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Wir können für den Zweck, den
wir uns vorgesetzt, die einzelnen menschlichen
Gestalten, die das Leben, die Gesellschaft,
die Geschäfte an uns vorüberführen, in
drei
groſse, leicht zu unterscheidende Classen abtheilen. Die
Naturen der einen Gat⸗5
tung sind monolog; sie sprechen und
lehren, ohne selbst wieder zu hören, oder
ohne eigentlich eines Hörers zu bedürfen, die ganze Welt
wird von ihnen abgehandelt,
ohne je
behandelt zu werden; wenn man den Spuren der
gesellschaftlichen Langen⸗
weile
nachgeht, wird man meistentheils als Veranlassung auf eine
dogmatische Crea⸗
tur der Art stoſsen, die aus
der fröhlichen, reichen, sonnigen Natur nichts weiter zu 10
machen weiſs, als einen Catheder für ihre
finstre, einsame Weisheit. Um ihre
Stirne
spielt vergebens in tausend Farben
die Poesie und alle Lebenslust: sie wissen von
nichts als von weiſs und schwarz, und nur wo
etwa ihre Eitelkeit schmeichelnd er⸗
griffen
wird, meldet sich einiges Gehör bei ihnen: der schmeichelnde
Widersprecher
wird als Curiosität, als zu
den sonderbaren Spielarten der Natur gehörig, abgefertigt, 15
und der Faden der Behauptungen wieder
angeknüpft ohne Ende. Die zweite
Gattung
möchte ich aus den dialogischen Naturen
bilden: ein leichtblütigeres, lockeres
Geschlecht: ohne ferneren Wunsch, die Welt weiter zu
fördern, übt es sich, der
Thorheit und der
Weisheit gleich faſslich und mundrecht zu sprechen. Diesen
viel⸗
fragenden, wiſsbegierigen
Wesen ist jeder andre in
seiner Art, wie sie sich aus⸗20
zudrücken pflegen, der wahre und rechte,
wie sie denn auch den Triumph ihrer
Umgänglichkeit und Beweglichkeit darin setzen, sich in die
Welt zu schicken, und
die Menschen zu nehmen, wie sie sind.
Das allzuernste, allzubestimmte, be⸗
sonders
die recht characteristischen Exemplare der ersten Gattung mit
ihren Behaup⸗
tungen und Abhandlungen
widerstehn ihnen, und sie haben eine Virtuosität darin, 25
jene in sich selbst zu verwickeln oder sie
inmitten des Vortrags im Stich zu lassen.
In sich etwas
entwickeln, sich durch die Einsamkeit zu erheben und
auszuweiten für
umfassende Geschäfte oder
lang nachklingende Werke ist ihre Sache nicht: was der
Augenblick erwirbt, muſs der Augenblick
verzehren; wie der Gedanke sich meldet,
muſs
er gesagt werden und ergreifen. Daher ihre Geselligkeit, ihre Unschädlichkeit, 30
ihre zierliche Unruhe, ihre Flüchtigkeit,
ihre Entzündbarkeit; daher die Gemein⸗
sprüche meistentheils von ihrer Seite
herklingen: alles in der Welt ist relativ, jede
Sache hat zwei Seiten, es kommt auf den
Standpunct an, aus dem man die Dinge
betrachtet.
Über diesen beiden
Gattungen, in ihrer
Mitte,.
Mitte,
oder wie wir wollen, erhebt sich 35
eine
dritte, seltene und unvergleichliche: möge sie einstweilen die
dramatische
heiſsen. Gleich
weit entfernt von der Versteinerung der monologischen, und von
der
Zerschmolzenheit der dialogischen
Naturen, dennoch fester als Stein, flüssiger und
42beweglicher als
Wasser: der Einsamkeit der ersteren und der Vielsamkeit der
letzte⸗
ren auf gleiche Weise
abgeneigt und dennoch allein, eigenthümlich zugleich, und 40
durch das ganze Reich des Lebendigen
verbreitet, allgegenwärtig möchte ich sagen,
wenn ich des Shakespear gedenke — so stehn und wandeln sie
weder blos auſser
aller Zeit, und
abstrahirend von aller Zeit wie jene Prediger in der Wüste,
noch bloſs
in ihrer Zeit, wie die in der
zweiten Gattung beschriebenen farben- und tonreichen,
federleichten, gesprächigen Seelen. 45
Ihr Gespräch, oder soll
ich es Rede nennen, denn es ist beides, verweilt weder
blos, noch bewegt es sich blos: es ist
lehrreich und nachgiebig, tief und leicht, ernst
und spielend zugleich, und wenn die
monologischen Naturen zurückschrecken, die
dialogischen hingegen verführen, so zwingen und reizen die
dramatischen, dahin,
wohin man gern folgt
und wo man auch ewig bleiben kann. — Für das am dritten 50
höheren Orte hier
aufgestellte Ideal
vereinigen
vereingen
sich unbedingt alle Stimmen der Leser
um so mehr, da die Ideale des dramatischen Dichters, des
Schauspielers und des Men⸗
schen, darin
aneinandergeknüpft, in einem Bilde erscheinen: des Menschen,
sage ich,
auf den ich, wie auf die
dramatische Poesie und Kunst, durch die Überschrift nicht
erst besonders eingeladen habe, weil er,
von dessen Lebenskunst alle anderen Künste 55
nur einzelne Glieder sind, sich selbst ohnehin nie vergessen
darf. —
Das Interesse, welches
wir alle bei dramatischen Vorstellungen empfinden, möchte
sich aufs natürlichste nach unserm
erwähnten Eintheilungsgrunde, unter dreierlei
Gestalten betrachten lassen. Wir brauchen nur das monologische
Interesse an der dra⸗60
matischen
Poesie in’s
Auge zu fassen, so ergeben sich die beiden andern Gestalten
von
selbst: besonders dem weiblichen
Character ist dieser monologische Antheil eigen.
Empfänglicher für das
Mitleiden und zur Hingebung fähiger folgen die Frauen gar zu
leicht ausschlieſsend den Schicksalen
eines Lieblingshelden, der unter den übrigen
Personen des Drama’s ihrer Neigung und dem Ideale in ihnen
vornehmlich entspricht. 65
Der Dichter
verlangt für sein ganzes Drama und jeden einzelnen Character
darin ein
ungetheiltes Interesse: das
reinere und zartere Urtheil der Frauen ganz besonders,
sei es Eitelkeit oder ächter Kunststolz in
ihm, möchte er für sich und sein ganzes Werk
gewinnnen;
gewinnen;
gewinnen
dies wünscht er, möge
noch mehr als der einzelne Held interessiren.
In den meisten Fällen
wird indeſs nicht der Dichter, sondern sein Held mit der
weib⸗70
lichen Gunst belohnt:
hingerissen von der Schönheit des einzelnen Characters,
unwil⸗
lig über die vielen und
harten Schläge des Schicksals, die der Dichter über seinen
Helden herführt, bange um die endliche
Lösung des traurigen Knotens, versäumen
die
Frauen oft die ganze schöne Umgebung des Helden, entschlossen
sich lieber in
Thränen aufzulösen, als
seine Feinde oder das ihn verfolgende Schicksal irgend eines
75
Antheils zu würdigen. — Ophelien, die einzige Erscheinung, die
neben dem Ham⸗
let
sie
[fehlt]
zu interessiren vermochte, hat Wahnsinn und Tod schon
verzehrt: allen An⸗
43theil, der ihr
geweiht seyn muſste, erbt Hamlet, der liebe, weiche,
unentschlossene
Grübler; die Zuschauerinnen
verfolgen ihn mit unverwandtem Blicke, sie möchten
lieber, daſs er sich nie entschlösse, nie
die Rache für den ermordeten Vater ausführte; 80
wie gern sähen sie ihn eingeschifft nach
England und in Sicherheit. Aber der
bösar⸗
tige Dichter nöthigt ihn
zur That.
Wenn nun endlich die
ganze Familie von Leichen auf dem Boden gestreckt daliegt
und der geliebte, blonde Schwärmer dahin
ist, und der Dichter den Fortinbras kom⸗
men, und
kalt und gleichgültig vom ausgestorbenen verödeten Throne
Besitz nehmen 85
läſst, — verläſst der Theil der
Zuschauer, um dessen Beifall der Dichter am eifrigsten
buhlte, die Bühne unbefriedigt und mit
zerrissenem Herzen. Wie wenn nun
der
Dichter mehr ausdrücken wollte, als
einen reizenden Jüngling, der nach hohem Ideale
des Lebens vergeblich ringt, und, weil
dieses sich nicht ergreifen läſst, sich schauer⸗
lich in Gedanken von Verbrechen,
Wahnsinn und Tod vertieft: Wie wenn dem Dich⸗90
ter jene häſslichen Schlingen des
Schicksals eben so werth wären, als der jugendliche
Held, der sich darin verwickelt: wie, wenn
er am Schluſs mit der Aussicht auf eine
glückliche Regierung eines thronbesteigenden Hamlets nicht
zufrieden wäre, wenn er
eine Aussicht in
die Unendlichkeit, in das Universum der Schönheit grade
dadurch er⸗
öffnen wollte, daſs er den
einzelnen Helden und die irdische Schönheit hinopfert, um 95
das Heldenthum und eine himmlische
Schönheit siegreich zu erhöhen. Dann wäre er
dennoch zu rechtfertigen
wegen der Angst, die er in schönen weiblichen Herzen ent⸗
zündet. — Möge es also monologisches Interesse heiſsen, das den Hamlet
lieber ent⸗
führen, einzeln und allein
herausheben möchte aus seiner ganzen Umgebung, ehe es
ihn für einen groſsen Gedanken untergehen
läſst. Ich habe meine
Beschuldigungen an 100
Frauen gerichtet, um
das Beispiel zu veredeln. Beim
männlichen Geschlecht, so oft
es auch die
hier beschriebene Schwäche für den Helden des Stücks theilen
mag,
drückt sich der monologische Antheil
noch auf eine andre minder reizende und mensch⸗
liche, als characteristische Weise
aus.
Dieses Geschlecht
nemlich von der Natur zum Erwerbe bestimmt, mag nicht 105
leicht einen Schritt ohne bestimmten Zweck
und augenscheinlichen Nutzen thun.
Wenn es sich also in das Theater begiebt,
so setzt es voraus, daſs der Dichter durch
sein Werk irgend eine wichtige und gemeinnützige Wahrheit
wie an Beispielen erläu⸗
tern werde, daſs
der Dichter wirklich keine höhere Absicht haben könne, als
irgend
eine Lebensregel oder
Klugheitsmaxime gleichsam auf eine spielende Weise seinem 110
Publicum beizubringen. Jede Sentenz, die der Dichter, Gott weiſs
in welcher an⸗
dern Absicht, seinen Personen
in den Mund legt, wird gierig zum fernern Hausge⸗
brauch bei Seite gesteckt. Zeigt sich am Ende, wie es sich denn oft
trifft, daſs sich
aus dem Drama wichtige
und neue Lehren ergeben, als z. B., daſs das Gute belohnt
und das Böse bestraft werden müsse, daſs
alle Verbrechen endlich an den Tag kom⸗115
men, und
deshalb die Tugend geübt zu werden verdiene u. s. f., so geht
unser lern⸗
begieriger Zuschauer mit
dem handgreiflich herausgebrachten Nutzen zufrieden nach
44Hause. — Aus diesem trocknen und ich darf es wohl
sagen, unedlen monologischen
Interesse an
einem kalten Sittenspruch, dem zu Ehren der Dichter eine
groſse, colos⸗
sale, kleinen Herzen
freilich zu überschwengliche Handlung in allen ihren
unendli⸗120
chen Zügen und
groſsartigen Wendungen über die Bühne führen soll, aus diesem
In⸗
teresse sind alle die alberne
Fragen über den moralischen Nutzen des Theaters, und
das ganze Heer langweiliger Predigten über
den Werth des Hausfriedens, über die
Schädlichkeit der Hazardspiele und des Schuldenmachens u. s.
f., mit denen Ifland nun
schon seit
zwanzig Jahren langweilt, entsprungen. Wenn der Dichter in andre Zei⸗125
ten, zu andern, gewaltigern Naturen
hinreiſsend, erhebt, die Seele aus ihren alten,
engen Fugen herausdehnt, aus dem dumpfen
Alltagsleben, aus unnatürlicher Verker⸗
kerung des Gesichtskreises fortführt in
eine freie schrankenlose Weite, hier eine Aus⸗
sicht auf hohe Laufbahnen menschlicher
Gröſse, dort eine andre in das unermeſsliche
Meer menschlicher Schicksale eröffnet, hier in die Tiefe der
Brust mit erschütternder, 130
fast
vernichtender Allmacht greift, dort eine unergründliche
Verwicklung erhabner
Leiden mit sanftem
Finger leicht und natürlich löst — wenn ferner die Ideen, die
sich aus den tragischen Schauern wie
aus dem Taumel der Fröhlichkeit erzeugen, end⸗
lich wie ein einziger Sternenhimmel den
weiten Horizont umspannen, wenn der
Held,
gleichsam die Sonne des Drama’s, welche die ganze reiche
Gegend beleuchtete, 135
nun untergegangen ist;
wenn jede der einzelnen Ideen, die das Drama erweckt, nach
dem Fallen des Vorhangs, wie ein einzelnes
Gestirn zurückbleibt, und alle diese
Gestirne deuten auf die unsichtbare, einfache, heilige
Nothwendigkeit, die diesen
groſsen
Schauplatz des Lebens mit dem Gedanken der Schönheit beseelt —
wenn also
die Seele von dem Geiste des
Drama’s erfüllt ist, dann laſst die Krämer kommen, mit 140
ihren öconomischen Fragen, was wohl der
Dichter mit seinem Werke habe sagen
wollen, welchen philosophischen Satz beweisen, welche
historische Begebenheit in
ihr gehöriges
Licht setzen, welche Thorheit bestrafen, welchen sitten- und
weltver⸗
bessernden Plan an’s
Herz legen — welches reine Gemüth wird dann nicht von diesem
monologischen und monotonen Interesse
verletzt werden. 145
Das Drama hat zwei
nothwendige Bestandtheile: ich nannte sie den Monolog und
den Dialog: eine Handlung, ein Held erscheint in mannichfaltigen
Situatio⸗
nen, im bunten, wechselnden Verkehr mit
sehr verschiedenartigen Naturen. Man
sieht
eine Handlung, hört
ein Wort, einen heiligen Gedanken
durch das ganze 150
Drama hindurchklingen
(monologisches Element des Drama) behält auch einen
einzi⸗
gen tiefen und einfachen
Eindruck zurück; und dennoch sieht man auch wieder viele
Handlungen, vernimmt sehr verschieden
gestaltete Worte und das Spiel unendlicher,
kreuzender Gedanken (dialogisches Element des Drama). Der wahre Zuschauer hat
ein Auge für beides: er sieht nicht blos die einzelnen
Scenen, die in raschem Wech⸗155
sel auf den
Flügeln des Dialogs vor ihm hinschweben, er sieht aber auch
nicht blos
den einen Gedanken, den einen
Helden, den der Dichter hat darstellen wollen. Er
45interessirt sich so gut für das veränderliche als für das
bleibende; er interessirt sich so
gut für
die Johanna von Orleans und ihren heiligen Entschluſs, den
König zu retten
und zu krönen, als für
alle die groſsen Charactere und Begebenheiten, die sich der 160
heldenmüthigen Jungfrau bald mit Waffen
des Arms, bald mit Waffen des Reizes und der
Schönheit in den Weg stellen. Das ist der wahre Zuschauer: diesen nennen
wir den
dramatischen Zuschauer, weil er mit dem Kunstwerke
beschäftigt ist, und in
demselben lebt,
grade eben so, wie der dramatische Dichter, der es
hervorgebracht.
Die beiden Arten der
Einseitigkeit in Behandlung der Welt, des Menschen, der
Wissenschaften und des Drama’s, die wir
oben durch den Unterschied des monolo⸗
gischen und dialogischen erläuterten,
treten nirgends deutlicher an den Tag,
als
in der von allen Dramen, Romanen, Novellen und Sonnetten,
besonders der
neuern Welt gefeierten
Handlung par exellence, der Liebe nemlich. Die Art
der 170
Liebe, welche sich in ihren Gegenstand
versenkt und verliert, die ihn sich so nahe
vor die Augen treten läſst, daſs er ihr die ganze übrige Welt
mit ihren Reizen und
Heiligthümern
verbirgt, verdient gewiſs den Namen der monologischen Liebe.
In der
natürlichen Ordnung der Dinge ist die steigende Anhänglichkeit
zu einem schö⸗
nen Gegenstande, nichts
weiter als die wachsende Erkenntniſs seiner Schönheit und 175
seines ungewöhnlichen Glanzes; da pflegt
er denn der umgebenden Welt von seinem
Schimmer mitzutheilen, in manche dunkle verborgene Stelle
des Herzens wie des Le⸗
bens Licht zu verbreiten, der
Genuſs seiner Gegenwart
erhebt alle Fähigkeit, die
übrige
Gegenwart zu genieſsen, und giebt erst das Bewuſstsein vom
Reichthume und
der unendlichen Fülle des
Lebens überhaupt. Nicht so die
monologische Liebe! Ob 180
sie nun vom ungewöhnlichen Glanze so
geblendet ist, oder ob sie nur eines und im⸗
mer nur eines zu tragen, zu halten, zu
lieben weiſs, genug sie vergeht, sie zerrinnt
wie Semele vor dem erscheinenden Jupiter:
die übrige Welt erscheint ihr schaal, trüb
und abgeschmackt: damit das eine geliebte Bild nur recht
vergöttert werde, mag
nicht blos sondern
muſs die ganze Natur
in Staub zerfallen. Bleiben
vielleicht noch 185
Empfänglichkeit und Reize
für anderweites Schöne und Groſse in dem Liebenden nach
monologischer Manier zurück, so macht er
sich vielleicht eine tolle Gewissenspflicht
daraus, die Empfänglichkeit dafür als eine Art von Untreue
zu unterdrücken, wo sie
sich meldet:
Zwang, meint er, Casteiungen, Selbstpeinigungen, die dem
geliebten
Gegenstand um so widriger
erscheinen müssen, die um so sicherere Beweise der er⸗190
storbenen Liebe sind, je gröſser das
Verdienst und die Überwindung des Selbstpeini⸗
gers ist — dies wähnt er, seien
Opfer, die man dem Schönen auf Erden bringen
müsse. Was aber
diesen monologischen Liebhaber mehr als alles andre
characterisirt,
ist der seltsame Umstand,
daſs, wenn wir es recht betrachten, zu seiner Liebe der
Besitz seines Gegenstandes gar nicht eben
nothwendig ist. Er begnügt sich mit
Anbe⸗195
tung aus der Ferne und oft
hat er es mit einer Composition idealisirter Züge zu thun,
46die der ganzen Welt
ähnlich sehen mag, nur dem einen nicht, dem zu Ehren er die
ganze Welt vergiſst und vernichtet. —
Erfolgt die Gegenliebe
nicht, so steht es schlimm — erfolgt sie, so steht es auch
nicht besser, denn nun wird alles
einzelne, dem Gegenstande angedichtete gesucht 200
und nicht nur nicht, sondern ganz anders gefunden: ein
Zug des voreilig abge⸗
faſsten Ideals
nach dem andern muſs ausgelöscht werden, weil nun einmal die
Wirk⸗
lichkeit eine
Widersprecherin ist; aber an das Ganze wird demungeachtet
immerfort
noch geglaubt — und so entsteht
das ganze Heer von Qualen, und Verwicklungen,
die ein Kind auflösen könnte und die den
Liebenden unauflöslich wie gordische Kno⸗205
ten
erscheinen. Der ruhige Zeuge eines
Gesprächs zwischen denen auf solche Weise
an einander gerathenen, wird die Wahrheit meiner Bezeichnung
fühlen: jeder von
beiden spricht im Grunde
für sich, hält einen Monolog an sein Ideal, in den die
Wor⸗
te des andern ihm gegenüberstehenden
Monologs ungeschickt hineinstolpern und so
viel ihrer sind, miſsverstanden werden: die beiden
unglücklichen Seelen bannen sich 210
durch
diese gegenseitigen Zauberformeln immer fester; der Dialog,
den sie eigentlich
wollen, der zarte,
bewegliche Geist der Liebe entweicht mehr und mehr, und einer
oder der andre sehnt sich vielleicht
gar nach der Zeit zurück, wo er ohne Gegenliebe,
d. h. recht seinem Charakter gemäſs liebte.
Lassen Sie uns
betrachten, wie der monologische Dichter mit seiner
Gelieb⸗
ten, mit der Natur umzugehen
pflegt. Dieser scheint freilich
minder einseitig,
weil er tausend einzelne
Schönheiten im Reiche der Natur und Kunst sammelt, und
aus ihnen sein s. g. Ideal der schönen
Natur bildet: aber betrachten wir ihn näher,
so werden wir inne werden, wie bald auch
er geneigt ist, das was ihm einmal als 220
schön vorgekommen ist, auf eine unkünstlerische Weise
festzuhalten. Recht im Cha⸗
racter eines orientalischen Despoten
organisirt er die Welt um sich her nach einer Art
von Faroritensystem: In der freien
unendlich schönen Natur sucht er seine Lieblings⸗
plätzchen aus: Tivoli, Vauclüse:
nach Italien geht sein Streben; Lorbeern, Pinien
müssen es seyn — die nordischen Tannen
werden nicht mehr angesehn. Ferner
hat 225
er seine s. g. Lieblingsdichter; wer
das monotone, einsylbige und doch so weichliche
Herz nicht zu berühren vermag, der kann
und soll gar kein Dichter seyn.
Hiernächst
hat er seine
Lieblingshelden in der Geschichte; die allzu unbändigen und
über⸗
schwenglichen, werden als
Barbaren bei Seite gesetzt. Endlich
hat er auch seine
Lieblingsbeschäftigung
und diese ist dann eben das Dichten, eben diese unglückli⸗230
che
monologische, sentimentale Liebe der Natur, die durch die
Sprache ans Licht
soll. — Auf Reisen, im Umgang mit den
Lieblingsdichtern, wo der junge Poet seine
Geliebte wie aus der Ferne anbetete, da ward die Liebe noch
genährt von der einzigen
Kost die ihr
bereitet ist, von der Hoffnung der Gegenliebe — da ahndete ihr
noch nicht
daſs sie dereinst die Wolke
statt der Juno ergreifen würde. Nun
soll der erhabene 235
Umgang mit dem Ideal,
oder der Muse, oder wie sie heissen mag, wirklich angehen;
47es soll mit ihr
gesprochen werden und sie soll antworten, aber da will sich
kein
Wort in das andre fügen und
eingreifen: wir haben doch ihr zu gefallen die ganze
Welt verachtet, alles übrige ausser ihr
rein vernichtet oder mit Ekelnamen bei Seite
gesetzt als, z. B. rauhe, gefühllose Wirklichkeit, traurige
Schranken des conventio⸗240
nellen
oder Geschäfts-Lebens, elende Sorge um Brod und Familie.
Trotz alle dem
schweigt sie und gebehrdet sich bei unsern Versen zu ihrem
Lobe, wie bei einem
Monolog den wir an uns
selbst hielten. So löst sich die
monologische Leidenschaft
zur Kunst
endlich auf in dumpfe Hoffnungslosigkeit, in dieselbe an der
monologi⸗
schen Liebe
dargestellte Selbstpeinigung, die sich anfänglich noch
auszuschütten ver⸗245
mag in harmonischen Klagen
über die entflohenen Ideale, endlich aber welkt und mit
ihrem Eigner dahin stirbt. Ich brauche nicht die Namen der vielen
jungen und hoff⸗
nungsvollen deutschen
Dichter zu nennen, die auf diese Weise für die höhere Kunst
verlohren gegangen. Bemerken wir nur für den gegenwärtigen
Zweck, wie haupt⸗
sächlich die lyrische
Poesie, in den ersten Tagen solcher unglücklichen Leidenschaft
250
für die Muse, wo Hoffnung und
Erinnerung noch rege sind, sich am willfährigsten
zeigt, und die jungen, nachher (wie man
das höhere von ihnen erwartete) ausge⸗
storbenen Dichter, noch im Stande
waren, uns mit sapphischen Oden wenigstens,
mit Liedern, Elegien und dann neuerdings besonders mit
Sonnetten zu bedienen. An
dramatische
Poesie dachten sie kaum. — Unsre
groſsen Dichter selbst, unter ihnen 255
vornehmlich Schiller, hatten auch in früheren Jahren eine
ähnliche unglückliche Lei⸗
denschaft
für die Muse, unglücklich nenne ich sie trotz dem reizenden
und verfüh⸗
rerischen Klange ihrer
damaligen Klagen, aber wie bald ward sie bei Schiller von
reli⸗
giösem Streben nach dem
Ideale verdrängt, und blieb blos als Erinnerung, als
wohlthä⸗
tiges Glied in der
Bildungsgeschichte des Dichters zurück. Auch ihm kam es einst 260
vor als seien die Ideale zerronnen: möge jedes groſse Talent
solche Klage so würdig
und schweigend
zurücknehmen, als er es durch die Bildung seines Wallenstein
gethan. Innrer,
durch einzelnes Miſslingen nicht zu zerstörender Drang nach der
dra⸗
matischen Poesie, wie
Schillers, ist das sicherste Kennzeichen wahren poetischen
Strebens. So
viel von monologischer Liebe im Leben und in der Kunst. Wir
können 265
ihr nachrufen: sie solle das Leben
nicht allzu ernsthaft nehmen, sie soll das schöne
und gute, was sie in einzelnen Momenten
ergriffen, nicht voreilig als einzig schönes
und gutes ergreifen. Auch das Spiel verlange seine Rechte neben
dem Ernst. — Jenen
dialogischen Naturen hingegen, die aus
leichtsinnigem Schwanken von einer Schönheit
zur andern, aus raschem unstäten Genuſs des
Lebens und der Kunst, aus der Freude 270
am
Neuen und an den unendlichen Veränderungen der Welt ihren
Beruf machen, die
ohne festen Wohnsitz für
ihr Herz, ohne Auszeichnung für irgend ein besonderes
Schöne, jedem huldigen, was sie
beschäftigt und allenthalben ihre Rechnung finden —
diesen immer spielenden, gleichsam
demokratischen Naturen, möchten wir wieder ei⸗
nen gewissen monarchischen Ernst
empfehlen. Vielleicht finden sie sowohl, als die 275
monologischen, sich mit allem, was ihnen
werth ist, in verklärter Gestalt in der dra⸗
matischen Natur wieder.
Es könnte mir
vorgeworfen werden, daſs in der bisherigen Darstellung das
mono⸗
logische Interesse am
Leben, am Drama und an einzelnen
Personen, einer ganz beson⸗
dern
Aufmerksamkeit gewürdigt worden sei, das dialogische Interesse
hingegen nur 280
leicht und im Vorübergehn
berührt. Indeſs hängt der deutsche
Character vornehm⸗
lich nach der
monologischen Seite hinüber: geneigt, zu einförmigem Umgange
mit sich
selbst und nicht eben tief in der
Treue, aber ängstlich und scrupulös darin, rechtfer⸗
tigt er zu leicht eine ungesellige
Härte seiner Natur, und sein ganzes monologisches
Wesen mit dem Grundsatze der
Beharrlichkeit. Die wahre höhere
Treue schlieſst das 285
ins unendliche
fortgesetzte Aneignen aller Schönheit, alles neuen und wahren
nicht
aus: weil wir festhalten wollen, was
wir einmal erworben, so werden wir deshalb
warlich nicht aufgeben, immer neues zu erwerben.
Betrachten wir das
dramatische Interesse zuerst ohne alle weitere Anwendung auf
290
Leben und Kunst, an einer
theatralischen Darstellung, und versetzen wir uns gemein⸗
schaftlich vor irgend eine deutsche
Bühne, die Göthes Egmont zu geben im Begriff ist.
Der Schauspieldirektor,
der auf ein monologisches Publicum, nicht aber eben auf
unsern Besuch gefaſst ist, hat die Rollen
Egmonts und Klärchens mit besonderer Aus⸗
wahl
besetzt, die zwischen beiden vorfallenden Scenen mit
vorzüglicher Aufmerksam⸗295
keit
probirt, und so erscheint uns diese an und für sich schöne und
graziöse Neben⸗
handlung ungebührlich
heraus gehoben auf dem verworrenen Hintergrunde, in dem die
rebellischen Niederländer und der
teuflische Alba ihr Wesen treiben. Die ernste Ama⸗
zone, Margarethe von Parma, wenn sie
nicht gar wegen unnützer Verzögerung des
Stücks ganz herausgeworfen wird, sagt die Stellen, in denen
sich leise Spuren einer 300
unterdrückten
Leidenschaft für Egmont finden, ihrem Publicum zu gefallen,
mit ei⸗
nem besonders anzüglichen Accent: und so
wird dieses erhabene Wesen, in dem sich
die angeerbte Herrschsucht, die kluge Kälte ihrer Vorfahren
und Menschlichkeit und
Weiblichkeit auf
eine so eigne Weise berühren — sie wird herabgewürdigt zu
einer
Würze für Egmonts geheime
Liebschaft. Alba, der Thürsteher
der alten Welt, Engel 305
des Todes für alle
Verächter des Königs und der Kirche, die Treue selbst in ihrem
Übergange zur Versteinerung: was
spricht er vom Throne, von Gesetzen und Frei⸗
heiten in dem unausstehlich lang
gedehnten Gespräch mit Egmont am Schlusse des
vierten Acts; wir wollen wissen, was aus
Egmont und Klärchen wird. Wir
kennen
den Bösewicht schon: er hat gestern
den Amtmann in den Jägern gespielt: die Präsi⸗310
denten und vornehmen Verbrecher aller
Art sind sein Fach; von dem ist nichts Gutes
zu erwarten: Halt! er fordert Egmont
seinen Degen ab und der Vorhang fällt.
Nun entstehn im Publicum
vielfache Vermuthungen über den fünften Act: im
Ganzen ist man darin einig, daſs
wahrscheinlich, was auch schon Egmont vermuthet
habe, der König Philipp plötzlich ankommen
werde, die Unschuld Egmonts erkennen, 315
den
Bösewicht Alba entlarven und stürzen und daſs dann die Sache
zwischen Klärchen
49und Egmont
auf irgend eine annehmliche Weise, auch zur Zufriedenheit des
armen
Brankenburg
Brackenburg
arrangirt werden, und dergestalt jedem
sein Recht widerfahren werde.
Nichts von
allem erfolgt: der König bleibt aus, Alba selbst erscheint
nicht wieder, von
dem doch wenigstens
einige Gewissensbisse als Satisfaction zu erwarten waren.
Klär⸗320
chen stirbt an
Gift, Egmont auf dem Schafot und das Publicum geht murrend
aus⸗
einander. Von den derben,
irdischen Gerichtshöfen in Ifland’s und
Kotzebue’s
Kotzbue’s
fünf⸗
ten Acten, wo das Laster mit Verachtung
bestraft und die Tugend mit Pensionen und
Avancement belohnt wird — keine Spur. Der Prozeſs wird an einen höheren,
himm⸗
lischen Gerichtshof
verwiesen. 325
Dieser himmlische
Gerichtshof alles schönen und groſsen, vor dem das juristisch
zu rechtfertigende und das
öconomisch-nützliche und brauchbare nur eine schwache
Stimme hat; vor dem Egmont, Alba und
Klärchen gehört werden, wie der Schneider
Jetter, Vansen und
Brankenburg:
Brackenburg:
dieser himmlische Gerichtshof ist es, den das wahre,
dramatische Interesse im Auge hat.
Die poetische Gerechtigkeit, die
der Dichter und 330
der Zuschauer gewähren
müssen, ist die, daſs der eine ein bis in seine kleinsten
Theile
zusammenhängendes, einfaches Ganzes
gebe, und daſs der andre es als solches em⸗
pfange.
Damit es ein Ganzes sein könne, muſs
das Drama einen Mittelpunct haben,
(in
unserm Beispiele den Helden: Egmont) auf den sich alles übrige
bezieht, gleich⸗
sam eine goldne Axe, um
die sich das ganze
schone
schöne
Werk herbewege: einer darin 335
muſs
ruhig bleiben, immer von neuem erinnern, daſs sich um ihn, wie
um den
Grundton des Werks, die ganze
harmonische Welt bewege: nur so, durch Betrach⸗
tung und Gefühl der Bewegung und des
Fortschreitens, in denen allein die Schönheit
zu erscheinen vermag, wird der Zuschauer
in dieselbe harmonische Bewegung fort⸗
gerissen, die nicht nachlaſst, obwohl das
Werk endlich den irdischen Augen ver⸗340
schwindet. Der Held ist dann freilich
dahin, aber das Heldengefühl harmonischen
Ergreifens
chaotischer Zustände und unstäter, roher Massen zu einem
erfreulichen und
segensreichen Ganzen ist
zurückgeblieben, und um dieses Heldengefühl allein ist
Egmont uns werth geworden. Die Axt, die den Egmont der Bühne trifft,
schneidet
jenen freilich von uns ab, aber
er selbst ist erneuert und erhöht in unserm Herzen; 345
dem Pantheon der Schönheit in unserm
Gemüth, den edelsten, begeisterndsten Erin⸗
nerungen unsers Lebens beigefügt, so in
den seiner würdigsten Tempel gesetzt und
die höchste Gerechtigkeit vollzogen. So erscheint hier in veredelter Gestalt
innerhalb
des dramatischen Interesse der
rechte Antheil an dem Helden wieder, den wir vorher
in der einseitigen monologischen Form
verurtheilen muſsten. 350
Aber nicht Egmont allein ist in unserm
Herzen verklärt: Untersuchen wir
jetzt,
wie das dialogische Interesse an dem Wechsel der Erscheinungen
sich in dem
dramatischen Interesse
geläutert wieder erkennt, wie der französische Zuschauer mit
seiner Todesangst vor dem ennui, der
die Liebe in ihren tausend wechselnden Farben
verlangt, und der deutsche monologische
Zuschauer mit seinem Sinn für die Treue, 355
mit seiner Scheu vor aller Ungerechtigkeit und Kränkung
seines Helden in der höhern
50dramatischen Sphäre, wenn sie sich nur bequemen wollen,
beide ihre Rechnung fin⸗
den. Egmont stand nicht da, wie die Axe eines
Mühlrades, dieselben Speichen und
Schaufeln, dieselben groſsen Gesinnungen und Handlungsweisen
in todter Einförmig⸗
keit um sich her
drehend, sondern wie die Axe eines Weltkörpers, die muntre
Bewe⸗360
gung eines freien Volkes,
den Zwiespalt der Partheien, Oraniens sinnende Klugheit,
Alba’s Härte, Klärchens kindliche Unschuld
und Margarethes Melancholie, mit sich
und
dicht in sein Leben verwebt an uns vorüberführend. — Mannichfaltige Naturen
treten in Verhältnisse zum Helden, stellen sich ihm
entgegen, stehen ihm bei: sollte
nun nicht
das, was durch seinen Beitritt oder seine Herausforderung alle
groſse Hand⸗365
lungen im Helden veranlaſst,
das, wodurch er erst zum Helden wird, eben so viel
werth sein, als er, eben den Antheil
verdienen. So wandelte dann der
Held als
steigender Monolog durch die fünf
Acte hin; aber dieser Monolog lebt und wirkt und
entwickelt sich in dem durch immer neue
Gestalten angefrischten Dialog: eines ohne
das andre wäre nichts; als höchstens die Form eines
einseitigen, unkünstlerischen 370
Lebens.
In den gewöhnlichen
Mittheilungen des Lebens zeigt sich ganz dasselbe: entweder
wird monologisch um das Rechthaben, um den Sieg dieser
oder jener Meinung,
um den Triumph dieses
oder jenes Helden, dieser oder jener Parthei gestritten; oder
375
dialogisch, wo hinüber und herüber künstlich und
zierlich mit Worten gespielt,
mit
Sophismen gewechselt und völlig gleichgültig gegen irgend ein
Resultat, die Lust
des Sprechens an sich,
und der wunderlichen, zeitverkürzenden Sprünge gewandter
Köpfe genossen wird. — In dem ächten dramatischen Gespräch hingegen mag
immerhin der Streit um den Sieg einer
einzelnen Sache beginnen: unter den Händen 380
der kunstreichen Redner wächst aber allmählig diese Sache,
wie der Held im fort⸗
schreitenden Drama. Es läuft nicht darauf hinaus, daſs endlich
eine der beiden strei⸗
tenden
Partheien zum Stillschweigen gebracht sei, und die andre den
gewonnenen
Satz beistecke und nach Hause
gehe: es läuft auch nicht darauf hinaus, daſs beide wie
nach dialogischem Gespräch in wohlthätige
Schwingung und Seelenmotion versetzt 385
sich
trennen. Sondern wachsend über alle
persönliche Schranken der ersten Erschei⸗
nung
hinaus reinigt sich, läutert sich der Gegenstand des
dramatischen Gesprächs zu
einer Art von
Schutzgott des edelgeführten Streits, der jeden Streiter mit
eigenthüm⸗
lichem Kranze belohnt,
beide einander nähert, sie gegenseitig verständigt und
mildert,
sie erinnert, daſs der Streit wohl
ein unendlicher sei, daſs aber er, der Schutzgott 390
des Streits, die gemeinschaftlich
erstrittene Idee, oder wie wir ihn sonst nennen mö⸗
gen, in immer schönerer Gestalt dabei
zugegen sein, an welcher Stelle sie sich wie⸗
der treffen möchten, sie schon erwarten
werde.
Guter Ton mag es immerhin
sein, sich in guter Gesellschaft auf keinen Gegen⸗
stand zu fixiren und zu appesantiren,
und keine Materie zu approfondiren, im
reizen⸗395
51den,
reizenden
geflügelten
Dialog an der Oberfläche gleichgültiger Seelen nur so
hinzugleiten, und
wie im Eiertanz den
Ernst, die Strenge, die Tiefe und den ennui auf gleiche Weise
zu vermeiden: schlechter Ton mag es
sein, immer nur Recht haben zu wollen,
und
wo sich die Gelegenheit zeigt, sogleich mit Reden,
Abhandlungen, Monologen
und schneidenden
Urtheilen aufzuwarten; aber schöner Ton verdient nur die dra⸗400
matische Form einer Gesellschaft zu
heiſsen, die Form, die wir am dramatischen Ge⸗
spräch beschrieben haben, und bei der der
Genius präsidirt. Carricaturen
dieses Ge⸗
nius, dieses Geistes der Gesellschaft,
finden sich auch da, wo der gute und der schlech⸗
te Ton herrscht: in der guten
Gesellschaft ist es die s. g. Dezenz und der gute Ge⸗
schmack; in der schlechten Gesellschaft
ist es Recht und Gerechtigkeit, oder Conve⸗405
nienz, Respect vor dem Alter, Rang und
Stand. Der Schutzgeist des schönen
Tons
vermeidet weder blos das
Unanständige, noch ist er ein bloser kalter Rechtsprecher:
er gestattet einzelnen Helden, einzelnen
groſsen Angelegenheiten von Welt und Zeit
nicht blos das Wort, er ruft sie vielmehr herbei, belebt
alle, selbst die unbedeutende⸗
ren
Seelen, daſs sie in ihrer Art mitwirken, eingreifen, auch durch
ihre ärmere Ei⸗410
genthümlichkeit den Gegenstand gestalten
helfen, und wenn dieser auch endlich die
Hauptzüge von den Helden der Gesellschaft an sich trägt, so
findet doch jeder schwä⸗
chere darin
wieder, womit er ihn bereichert, jeder fühlt, daſs er
wesentlich zu dem
schönen Ganzen gehörte,
und beugt sich um so williger vor den Helden, als mit ihrer
Erhebung auch die Theilnehmer ihres
Verdienstes geadelt werden. Ein
Gefühl, eine 415
Ahndung des höhern ist es,
was die schöne Gesellschaft zurücklassen muſs: keine
bloſse, kalte Bewunderung der
ausgezeichnetsten Glieder: diese sind nur die höheren
Sprossen der Leiter, auf der das Ganze zu
einem reineren, freiern Dasein hinaufge⸗
tragen wird. Die schöne Gesellschaft hat einen monarchischen Anfang:
einzelne Mit⸗
glieder ragen hervor,
imponiren: sobald aber ihr Leben um sich greift, wird alles
420
durchdrungen von der Lust, sich
anzuschlieſsen, mitzusteigen, und so wird gegen das
Ende hin das ganze Wesen immer
republikanischer, bis sich alles in eine einzige ge⸗
meinschaftliche schöne
Empfindung auflöſst, und jeder einzelne seine eigne Kraft und
die Gleichheit Aller vor dem Schönen
und Guten fühlt. — So auch im Drama: an⸗
fangs ragt in der langsamer schreitenden
Handlung der Held allein hervor: die stillern 425
Charactere haben Zeit, sich zu entwickeln,
bis sie ihre Kraft fühlen und wie Titanen
gegen den Jupiter anrennen: alles fängt nun republikanisch
an zu gelten, die Handlun⸗
gen, die
Begebenheiten drängen sich, bis der Held siegt oder untergeht.
Es ist besser,
er falle: daſs er der Fluth der Begebenheiten unterliegt,
schändet ihn nicht: und es
ist wesentlich,
daſs den schwächeren selbst die Möglichkeit der Abgötterei mit
seiner 430
Person abgeschnitten werde, und daſs
in allen Gemüthern zurückbleibe — allein —
der Gedanke des ewigen Friedens der Natur, erhoben durch das
Schauspiel eines recht
heldenmüthigen
Streites. — Der Hauptprüfstein des
dramatischen Interesse vor der
Bühne ist,
daſs der Held und seine Gegner gleich wichtig erscheinen, kurz,
daſs man
fähig sei, in dem ganzen Drama,
nicht blos in einzelnen begünstigten Personen, oder 435
in den mit einem monologischen Kunstnamen
s. g. schönen Stellen zu
leben;
52daſs man nicht
verlange am Ende, weder daſs der Held Recht behalte und
gerochen
werde, wenn ihm Unrecht geschehn,
noch daſs die beiden Liebenden aneinander ge⸗
bracht werden, sondern daſs man zufrieden
sei mit der Erhebung zu höhern Ideen der
Kunst, d. h. des Lebens, dessen Blüthe die Kunst ist.
440
Das Wesen des
Dramatischen wäre demnach characterisirt: in der Gesellschaft,
in aller Mittheilung überhaupt, in der
wahrhaften und edlen Anhänglichkeit an be⸗
stimmte
Personen, im ächten Antheil an den Darstellungen der
wirklichen Bühne ha⸗
ben wir es wieder gefunden
und so zuförderst die Welt selbst auf die Schaubühne ge⸗
stellt, oder daſs ich es bescheidener
ausdrücke, das Publicum mit seinen einseitigen 445
Gliedern gleichsam von der Bühne aus
betrachtet. Manche Verbindungen mit
entfern⸗
ter liegenden Regionen
sind
angeknüpft
angeknüft
und jetzt, da uns die Mauern des Theaters
nicht mehr ganz hoffnungslos von der
übrigen Welt trennen, da das wirkliche Leben
mit dem idealischen Treiben des Theaters
in Beziehung gebracht, und ein freier wei⸗
ter
Standpunct gewonnen ist, jetzt darf ich einladen, mit mir vom
Parterre aus die 450
Bühne zu betrachten.
(Die Fortsetzung folgt.)
Quellenangabe für Zitat:
https://kleist-digital.de/phoebus/01/07 [ + Angabe von Zeile / Vers oder Seite ], 21.11.2024
279an[BKA] emendiert ›an‹ aus ›au‹. Im Druckbild handelt es sich doch eher um ein korrektes ›n‹, dessen Druckerschwärze papierbedingt verlaufen ist. Dieses Ausreiſsen der Buchstabenkonturen ist eine generell zu beobachtende Erscheinung des Phöbusdruck, so dass an verschiedenen Stellen ein ›n‹ wie ein ›u‹ und umgekehrt erscheint. Zur Beurteilung dieses Befundes eignet sich der Reprint von 1924 [Phöbus-Reprint:1924] übrigens besser als der von Sembdner herausgebene von 1961 [Phöbus-Reprint:1961].
318 Brankenburg Müller erinnert hier falsch: nicht ›Brankenburg‹ sondern ›Brackenburg‹ heiſst der Bürgersohn in Goethes ›Egmont‹.
Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)
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