine Lebensregel oder Klugheitsmaxime gleichsam auf eine spielende Weise seinem / 110 Publicum beizubringen. Jede Sentenz, die der Dichter, Gott weiſs in welcher an/dern Absicht, seinen Personen in den Mund legt, wird gierig zum fernern Hausge/brauch bei Seite gesteckt. Zeigt sich am Ende, wie es sich denn oft trifft, daſs sich /aus dem Drama wichtige und neue Lehren ergeben, als z. B., daſs das Gute belohnt /und das Böse bestraft werden müsse, daſs alle Verbrechen endlich an den Tag kom/men, und deshalb die Tugend geübt zu werden verdiene u. s. f., so geht unser lern/begieriger Zuschauer mit dem handgreiflich herausgebrachten Nutzen zufrieden nach /44Hause. — Aus diesem trocknen und ich darf es wohl sagen, unedlen monologischen /Interesse an einem kalten Sittenspruch, dem zu Ehren der Dichter eine groſse, colos/sale, kleinen Herzen freilich zu überschwengliche Handlung in allen ihren unendli/ 120 chen Zügen und groſsartigen Wendungen über die Bühne führen soll, aus diesem In/teresse sind alle die alberne Fragen über den moralischen Nutzen des Theaters, und /das ganze Heer langweiliger Predigten über den Werth des Hausfriedens, über die /Schädlichkeit der Hazardspiele und des Schuldenmachens u. s. f., mit denen Ifland nun /schon seit zwanzig Jahren langweilt, entsprungen. Wenn der Dichter in andre Zei/ten, zu andern, gewaltigern Naturen hinreiſsend, erhebt, die Seele aus ihren alten, /engen Fugen herausdehnt, aus dem dumpfen Alltagsleben, aus unnatürlicher Verker/kerung des Gesichtskreises fortführt in eine freie schrankenlose Weite, hier eine Aus/sicht auf hohe Laufbahnen menschlicher Gröſse, dort eine andre in das unermeſsliche /Meer menschlicher Schicksale eröffnet, hier in die Tiefe der Brust mit erschütternder, / 130 fast vernichtender Allmacht greift, dort eine unergründliche Verwicklung erhabner /Leiden mit sanftem Finger leicht und natürlich löst — wenn ferner die Ideen, die /sich aus den tragischen Schauern wie aus dem Taumel der Fröhlichkeit erzeugen, end/lich wie ein einziger Sternenhimmel den weiten Horizont umspannen, wenn der /Held, gleichsam die Sonne des Drama’s, welche die ganze reiche Gegend beleuchtete, /nun untergegangen ist; wenn jede der einzelnen Ideen, die das Drama erweckt, nach /dem Fallen des Vorhangs, wie ein einzelnes Gestirn zurückbleibt, und alle diese /Gestirne deuten auf die unsichtbare, einfache, heilige Nothwendigkeit, die diesen /groſsen Schauplatz des Lebens mit dem Gedanken der Schönheit beseelt — wenn also /die Seele von dem Geiste des Drama’s erfüllt ist, dann laſst die Krämer kommen, mit / 140 ihren öconomischen Fragen, was wohl der Dichter mit seinem Werke habe sagen /wollen, welchen philosophischen Satz beweisen, welche historische Begebenheit in /ihr gehöriges Licht setzen, welche Thorheit bestrafen, welchen sitten- und weltver/bessernden Plan an’s Herz legen — welches reine Gemüth wird dann nicht von diesem /monologischen und monotonen Interesse verletzt werden. /
Das Drama hat zwei nothwendige Bestandtheile: ich nannte sie den Monolog und /den Dialog: eine Handlung, ein Held erscheint in mannichfaltigen Situatio/nen, im bunten, wechselnden Verkehr mit sehr verschiedenartigen Naturen. Man /sieht eine Handlung, hört ein Wort, einen heiligen Gedanken durch das ganze / 150 Drama hindurchklingen (monologisches Element des Drama) behält auch einen einzi/gen tiefen und einfachen Eindruck zurück; und dennoch sieht man auch wieder viele /Handlungen, vernimmt sehr verschieden gestaltete Worte und das Spiel unendlicher, /kreuzender Gedanken (dialogisches Element des Drama). Der wahre Zuschauer hat /ein Auge für beides: er sieht nicht blos die einzelnen Scenen, die in raschem Wech/sel auf den Flügeln des Dialogs vor ihm hinschweben, er sieht aber auch nicht blos /den einen Gedanken, den einen Helden, den der Dichter hat darstellen wollen. Er /45interessirt sich so gut für das veränderliche als für das bleibende; er interessirt sich so /gut für die Johanna von Orleans und ihren heiligen Entschluſs, den König zu retten /und zu krönen, als für alle die groſsen Charactere und Begebenheiten, die sich der / 160 heldenmüthigen Jungfrau bald mit Waffen des Arms, bald mit Waffen des Reizes und der /Schönheit in den Weg stellen. Das ist der wahre Zuschauer: diesen nennen wir den /dramatischen Zuschauer, weil er mit dem Kunstwerke beschäftigt ist, und in /demselben lebt, grade eben so, wie der dramatische Dichter, der es hervorgebracht. /
Die beiden Arten der Einseitigkeit in Behandlung der Welt, des Menschen, der/ Wissenschaften und des Drama’s, die wir oben durch den Unterschied des monolo/gischen und dialogischen erläuterten, treten nirgends deutlicher an den Tag, /als in der von allen Dramen, Romanen, Novellen und Sonnetten, besonders der /neuern Welt gefeierten Handlung par exellence, der Liebe nemlich. Die Art der / 170 Liebe, welche sich in ihren Gegenstand versenkt und verliert, die ihn sich so nahe /vor die Augen treten läſst, daſs er ihr die ganze übrige Welt mit ihren Reizen und /Heiligthümern verbirgt, verdient gewiſs den Namen der monologischen Liebe. /In der natürlichen Ordnung der Dinge ist die steigende Anhänglichkeit zu einem schö/nen Gegenstande, nichts weiter als die wachsende Erkenntniſs seiner Schönheit und /seines ungewöhnlichen Glanzes; da pflegt er denn der umgebenden Welt von seinem /Schimmer mitzutheilen, in manche dunkle verborgene Stelle des Herzens wie des Le/bens Licht zu verbreiten, der Genuſs seiner Gegenwart erhebt alle Fähigkeit, die /übrige Gegenwart zu genieſsen, und giebt erst das Bewuſstsein vom Reichthume und /der unendlichen Fülle des Lebens überhaupt. Nicht so die monologische Liebe! Ob / 180 sie nun vom ungewöhnlichen Glanze so geblendet ist, oder ob sie nur eines und im/mer nur eines zu tragen, zu halten, zu lieben weiſs, genug sie vergeht, sie zerrinnt /wie Semele vor dem erscheinenden Jupiter: die übrige Welt erscheint ihr schaal, trüb /und abgeschmackt: damit das eine geliebte Bild nur recht vergöttert werde, mag /nicht blos sondern muſs die ganze Natur in Staub zerfallen. Bleiben vielleicht noch /Empfänglichkeit und Reize für anderweites Schöne und Groſse in dem Liebenden nach /monologischer Manier zurück, so macht er sich vielleicht eine tolle Gewissenspflicht /daraus, die Empfänglichkeit dafür als eine Art von Untreue zu unterdrücken, wo sie /sich meldet: Zwang, meint er, Casteiungen, Selbstpeinigungen, die dem geliebten /Gegenstand um so widriger erscheinen müssen, die um so sicherere Beweise der er/ 190 storbenen Liebe sind, je gröſser das Verdienst und die Überwindung des Selbstpeini/gers ist — dies wähnt er, seien Opfer, die man dem Schönen auf Erden bringen /müsse. Was aber diesen monologischen Liebhaber mehr als alles andre characterisirt, /ist der seltsame Umstand, daſs, wenn wir es recht betrachten, zu seiner Liebe der /Besitz seines Gegenstandes gar nicht eben nothwendig ist. Er begnügt sich mit Anbe/tung aus der Ferne und oft hat er es mit einer Composition idealisirter Züge zu thun, /46die der ganzen Welt ähnlich sehen mag, nur dem einen nicht, dem zu Ehren er die /ganze Welt vergiſst und vernichtet. — /
Erfolgt die Gegenliebe nicht, so steht es schlimm — erfolgt sie, so steht es auch /nicht besser, denn nun wird alles einzelne, dem Gegenstande angedichtete gesucht / 200 und nicht nur nicht, sondern ganz anders gefunden: ein Zug des voreilig abge/faſsten Ideals nach dem andern muſs ausgelöscht werden, weil nun einmal die Wirk/lichkeit eine Widersprecherin ist; aber an das Ganze wird demungeachtet immerfort /noch geglaubt — und so entsteht das ganze Heer von Qualen, und Verwicklungen, /die ein Kind auflösen könnte und die den Liebenden unauflöslich wie gordische Kno/ten erscheinen. Der ruhige Zeuge eines Gesprächs zwischen denen auf solche Weise /an einander gerathenen, wird die Wahrheit meiner Bezeichnung fühlen: jeder von /beiden spricht im Grunde für sich, hält einen Monolog an sein Ideal, in den die Wor/te des andern ihm gegenüberstehenden Monologs ungeschickt hineinstolpern und so /viel ihrer sind, miſsverstanden werden: die beiden unglücklichen Seelen bannen sich / 210 durch diese gegenseitigen Zauberformeln immer fester; der Dialog, den sie eigentlich /wollen, der zarte, bewegliche Geist der Liebe entweicht mehr und mehr, und einer /oder der andre sehnt sich vielleicht gar nach der Zeit zurück, wo er ohne Gegenliebe, /d. h. recht seinem Charakter gemäſs liebte. /
Lassen Sie uns betrachten, wie der monologische Dichter mit seiner Gelieb/ten, mit der Natur umzugehen pflegt. Dieser scheint freilich minder einseitig, /weil er tausend einzelne Schönheiten im Reiche der Natur und Kunst sammelt, und /aus ihnen sein s. g. Ideal der schönen Natur bildet: aber betrachten wir ihn näher, /so werden wir inne werden, wie bald auch er geneigt ist, das was ihm einmal als / 220 schön vorgekommen ist, auf eine unkünstlerische Weise festzuhalten. Recht im Cha/racter eines orientalischen Despoten organisirt er die Welt um sich her nach einer Art /von Faroritensystem: In der freien unendlich schönen Natur sucht er seine Lieblings/plätzchen aus: Tivoli, Vauclüse: nach Italien geht sein Streben; Lorbeern, Pinien /müssen es seyn — die nordischen Tannen werden nicht mehr angesehn. Ferner hat /er seine s. g. Lieblingsdichter; wer das monotone, einsylbige und doch so weichliche /Herz nicht zu berühren vermag, der kann und soll gar kein Dichter seyn. Hiernächst /hat er seine Lieblingshelden in der Geschichte; die allzu unbändigen und über/schwenglichen, werden als Barbaren bei Seite gesetzt. Endlich hat er auch seine /Lieblingsbeschäftigung und diese ist dann eben das Dichten, eben diese unglückli/ 230 che monologische, sentimentale Liebe der Natur, die durch die Sprache ans Licht /soll. — Auf Reisen, im Umgang mit den Lieblingsdichtern, wo der junge Poet seine /Geliebte wie aus der Ferne anbetete, da ward die Liebe noch genährt von der einzigen /Kost die ihr bereitet ist, von der Hoffnung der Gegenliebe — da ahndete ihr noch nicht /daſs sie dereinst die Wolke statt der Juno ergreifen würde. Nun soll der erhabene /Umgang mit dem Ideal, oder der Muse, oder wie sie heissen mag, wirklich angehen; /47es soll mit ihr gesprochen werden und sie soll antworten, aber da will sich kein /Wort in das andre fügen und eingreifen: wir haben doch ihr zu gefallen die ganze /Welt verachtet, alles übrige ausser ihr rein vernichtet oder mit Ekelnamen bei Seite/ gesetzt als, z. B. rauhe, gefühllose Wirklichkeit, traurige Schranken des conventio/ 240 nellen oder Geschäfts-Lebens, elende Sorge um Brod und Familie. Trotz alle dem /schweigt sie und gebehrdet sich bei unsern Versen zu ihrem Lobe, wie bei einem /Monolog den wir an uns selbst hielten. So löst sich die monologische Leidenschaft /zur Kunst endlich auf in dumpfe Hoffnungslosigkeit, in dieselbe an der monologi/schen Liebe dargestellte Selbstpeinigung, die sich anfänglich noch auszuschütten ver/mag in harmonischen Klagen über die entflohenen Ideale, endlich aber welkt und mit /ihrem Eigner dahin stirbt. Ich brauche nicht die Namen der vielen jungen und hoff/nungsvollen deutschen Dichter zu nennen, die auf diese Weise für die höhere Kunst /verlohren gegangen. Bemerken wir nur für den gegenwärtigen Zweck, wie haupt/sächlich die lyrische Poesie, in den ersten Tagen solcher unglücklichen Leidenschaft / 250 für die Muse, wo Hoffnung und Erinnerung noch rege sind, sich am willfährigsten /zeigt, und die jungen, nachher (wie man das höhere von ihnen erwartete) ausge/storbenen Dichter, noch im Stande waren, uns mit sapphischen Oden wenigstens, /mit Liedern, Elegien und dann neuerdings besonders mit Sonnetten zu bedienen. An /dramatische Poesie dachten sie kaum. — Unsre groſsen Dichter selbst, unter ihnen /vornehmlich Schiller, hatten auch in früheren Jahren eine ähnliche unglückliche Lei/denschaft für die Muse, unglücklich nenne ich sie trotz dem reizenden und verfüh/rerischen Klange ihrer damaligen Klagen, aber wie bald ward sie bei Schiller von reli/giösem Streben nach dem Ideale verdrängt, und blieb blos als Erinnerung, als wohlthä/tiges Glied in der Bildungsgeschichte des Dichters zurück. Auch ihm kam es einst / 260 vor als seien die Ideale zerronnen: möge jedes groſse Talent solche Klage so würdig /und schweigend zurücknehmen, als er es durch die Bildung seines Wallenstein /gethan. Innrer, durch einzelnes Miſslingen nicht zu zerstörender Drang nach der dra/matischen Poesie, wie Schillers, ist das sicherste Kennzeichen wahren poetischen /Strebens. So viel von monologischer Liebe im Leben und in der Kunst. Wir können /ihr nachrufen: sie solle das Leben nicht allzu ernsthaft nehmen, sie soll das schöne /und gute, was sie in einzelnen Momenten ergriffen, nicht voreilig als einzig schönes /und gutes ergreifen. Auch das Spiel verlange seine Rechte neben dem Ernst. — Jenen /dialogischen Naturen hingegen, die aus leichtsinnigem Schwanken von einer Schönheit /zur andern, aus raschem unstäten Genuſs des Lebens und der Kunst, aus der Freude / 270 am Neuen und an den unendlichen Veränderungen der Welt ihren Beruf machen, die /ohne festen Wohnsitz für ihr Herz, ohne Auszeichnung für irgend ein besonderes /Schöne, jedem huldigen, was sie beschäftigt und allenthalben ihre Rechnung finden — /diesen immer spielenden, gleichsam demokratischen Naturen, möchten wir wieder ei/nen gewissen monarchischen Ernst empfehlen. Vielleicht finden sie sowohl, als die /monologischen, sich mit allem, was ihnen werth ist, in verklärter Gestalt in der dra/matischen Natur wieder. /
48Es könnte mir vorgeworfen werden, daſs in der bisherigen Darstellung das mono/logische Interesse am Leben, am Drama und an[BKA] emendiert ›an‹ aus ›au‹. Im Druckbild handelt es sich doch eher um ein korrektes ›n‹, dessen Druckerschwärze papierbedingt verlaufen ist. Dieses Ausreiſsen der Buchstabenkonturen ist eine generell zu beobachtende Erscheinung des Phöbusdruck, so dass an verschiedenen Stellen ein ›n‹ wie ein ›u‹ und umgekehrt erscheint. Zur Beurteilung dieses Befundes eignet sich der Reprint von 1924 [Phöbus-Reprint:1924] übrigens besser als der von Sembdner herausgebene von 1961 [Phöbus-Reprint:1961]. einzelnen Personen, einer ganz beson/dern Aufmerksamkeit gewürdigt worden sei, das dialogische Interesse hingegen nur / 280 leicht und im Vorübergehn berührt. Indeſs hängt der deutsche Character vornehm/lich nach der monologischen Seite hinüber: geneigt, zu einförmigem Umgange mit sich /selbst und nicht eben tief in der Treue, aber ängstlich und scrupulös darin, rechtfer/tigt er zu leicht eine ungesellige Härte seiner Natur, und sein ganzes monologisches /Wesen mit dem Grundsatze der Beharrlichkeit. Die wahre höhere Treue schlieſst das /ins unendliche fortgesetzte Aneignen aller Schönheit, alles neuen und wahren nicht /aus: weil wir festhalten wollen, was wir einmal erworben, so werden wir deshalb /warlich nicht aufgeben, immer neues zu erwerben. /
Betrachten wir das dramatische Interesse zuerst ohne alle weitere Anwendung auf / 290 Leben und Kunst, an einer theatralischen Darstellung, und versetzen wir uns gemein/schaftlich vor irgend eine deutsche Bühne, die Göthes Egmont zu geben im Begriff ist. /
Der Schauspieldirektor, der auf ein monologisches Publicum, nicht aber eben auf /unsern Besuch gefaſst ist, hat die Rollen Egmonts und Klärchens mit besonderer Aus/wahl besetzt, die zwischen beiden vorfallenden Scenen mit vorzüglicher Aufmerksam/keit probirt, und so erscheint uns diese an und für sich schöne und graziöse Neben/handlung ungebührlich heraus gehoben auf dem verworrenen Hintergrunde, in dem die /rebellischen Niederländer und der teuflische Alba ihr Wesen treiben. Die ernste Ama/zone, Margarethe von Parma, wenn sie nicht gar wegen unnützer Verzögerung des /Stücks ganz herausgeworfen wird, sagt die Stellen, in denen sich leise Spuren einer / 300 unterdrückten Leidenschaft für Egmont finden, ihrem Publicum zu gefallen, mit ei/nem besonders anzüglichen Accent: und so wird dieses erhabene Wesen, in dem sich /die angeerbte Herrschsucht, die kluge Kälte ihrer Vorfahren und Menschlichkeit und /Weiblichkeit auf eine so eigne Weise berühren — sie wird herabgewürdigt zu einer /Würze für Egmonts geheime Liebschaft. Alba, der Thürsteher der alten Welt, Engel /des Todes für alle Verächter des Königs und der Kirche, die Treue selbst in ihrem /Übergange zur Versteinerung: was spricht er vom Throne, von Gesetzen und Frei/heiten in dem unausstehlich lang gedehnten Gespräch mit Egmont am Schlusse des /vierten Acts; wir wollen wissen, was aus Egmont und Klärchen wird. Wir kennen /den Bösewicht schon: er hat gestern den Amtmann in den Jägern gespielt: die Präsi/ 310 denten und vornehmen Verbrecher aller Art sind sein Fach; von dem ist nichts Gutes /zu erwarten: Halt! er fordert Egmont seinen Degen ab und der Vorhang fällt. /
Nun entstehn im Publicum vielfache Vermuthungen über den fünften Act: im /Ganzen ist man darin einig, daſs wahrscheinlich, was auch schon Egmont vermuthet /habe, der König Philipp plötzlich ankommen werde, die Unschuld Egmonts erkennen, /den Bösewicht Alba entlarven und stürzen und daſs dann die Sache zwischen Klärchen /49und Egmont auf irgend eine annehmliche Weise, auch zur Zufriedenheit des armen / Brackenburg Müller erinnert hier falsch: nicht ›Brankenburg‹ sondern ›Brackenburg‹ heiſst der Bürgersohn in Goethes ›Egmont‹. arrangirt werden, und dergestalt jedem sein Recht widerfahren werde. /Nichts von allem erfolgt: der König bleibt aus, Alba selbst erscheint nicht wieder, von /dem doch wenigstens einige Gewissensbisse als Satisfaction zu erwarten waren. Klär/ 320 chen stirbt an Gift, Egmont auf dem Schafot und das Publicum geht murrend aus/einander. Von den derben, irdischen Gerichtshöfen in Ifland’s und Kotzebue’s Kotzbue’s fünf/ten Acten, wo das Laster mit Verachtung bestraft und die Tugend mit Pensionen und /Avancement belohnt wird — keine Spur. Der Prozeſs wird an einen höheren, himm/lischen Gerichtshof verwiesen. /
Dieser himmlische Gerichtshof alles schönen und groſsen, vor dem das juristisch /zu rechtfertigende und das öconomisch-nützliche und brauchbare nur eine schwache /Stimme hat; vor dem Egmont, Alba und Klärchen gehört werden, wie der Schneider /Jetter, Vansen und Brackenburg: dieser himmlische Gerichtshof ist es, den das wahre, /dramatische Interesse im Auge hat. Die poetische Gerechtigkeit, die der Dichter und / 330 der Zuschauer gewähren müssen, ist die, daſs der eine ein bis in seine kleinsten Theile /zusammenhängendes, einfaches Ganzes gebe, und daſs der andre es als solches em/pfange. Damit es ein Ganzes sein könne, muſs das Drama einen Mittelpunct haben, /(in unserm Beispiele den Helden: Egmont) auf den sich alles übrige bezieht, gleich/sam eine goldne Axe, um die sich das ganze schöne Werk herbewege: einer darin /muſs ruhig bleiben, immer von neuem erinnern, daſs sich um ihn, wie um den /Grundton des Werks, die ganze harmonische Welt bewege: nur so, durch Betrach/tung und Gefühl der Bewegung und des Fortschreitens, in denen allein die Schönheit /zu erscheinen vermag, wird der Zuschauer in dieselbe harmonische Bewegung fort/gerissen, die nicht nachlaſst, obwohl das Werk endlich den irdischen Augen ver/ 340 schwindet. Der Held ist dann freilich dahin, aber das Heldengefühl harmonischen /Ergreifens chaotischer Zustände und unstäter, roher Massen zu einem erfreulichen und /segensreichen Ganzen ist zurückgeblieben, und um dieses Heldengefühl allein ist /Egmont uns werth geworden. Die Axt, die den Egmont der Bühne trifft, schneidet /jenen freilich von uns ab, aber er selbst ist erneuert und erhöht in unserm Herzen; /dem Pantheon der Schönheit in unserm Gemüth, den edelsten, begeisterndsten Erin/nerungen unsers Lebens beigefügt, so in den seiner würdigsten Tempel gesetzt und /die höchste Gerechtigkeit vollzogen. So erscheint hier in veredelter Gestalt innerhalb /des dramatischen Interesse der rechte Antheil an dem Helden wieder, den wir vorher /in der einseitigen monologischen Form verurtheilen muſsten. / 350
Aber nicht Egmont allein ist in unserm Herzen verklärt: Untersuchen wir /jetzt, wie das dialogische Interesse an dem Wechsel der Erscheinungen sich in dem /dramatischen Interesse geläutert wieder erkennt, wie der französische Zuschauer mit /seiner Todesangst vor dem ennui, der die Liebe in ihren tausend wechselnden Farben /verlangt, und der deutsche monologische Zuschauer mit seinem Sinn für die Treue, /mit seiner Scheu vor aller Ungerechtigkeit und Kränkung seines Helden in der höhern /50dramatischen Sphäre, wenn sie sich nur bequemen wollen, beide ihre Rechnung fin/den. Egmont stand nicht da, wie die Axe eines Mühlrades, dieselben Speichen und /Schaufeln, dieselben groſsen Gesinnungen und Handlungsweisen in todter Einförmig/keit um sich her drehend, sondern wie die Axe eines Weltkörpers, die muntre Bewe/ 360 gung eines freien Volkes, den Zwiespalt der Partheien, Oraniens sinnende Klugheit, /Alba’s Härte, Klärchens kindliche Unschuld und Margarethes Melancholie, mit sich /und dicht in sein Leben verwebt an uns vorüberführend. — Mannichfaltige Naturen /treten in Verhältnisse zum Helden, stellen sich ihm entgegen, stehen ihm bei: sollte /nun nicht das, was durch seinen Beitritt oder seine Herausforderung alle groſse Hand/lungen im Helden veranlaſst, das, wodurch er erst zum Helden wird, eben so viel /werth sein, als er, eben den Antheil verdienen. So wandelte dann der Held als /steigender Monolog durch die fünf Acte hin; aber dieser Monolog lebt und wirkt und /entwickelt sich in dem durch immer neue Gestalten angefrischten Dialog: eines ohne /das andre wäre nichts; als höchstens die Form eines einseitigen, unkünstlerischen / 370 Lebens. /
In den gewöhnlichen Mittheilungen des Lebens zeigt sich ganz dasselbe: entweder /wird monologisch um das Rechthaben, um den Sieg dieser oder jener Meinung, /um den Triumph dieses oder jenes Helden, dieser oder jener Parthei gestritten; oder /dialogisch, wo hinüber und herüber künstlich und zierlich mit Worten gespielt, /mit Sophismen gewechselt und völlig gleichgültig gegen irgend ein Resultat, die Lust /des Sprechens an sich, und der wunderlichen, zeitverkürzenden Sprünge gewandter /Köpfe genossen wird. — In dem ächten dramatischen Gespräch hingegen mag /immerhin der Streit um den Sieg einer einzelnen Sache beginnen: unter den Händen / 380 der kunstreichen Redner wächst aber allmählig diese Sache, wie der Held im fort/schreitenden Drama. Es läuft nicht darauf hinaus, daſs endlich eine der beiden strei/tenden Partheien zum Stillschweigen gebracht sei, und die andre den gewonnenen /Satz beistecke und nach Hause gehe: es läuft auch nicht darauf hinaus, daſs beide wie /nach dialogischem Gespräch in wohlthätige Schwingung und Seelenmotion versetzt /sich trennen. Sondern wachsend über alle persönliche Schranken der ersten Erschei/nung hinaus reinigt sich, läutert sich der Gegenstand des dramatischen Gesprächs zu /einer Art von Schutzgott des edelgeführten Streits, der jeden Streiter mit eigenthüm/lichem Kranze belohnt, beide einander nähert, sie gegenseitig verständigt und mildert, /sie erinnert, daſs der Streit wohl ein unendlicher sei, daſs aber er, der Schutzgott / 390 des Streits, die gemeinschaftlich erstrittene Idee, oder wie wir ihn sonst nennen mö/gen, in immer schönerer Gestalt dabei zugegen sein, an welcher Stelle sie sich wie/der treffen möchten, sie schon erwarten werde. /
Guter Ton mag es immerhin sein, sich in guter Gesellschaft auf keinen Gegen/stand zu fixiren und zu appesantiren, und keine Materie zu approfondiren, im reizen/51den, reizenden geflügelten Dialog an der Oberfläche gleichgültiger Seelen nur so hinzugleiten, und /wie im Eiertanz den Ernst, die Strenge, die Tiefe und den ennui auf gleiche Weise /zu vermeiden: schlechter Ton mag es sein, immer nur Recht haben zu wollen, /und wo sich die Gelegenheit zeigt, sogleich mit Reden, Abhandlungen, Monologen /und schneidenden Urtheilen aufzuwarten; aber schöner Ton verdient nur die dra/ 400 matische Form einer Gesellschaft zu heiſsen, die Form, die wir am dramatischen Ge/spräch beschrieben haben, und bei der der Genius präsidirt. Carricaturen dieses Ge/nius, dieses Geistes der Gesellschaft, finden sich auch da, wo der gute und der schlech/te Ton herrscht: in der guten Gesellschaft ist es die s. g. Dezenz und der gute Ge/schmack; in der schlechten Gesellschaft ist es Recht und Gerechtigkeit, oder Conve/nienz, Respect vor dem Alter, Rang und Stand. Der Schutzgeist des schönen Tons /vermeidet weder blos das Unanständige, noch ist er ein bloser kalter Rechtsprecher: /er gestattet einzelnen Helden, einzelnen groſsen Angelegenheiten von Welt und Zeit /nicht blos das Wort, er ruft sie vielmehr herbei, belebt alle, selbst die unbedeutende/ren Seelen, daſs sie in ihrer Art mitwirken, eingreifen, auch durch ihre ärmere Ei/ 410 genthümlichkeit den Gegenstand gestalten helfen, und wenn dieser auch endlich die /Hauptzüge von den Helden der Gesellschaft an sich trägt, so findet doch jeder schwä/chere darin wieder, womit er ihn bereichert, jeder fühlt, daſs er wesentlich zu dem /schönen Ganzen gehörte, und beugt sich um so williger vor den Helden, als mit ihrer /Erhebung auch die Theilnehmer ihres Verdienstes geadelt werden. Ein Gefühl, eine /Ahndung des höhern ist es, was die schöne Gesellschaft zurücklassen muſs: keine /bloſse, kalte Bewunderung der ausgezeichnetsten Glieder: diese sind nur die höheren /Sprossen der Leiter, auf der das Ganze zu einem reineren, freiern Dasein hinaufge/tragen wird. Die schöne Gesellschaft hat einen monarchischen Anfang: einzelne Mit/glieder ragen hervor, imponiren: sobald aber ihr Leben um sich greift, wird alles / 420 durchdrungen von der Lust, sich anzuschlieſsen, mitzusteigen, und so wird gegen das /Ende hin das ganze Wesen immer republikanischer, bis sich alles in eine einzige ge/meinschaftliche schöne Empfindung auflöſst, und jeder einzelne seine eigne Kraft und /die Gleichheit Aller vor dem Schönen und Guten fühlt. — So auch im Drama: an/fangs ragt in der langsamer schreitenden Handlung der Held allein hervor: die stillern /Charactere haben Zeit, sich zu entwickeln, bis sie ihre Kraft fühlen und wie Titanen /gegen den Jupiter anrennen: alles fängt nun republikanisch an zu gelten, die Handlun/gen, die Begebenheiten drängen sich, bis der Held siegt oder untergeht. Es ist besser, /er falle: daſs er der Fluth der Begebenheiten unterliegt, schändet ihn nicht: und es /ist wesentlich, daſs den schwächeren selbst die Möglichkeit der Abgötterei mit seiner / 430 Person abgeschnitten werde, und daſs in allen Gemüthern zurückbleibe — allein — /der Gedanke des ewigen Friedens der Natur, erhoben durch das Schauspiel eines recht /heldenmüthigen Streites. — Der Hauptprüfstein des dramatischen Interesse vor der /Bühne ist, daſs der Held und seine Gegner gleich wichtig erscheinen, kurz, daſs man /fähig sei, in dem ganzen Drama, nicht blos in einzelnen begünstigten Personen, oder /in den mit einem monologischen Kunstnamen s. g. schönen Stellen zu leben; /52daſs man nicht verlange am Ende, weder daſs der Held Recht behalte und gerochen /werde, wenn ihm Unrecht geschehn, noch daſs die beiden Liebenden aneinander ge/bracht werden, sondern daſs man zufrieden sei mit der Erhebung zu höhern Ideen der /Kunst, d. h. des Lebens, dessen Blüthe die Kunst ist. / 440
Das Wesen des Dramatischen wäre demnach characterisirt: in der Gesellschaft, /in aller Mittheilung überhaupt, in der wahrhaften und edlen Anhänglichkeit an be/stimmte Personen, im ächten Antheil an den Darstellungen der wirklichen Bühne ha/ben wir es wieder gefunden und so zuförderst die Welt selbst auf die Schaubühne ge/stellt, oder daſs ich es bescheidener ausdrücke, das Publicum mit seinen einseitigen /Gliedern gleichsam von der Bühne aus betrachtet. Manche Verbindungen mit entfern/ter liegenden Regionen sind angeknüpft angeknüft und jetzt, da uns die Mauern des Theaters /nicht mehr ganz hoffnungslos von der übrigen Welt trennen, da das wirkliche Leben /mit dem idealischen Treiben des Theaters in Beziehung gebracht, und ein freier wei/ter Standpunct gewonnen ist, jetzt darf ich einladen, mit mir vom Parterre aus die / 450 Bühne zu betrachten.
(Die Fortsetzung folgt.)/
Quellenangabe für Zitat:
https://kleist-digital.de/phoebus/01/07 [ + Angabe von Zeile / Vers oder Seite ], 24.11.2024
279an[BKA] emendiert ›an‹ aus ›au‹. Im Druckbild handelt es sich doch eher um ein korrektes ›n‹, dessen Druckerschwärze papierbedingt verlaufen ist. Dieses Ausreiſsen der Buchstabenkonturen ist eine generell zu beobachtende Erscheinung des Phöbusdruck, so dass an verschiedenen Stellen ein ›n‹ wie ein ›u‹ und umgekehrt erscheint. Zur Beurteilung dieses Befundes eignet sich der Reprint von 1924 [Phöbus-Reprint:1924] übrigens besser als der von Sembdner herausgebene von 1961 [Phöbus-Reprint:1961].
318 Brankenburg Müller erinnert hier falsch: nicht ›Brankenburg‹ sondern ›Brackenburg‹ heiſst der Bürgersohn in Goethes ›Egmont‹.
Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)
Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.