Die Verlobung in St. Domingo.
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Die Verlobung in St.
Domingo.
Zu Port au Prince, auf dem
franzoͤſiſchen
Antheil der Inſel St. Domingo,
lebte, zu
Anfange dieſes Jahrhunderts, als die
Schwar⸗
zen die Weißen ermordeten, auf der
Pflan⸗5
zung des Hrn. Guillaume von Villeneuve,
ein fuͤrchterlicher alter Neger, Namens
Congo
Hoango. Dieſer
von der Goldkuͤſte von Afrika
herſtammende
Menſch, der in ſeiner Jugend
von treuer und
rechtſchaffener Gemuͤthsart 10
ſchien, war von
ſeinem Herrn, weil er ihm
einſt auf einer
Ueberfahrt nach Cuba das
Leben gerettet hatte,
mit unendlichen Wohl⸗
thaten uͤberhaͤuft worden.
Nicht nur, daß
Hr.
Guillaume ihm auf der Stelle ſeine Frei⸗15
heit
ſchenkte, und ihm, bei ſeiner Ruͤckkehr
nach
St. Domingo, Haus und Hof anwies;
Kleists Erzaͤhl. 2te S. A
2Faksimile er machte ihn ſogar, einige Jahre darauf,
gegen die Gewohnheit des Landes, zum Auf⸗
ſeher ſeiner betraͤchtlichen Beſitzung, und
legte 20
ihm, weil er nicht wieder heirathen
wollte,
an Weibes Statt eine alte Mulattinn,
Na⸗
mens Babekan, aus ſeiner Pflanzung bei,
mit welcher er durch ſeine erſte verſtorbene
Frau weitlaͤuftig verwandt war. Ja, als 25
der Neger ſein
ſechzigſtes Jahr erreicht hatte,
ſetzte er ihn
mit einem anſehnlichen Gehalt
in den Ruheſtand
und kroͤnte ſeine Wohltha⸗
ten noch damit, daß er ihm
in ſeinem Ver⸗
maͤchtniß ſogar ein Legat
auswarf; und doch 30
konnten alle dieſe Beweiſe
von Dankbarkeit
Hrn. Villeneuve vor der Wuth
dieſes grimmi⸗
gen Menſchen nicht ſchuͤtzen. Congo Hoango
war, bei dem
allgemeinen Taumel der Rache,
der auf die
unbeſonnenen Schritte des Na⸗35
tional-Convents in
dieſen Pflanzungen auf⸗
loderte, einer der Erſten, der
die Buͤchſe er⸗
griff, und, eingedenk der
Tyrannei, die ihn
ſeinem Vaterlande entriſſen
hatte, ſeinem
Herrn die Kugel durch den Kopf
jagte. Er 40
3Faksimile ſteckte das Haus, worein die Gemahlinn
des⸗
ſelben mit ihren drei Kindern und den
uͤbri⸗
gen Weißen der Niederlaſſung ſich
gefluͤchtet
hatte, in Brand, verwuͤſtete die
ganze Pflan⸗
zung, worauf die Erben, die in Port au 45
Prince wohnten, haͤtten Anſpruch machen
koͤnnen, und zog, als ſaͤmmtliche zur Beſiz⸗
zung gehoͤrige Etabliſſements der Erde
gleich
gemacht waren, mit den Negern, die er
ver⸗
ſammelt und bewaffnet hatte, in der
Nach⸗50
barſchaft umher, um ſeinen
Mitbruͤdern in
dem Kampfe gegen die Weißen
beizuſtehen.
Bald
lauerte er den Reiſenden auf, die in
bewaffneten Haufen das Land durchkreuzten;
bald fiel er am hellen Tage die in ihren Nie⸗55
derlaſſungen verſchanzten Pflanzer ſelbſt
an,
und ließ Alles, was er darin vorfand, uͤber
die Klinge ſpringen. Ja, er forderte, in ſei⸗
ner
unmenſchlichen Rachſucht, ſogar die alte
Babekan mit ihrer Tochter, einer jungen 60
funfzehnjaͤhrigen Meſtize, Namens Toni, auf,
an dieſem grimmigen Kriege, bei dem er ſich
ganz verjuͤngte, Antheil zu nehmen; und
A 2
4Faksimile weil das Hauptgebaͤude der Pflanzung, das
er jetzt bewohnte, einſam an der Landſtraße 65
lag und ſich haͤufig, waͤhrend ſeiner
Abweſen⸗
heit, weiße oder kreoliſche
Fluͤchtlinge einfan⸗
den, welche darin Nahrung
oder ein Unter⸗
kommen ſuchten, ſo
unterrichtete er die Wei⸗
ber, dieſe weißen Hunde, wie er
ſie nannte, 70
mit Unterſtuͤtzungen und
Gefaͤlligkeiten bis zu
ſeiner Wiederkehr
hinzuhalten. Babekan, wel⸗
che in Folge einer grauſamen Strafe, die
ſie in ihrer Jugend erhalten hatte, an der
Schwindſucht litt, pflegte in ſolchen Faͤllen
75
die junge Toni, die, wegen ihrer ins
Gelb⸗
liche
gehende
gehenden
gehenden [emendiert ohne Hinweis]
Geſichtsfarbe, zu dieſer graͤßli⸗
chen Liſt
beſonders brauchbar war, mit ihren
beſten
Kleidern auszuputzen; ſie ermunterte
dieſelbe,
den Fremden keine Liebkoſung zu ver⸗80
ſagen, bis auf die
letzte, die ihr bei Todes⸗
ſtrafe verboten war: und wenn
Congo Ho⸗
ango mit ſeinem Negertrupp von den
Strei⸗
fereien, die er in der Gegend
gemacht hatte,
wiederkehrte, war unmittelbarer
Tod das Loos 85
der Armen, die ſich durch dieſe
Kuͤnſte hat⸗
ten taͤuſchen laſſen.
5Faksimile
Nun weiß jedermann, daß im
Jahr 1803,
als der General Deſſalines mit
30,000 Ne⸗
gern gegen Port au Prince vorruͤckte, Alles,
90
was die weiße Farbe trug, ſich in dieſen
Platz
warf, um ihn zu vertheidigen. Denn er
war der letzte
Stuͤtzpunkt der franzoͤſiſchen
Macht auf dieſer
Inſel, und wenn er fiel,
waren alle Weißen, die
ſich darauf befanden, 95
ſaͤmmtlich ohne Rettung
verloren. Demnach
traf es ſich, daß gerade in der Abweſenheit des
alten Hoango, der mit den Schwarzen, die
er um ſich hatte, aufgebrochen war, um dem
General Deſſalines mitten durch die
franzoͤ⸗100
ſiſchen Poſten einen
Transport von Pulver
und Blei zuzufuͤhren, in
der Finſterniß einer
ſtuͤrmiſchen und
regnigten Nacht, jemand an
die hintere Thuͤr
ſeines Hauſes klopfte.
Die alte Babekan, welche ſchon im Bette 105
lag, erhob ſich, oͤffnete, einen bloßen Rock
um die Huͤften geworfen, das Fenſter, und
fragte: wer da ſei? „Bei Maria und allen
Heiligen,“ ſagte der Fremde leiſe, indem er
ſich unter das Fenſter ſtellte: „beantwortet 110
6Faksimile mir, ehe ich euch dies entdecke, eine
Frage!“
Und damit
ſtreckte er, durch die Dunkelheit
der Nacht,
ſeine Hand aus, um die Hand
der Alten zu
ergreifen, und fragte: „ſeid ihr
eine
Negerinn?“ Babekan ſagte: „nun, ihr 115
ſeid gewiß ein Weißer, daß ihr dieſer
ſtock⸗
finſtern Nacht lieber ins
Antlitz ſchaut, als
einer Negerinn! Kommt herein, ſetzte ſie hin⸗
zu, und fuͤrchtet nichts; hier wohnt eine
Mulattinn, und die Einzige, die ſich außer 120
mir noch im Hauſe befindet, iſt meine
Toch⸗
ter, eine
Meſtize!
Und damit machte ſie das
Fenſter zu, als wollte ſie hinabſteigen und ihm
die Thuͤr oͤffnen; ſchlich aber, unter dem
Vor⸗
wand, daß ſie den Schluͤſſel nicht ſogleich
125
finden koͤnne, mit einigen Kleidern, die
ſie
ſchnell aus dem Schrank zuſammenraffte, in
die Kammer hinauf und weckte ihre Tochter.
„Toni!“ ſprach ſie:
„Toni!“ — Was giebts,
Mutter? —
„Geſchwind!“ ſprach ſie. „Auf⸗130
geſtanden und
dich angezogen! Hier ſind Klei⸗
der, weiße Waͤſche und Struͤmpfe! Ein Wei⸗
ßer, der verfolgt wird, iſt vor
der Thuͤr und
7Faksimile begehrt
eingelaſſen zu werden!“ — Toni
frag⸗
te: ein Weißer? indem ſie ſich halb im Bett
135
aufrichtete. Sie nahm die Kleider, welche
die Alte in der
Hand hielt, und ſprach: iſt
er auch allein,
Mutter? Und haben wir,
wenn wir ihn einlaſſen, nichts zu befuͤrchten?
— „Nichts, nichts!“
verſetzte die Alte, in⸗140
dem ſie Licht anmachte: „er iſt
ohne Waf⸗
fen und allein, und Furcht, daß wir uͤber
ihn herfallen moͤchten, zittert in allen
ſeinen
Gebeinen!“ Und damit, waͤhrend Toni auf⸗
ſtand und ſich Rock
und Struͤmpfe anzog, 145
zuͤndete ſie die große
Latetne
Laterne
Laterne [emendiert ohne Hinweis]
an, die in dem
Winkel des Zimmers
ſtand, band dem Maͤd⸗
chen geſchwind das Haar, nach
der Landes⸗
art, uͤber dem Kopf zuſammen, bedeckte
ſie,
nachdem ſie ihr den Latz zugeſchnuͤrt
hatte, 150
mit einem Hut, gab ihr die Laterne in
die
Hand und befahl ihr, auf den Hof hinab
zu gehen und den Fremden herein zu holen.
Inzwiſchen war auf das
Gebell einiger
Hofhunde ein Knabe, Namens
Nanky, den 155
Hoango auf unehelichem Wege mit
einer Ne⸗
8Faksimilegerinn erzeugt
hatte, und der mit ſeinem Bru⸗
der Seppy in den
Nebengebaͤuden ſchlief, er⸗
wacht; und da er beim
Schein des Mondes
einen einzelnen Mann auf der
hinteren Treppe 160
des Hauſes ſtehen ſah: ſo
eilte er ſogleich,
wie er in ſolchen Faͤllen
angewieſen war, nach
dem Hofthor, durch
welches derſelbe herein⸗
gekommen war,
um es zu verſchließen. Der
Fremde, der nicht begriff, was dieſe Anſtalten
165
zu bedeuten hatten, fragte den Knaben, den
er mit Entſetzen, als er ihm nahe ſtand,
fuͤr
einen Negerknaben erkannte: wer in dieſer
Niederlaſſung wohne? und ſchon war er auf
die Antwort desſelben: „daß die Beſitzung,
170
ſeit dem Tode Hrn. Villeneuves dem Neger
Hoango anheim gefallen,“ im Begriff, den
Jungen niederzuwerfen, ihm den Schluͤſſel
der Hofpforte, den er in der Hand hielt,
zu
entreißen und das weite Feld zu ſuchen, als
175
Toni, die Laterne in der Hand, vor das
Haus
hinaus trat. „Geſchwind!“ ſprach ſie, indem
ſie ſeine Hand
ergriff und ihn nach der Thuͤr
zog: „hier
hierein!“ Sie trug Sorge, in⸗
9Faksimiledem ſie
dies ſagte, das Licht ſo zu ſtellen, 180
daß der
volle Strahl davon auf ihr Geſicht
fiel.
— Wer biſt Du? rief der Fremde
ſtraͤu⸗
bend, indem er, um mehr als
einer Urſache
willen betroffen, ihre junge
liebliche Geſtalt
betrachtete. Wer wohnt in dieſem Hauſe, 185
in welchem ich, wie Du vorgiebſt, meine Ret⸗
tung finden
ſoll? — „Niemand, bei dem Licht
der Sonne,“ ſprach das Maͤdchen, „als meine
Mutter und ich!“ und beſtrebte und
beeiferte
ſich, ihn mit ſich fortzureißen.
Was, nie⸗190
mand! rief der
Fremde, indem er, mit einem
Schritt
ruͤckwaͤrts, ſeine Hand losriß: hat
mir dieſer
Knabe nicht eben geſagt, daß ein
Neger, Namens
Hoango, darin befindlich
ſey? — „Ich ſage, nein!“ ſprach das Maͤd⸗195
chen, indem ſie, mit einem Ausdruck von
Unwillen, mit dem Fuß ſtampfte; „und wenn
gleich einem Wuͤtherich, der dieſen Namen
fuͤhrt, das Haus gehoͤrt: abweſend iſt er in
dieſem Augenblick und auf zehn Meilen
da⸗200
von entfernt!“ Und
damit zog ſie den Frem⸗
den mit ihren beiden Haͤnden in
das Haus
10Faksimile hinein, befahl
dem Knaben, keinem Menſchen
zu ſagen, wer
angekommen ſei, ergriff, nach⸗
dem ſie die Thuͤr
erreicht, des Fremden Hand 205
und fuͤhrte ihn die
Treppe hinauf, nach dem
Zimmer ihrer Mutter.
„Nun,“ ſagte die Alte,
welche das ganze
Geſpraͤch, von dem Fenſter
herab, mit ange⸗
hoͤrt und bei dem Schein des
Lichts bemerkt 210
hatte, daß er ein Offizier war:
„was bedeu⸗
tet der Degen, den ihr ſo ſchlagfertig
unter
eurem Arme tragt? Wir haben euch,“
ſetzte
ſie hinzu, indem ſie ſich die Brille auf⸗
druͤckte,
„mit Gefahr unſeres Lebens eine 215
Zuflucht in
unſerm Hauſe geſtattet; ſeid ihr
herein
gekommen, um dieſe Wohlthat, nach
der Sitte
eurer Landsleute, mit Verraͤtherei zu
vergelten?“ — Behuͤte der Himmel!
erwie⸗
derte der Fremde, der dicht
vor ihren Seſſel 220
getreten war. Er ergriff die Hand der Alten,
druͤckte ſie an ſein Herz, und indem er, nach
einigen im Zimmer ſchuͤchtern
umhergeworfe⸗
nen Blicken, den Degen,
den er an der Huͤfte
trug, abſchnallte, ſprach
er: Ihr ſeht den 225
11Faksimile
elendeſten der Menſchen, aber keinen undank⸗
baren und
ſchlechten vor euch! — „Wer ſeid
ihr?“ fragte die Alte; und damit ſchob ſie
ihm mit dem Fuß einen Stuhl hin, und be⸗
fahl dem Maͤdchen, in die Kuͤche zu gehen,
230
und ihm, ſo gut es ſich in der Eil thun
ließ,
ein Abendbrod zu bereiten. Der Fremde er⸗
widerte: ich bin
ein Offizier von der
franzoͤ⸗
ſchen
französischen [emendiert]
französischen [emendiert ohne
Hinweis]
Macht, obſchon, wie ihr wohl ſelbſt ur⸗
theilt, kein Franzoſe; mein Vaterland iſt die
235
Schweiz und mein Name Guſtav von der
Ried. Ach, haͤtte
ich es niemals verlaſſen und
gegen dies
unſelige Eiland vertauſcht! Ich
komme von Fort Dauphin, wo, wie ihr wißt,
alle Weißen ermordet worden ſind, und meine
240
Abſicht iſt, Port au Prince zu erreichen,
be⸗
vor es dem General Deſſalines noch
gelun⸗
gen iſt, es mit den Truppen, die er
anfuͤhrt,
einzuſchließen und zu belagern.
— „Von Fort
Dauphin!“ rief die Alte. „Und es iſt
euch 245
mit eurer Geſichtsfarbe gegluͤckt, dieſen
un⸗
geheuren Weg, mitten durch ein in
Empoͤrung
begriffenes Mohrenland,
zuruͤckzulegen?“ Gott
12Faksimile und alle Heiligen,
erwiederte der Fremde, ha⸗
ben mich beſchuͤtzt! — Und ich bin nicht al⸗250
lein, gutes
Muͤtterchen; in meinem Gefolge,
das ich
zuruͤckgelaſſen, befindet ſich ein ehr⸗
wuͤrdiger alter Greis, mein Oheim, mit ſei⸗
ner Gemahlinn und fuͤnf Kindern; mehrere
Bediente und Maͤgde, die zur Familie
gehoͤ⸗255
ren, nicht zu erwaͤhnen; ein Troß von
zwoͤlf
Menſchen, den ich, mit Huͤlfe zweier
elenden
Mauleſel, in unſaͤglich muͤhevollen
Nachtwan⸗
derungen, da wir uns bei
Tage auf der Heer⸗
ſtraße nicht zeigen duͤrfen,
mit mir fortfuͤhren 260
muß. „Ei, mein Himmel!“ rief die Alte,
indem ſie, unter mitleidigem Kopfſchuͤtteln,
eine
Prieſe
Prise [emendiert]
Prise [emendiert ohne Hinweis]
Tabak
nahm. „Wo befindet ſich
denn in dieſem Augenblick eure
Reiſegeſell⸗
ſchaft?“ — Euch, verſetzte der Fremde, nach⸗265
dem er ſich ein wenig beſonnen hatte: euch
kann ich mich anvertrauen; aus der Farbe
eures Geſichts ſchimmert mir ein Strahl
von
der meinigen entgegen. Die Familie befindet
ſich,
daß ihr es wißt, eine Meile von hier, 270
zunaͤchſt dem Moͤwenweiher, in der Wildniß
13Faksimileder angrenzenden Gebirgswaldung: Hunger
und Durſt zwangen uns vorgeſtern, dieſe
Zu⸗
flucht aufzuſuchen. Vergebens ſchickten wir
in
der verfloſſenen Nacht unſere Bedienten 275
aus,
um ein wenig Brod und Wein bei den
Einwohnern
des Landes aufzutreiben; Furcht,
ergriffen und
getoͤdtet zu werden, hielt ſie ab,
die
entſcheidenden Schritte deshalb zu thun,
dergeſtalt, daß ich mich ſelbſt heute mit Ge⸗280
fahr meines Lebens habe aufmachen muͤſſen,
um mein Gluͤck zu verſuchen. Der Himmel,
wenn mich
nicht Alles truͤgt, fuhr er fort,
indem er die
Hand der Alten druͤckte, hat
mich mitleidigen
Menſchen zugefuͤhrt, die jene 285
grauſame und
unerhoͤrte Erbitterung, welche
alle Einwohner
dieſer Inſel ergriffen hat, nicht
theilen.
Habt die Gefaͤlligkeit, mir fuͤr
reich⸗
lichen Lohn einige Koͤrbe mit
Lebensmitteln
und Erfriſchungen anzufuͤllen;
wir haben nur 290
noch fuͤnf Tagereiſen bis Port
au Prince,
und wenn ihr uns die Mittel
verſchafft, dieſe
Stadt zu erreichen, ſo
werden wir euch ewig
als die Retter unſeres
Lebens anſehen. —
14Faksimile„Ja, dieſe raſende Erbitterung,“ heuchelte 295
die Alte. „Iſt es
nicht, als ob die Haͤnde
Eines Koͤrpers, oder
die Zaͤhne Eines Mun⸗
des gegen einander wuͤthen
wollten, weil das
Eine Glied nicht geſchaffen
iſt, wie das an⸗
dere? Was kann ich, deren Vater aus St. 300
Jago, von
der Inſel Cuba war, fuͤr den
Schimmer von
Licht, der auf meinem Ant⸗
litz, wenn es Tag wird,
erdaͤmmert? Und
was
kann meine Tochter, die in Europa em⸗
pfangen und geboren
iſt, dafuͤr, daß der volle 305
Tag jenes
Welttheils von dem
ihrigen
wieder⸗
ſcheint?“ —
Wie? rief der Fremde. Ihr,
die ihr nach eurer ganzen Geſichtsbildung eine
Mulattinn, und mithin afrikaniſchen
Ursprungs
ſeid, ihr waͤret ſammt der
lieblichen jungen 310
Meſtize, die mir das Haus
aufmachte, mit
uns Europaͤern in Einer
Verdammniß? —
„Beim
Himmel!“ erwiderte die Alte, indem
ſie die
Brille von der Naſe nahm; „meint
ihr, daß das
kleine Eigenthum, das wir uns 315
in muͤhſeligen
und jammervollen Jahren durch
die Arbeit
unſerer Haͤnde erworben haben,
15Faksimile dies grimmige, aus der Hoͤlle ſtammende Raͤu⸗
bergeſindel nicht reizt? Wenn wir uns nicht
durch
Liſt und den ganzen Inbegriff jener 320
Kuͤnſte,
die die Nothwehr dem Schwachen
in die Haͤnde
giebt, vor ihrer Verfolgung zu
ſichern
wuͤßten: der Schatten von Verwandt⸗
ſchaft, der
uͤber unſere Geſichter ausgebreitet
iſt, der,
koͤnnt ihr ſicher glauben, thut es 325
nicht!“
— Es iſt nicht moͤglich! rief der
Fremde; und wer auf dieſer Inſel verfolgt
euch? „Der Beſitzer
dieſes Hauſes,“ ant⸗
wortete die Alte: „der Neger
Congo Hoan⸗
go! Seit dem
Tode Hrn. Guillaumes, des 330
vormaligen
Eigenthuͤmers dieser Pflanzung,
der durch
ſeine grimmige Hand beim Ausbruch
der
Empoͤrung fiel, ſind wir, die wir ihm
als
Verwandte die Wirthſchaft fuͤhren, ſeiner
ganzen Willkuͤhr und Gewaltthaͤtigkeit preis 335
gegeben. Jedes Stuͤck Brod, jeden
Labetrunk
Labetrunk, [emendiert]
Labetrunk, [emendiert]
den wir aus Menſchlichkeit Einem oder dem
Andern der weißen Fluͤchtlinge, die hier
zu⸗
weilen die Straße voruͤberziehen, gewaͤhren,
rechnet er uns mit Schimpfwoͤrtern und
Miß⸗340
16Faksimilehandlungen an;
und nichts wuͤnſcht er mehr,
als die Rache der
Schwarzen uͤber uns wei⸗
ße und kreoliſche Halbhunde, wie
er uns nennt,
hereinhetzen zu koͤnnen, theils
um unſerer
uͤberhaupt, die wir ſeine Wildheit
gegen die 345
Weißen tadeln, los zu werden,
theils, um
das kleine
Eigenthnm,
Eigenthum,
[liest ›Eigenthum,‹]
[liest ›Eigenthum,‹]
das wir hinterlaſſen
wuͤrden, in Beſitz
zu nehmen.“ — Ihr Un⸗
gluͤcklichen! ſagte der Fremde; ihr
Bejam⸗
mernswuͤrdigen! — Und wo befindet ſich in 350
dieſem Augenblick dieſer Wuͤtherich? „Bei
dem Heere des Generals Deſſalines,“
ant⸗
wortete die Alte, „dem er, mit
den uͤbrigen
Schwarzen, die zu dieſer
Pflanzung gehoͤren,
einen Transport von Pulver
und Blei zu⸗355
fuͤhrt, deſſen der General beduͤrftig
war.
Wir
erwarten ihn, falls er
nicht auf neue Unter⸗
nehmungen auszieht, in zehn
oder zwoͤlf Ta⸗
gen zuruͤck; und wenn er alsdann, was Gott
verhuͤten wolle, erfuͤhre, daß wir einem
Wei⸗360
ßen, der nach Port au Prince wandert,
Schutz und Obdach gegeben, waͤhrend er aus
allen Kraͤften an dem Geſchaͤft Theil nimmt,
das17Faksimiledas ganze Geſchlecht derſelben
von der Inſel
zu vertilgen, wir waͤren Alle,
das koͤnnt ihr 365
glauben, Kinder des Todes.“
Der Himmel,
der
Menſchlichkeit und Mitleiden liebt, ant⸗
wortete
der Fremde, wird euch in dem, was
ihr einem
Ungluͤcklichen thut, beſchuͤtzen! —
Und weil ihr euch, ſetzte er, indem er der 370
Alten naͤher ruͤckte, hinzu, einmal in dieſem
Falle des Negers Unwillen zugezogen
ha⸗
ben wuͤrdet, und der Gehorſam, wenn ihr
auch dazu zuruͤckkehren wolltet, euch
fuͤrder⸗
hin zu nichts helfen wuͤrde;
koͤnnt ihr euch 375
wohl, fuͤr jede Belohnung, die
ihr nur ver⸗
langen moͤgt, entſchließen, meinem Oheim
und ſeiner Familie, die durch die Reiſe aufs
Aeußerſte angegriffen ſind, auf einen oder
zwei
Tage in eurem Hauſe Obdach zu geben,
da⸗380
mit ſie ſich ein wenig erholten? — „Junger
Herr!“ ſprach
die Alte betroffen, „was ver⸗
langt ihr da? Wie iſt es, in einem Hauſe,
das an der Landſtraße liegt, moͤglich, einen
Troß von ſolcher Groͤße, als der eurige iſt, 385
zu beherbergen, ohne daß er den Einwohnern
Kleiſts Erzaͤhl. 2te S.
B
18Faksimile des Landes verrathen wuͤrde?“ — Warum
nicht? verſetzte
der Fremde dringend: wenn
ich ſogleich ſelbſt
an den Moͤwenweiher hin⸗
ausginge, und die
Geſellſchaft, noch vor An⸗390
bruch des Tages, in die
Niederlaſſung ein⸗
fuͤhrte; wenn man Alles,
Herrſchaft und
Dienerſchaft, in einem und
demſelben Gemach
des Hauſes unterbraͤchte,
und, fuͤr den ſchlimm⸗
ſten Fall, etwa noch die
Vorſicht gebrauchte, 395
Thuͤren und Fenſter
desſelben ſorgfaͤltig zu ver⸗
ſchließen?
— Die Alte erwiederte, nachdem
ſie den Vorſchlag waͤhrend einiger Zeit
erwo⸗
gen hatte: „daß, wenn er, in der heutigen
Nacht, unternehmen wollte, den Troß aus
400
ſeiner Bergſchlucht in die Niederlaſſung
ein⸗
zufuͤhren, er, bei der Ruͤckkehr
von dort, un⸗
fehlbar auf einen Trupp
bewaffneter Neger
ſtoßen wuͤrde, der, durch
einige vorangeſchickte
Schuͤtzen, auf der
Heerſtraße angeſagt wor⸗405
den waͤre.“ — Wohlan! verſetzte der Fremde:
ſo begnuͤgen wir uns, fuͤr dieſen Augenblick,
den Ungluͤcklichen einen Korb mit
Lebensmit⸗
teln zuzuſenden, und
ſparen das Geſchaͤft,
19Faksimile ſie
in die Niederlaſſung einzufuͤhren, fuͤr die 410
naͤchſtfolgende Nacht auf. Wollt ihr,
gutes
Muͤtterchen, das thun? — „Nun,“ ſprach
die Alte,
unter vielfachen Kuͤſſen, die von den
Lippen
des Fremden auf ihre knoͤcherne Hand
niederregneten: um des Europaͤers, meiner 415
Tochter Vater willen, will ich euch, ſeinen be⸗
draͤngten Landsleuten, dieſe Gefaͤlligkeit
er⸗
weiſen. Setzt euch
beim Anbruch des mor⸗
genden Tages hin, und ladet die
Eurigen in
einem Schreiben ein, ſich zu mir in
die Nie⸗420
derlaſſung zu verfuͤgen; der Knabe, den ihr
im Hofe geſehen, mag ihnen das Schreiben
mit einigem Mundvorrath uͤberbringen, die
Nacht uͤber zu ihrer Sicherheit in den
Ber⸗
gen verweilen, und dem Troſſe beim Anbruch
425
des naͤchſtfolgenden Tages, wenn die
Ein⸗
ladung angenommen wird, auf ſeinem Wege
hierher zum Fuͤhrer dienen.“
Inzwiſchen war Toni mit
einem Mahl,
das ſie in der Kuͤche bereitet
hatte, wiederge⸗430
kehrt, und fragte die Alte
mit einem Blick
auf den Fremden, ſchaͤkernd,
indem ſie den
B 2
20Faksimile Tiſch deckte: Nun, Mutter, ſagt an! Hat
ſich der Herr von dem Schreck, der ihn vor
der Thuͤr ergriff, erholt? Hat er ſich uͤber⸗435
zeugt, daß
weder Gift noch Dolch auf ihn
warten, und daß
der Neger Hoango nicht
zu Hauſe iſt? Die Mutter ſagte mit einem
Seufzer: mein Kind, der Gebrannte ſcheut,
nach dem Sprichwort, das Feuer. Der
Herr 440
wuͤrde thoͤricht gehandelt haben, wenn er
ſich
fruͤher in das Haus hineingewagt haͤtte,
als
bis er ſich von dem Volksſtamm, zu welchem
ſeine Bewohner gehoͤren, uͤberzeugt
hatte.“
Das
Maͤdchen ſtellte ſich vor die Mutter, 445
und
erzaͤhlte ihr: wie ſie die Laterne ſo gehal⸗
ten, daß ihr
der volle Strahl davon ins Ge⸗
ſicht gefallen waͤre.
Aber ſeine Einbildung,
ſprach ſie, war ganz von Mohren und Negern
erfuͤllt; und wenn ihm eine Dame von Paris 450
oder Marſeille die Thuͤre geoͤffnet haͤtte, er
wuͤrde ſie fuͤr eine Negerin gehalten
haben. Der
Fremde,
indem er den Arm ſanft um ihren
Leib ſchlug,
ſagte verlegen: daß der Hut, den
ſie
aufgehabt, ihn verhindert haͤtte, ihr ins 455
21FaksimileGeſicht zu ſchaun. Haͤtte ich dir, fuhr er
fort, indem er ſie
lebhaft an ſeine Bruſt
druͤckte, ins Auge
ſehen koͤnnen, ſo wie ich
es jetzt kann: ſo
haͤtte ich, auch wenn alles
uͤbrige an dir
ſchwarz geweſen waͤre, aus 460
einem vergifteten
Becher mit dir trinken wol⸗
len. Die Mutter noͤthigte ihn, der bei die⸗
ſen Worten
roth geworden war, ſich zu ſe⸗
tzen, worauf Toni ſich
neben ihm an der
Tafel niederließ, und mit
aufgeſtuͤtzten Ar⸗465
men, waͤhrend der Fremde aß, in
ſein Antlitz
ſah. Der Fremde fragte ſie: wie alt ſie waͤre?
und
wie ihre Vaterſtadt hieße? worauf die
Mutter
das Wort nahm und ihm ſagte: „daß
Toni vor
funfzehn Jahren auf einer Reiſe, 470
welche ſie
mit der Frau des Hrn. Villeneuve,
ihres
vormaligen Prinzipals, nach Europa
gemacht
haͤtte, in Paris von ihr empfangen
und
gebohren worden waͤre. Sie ſetzte
hinzu,
daß der Neger Komar, den ſie nachher
gehei⸗475
rathet, ſie zwar an Kindes
ſtatt angenommen
haͤtte,
das
daß
daß [emendiert ohne Hinweis]
ihr Vater aber eigentlich ein rei⸗
cher
Marſeiller Kaufmann, Namens Ber⸗
22Faksimiletrand
waͤre, von dem ſie auch Toni Bertrand
hieße.“
— Toni fragte ihn: ob er einen
ſol⸗480
chen Herrn in Frankreich kenne? Der Fremde
erwiederte:
nein! das Land waͤre groß, und
waͤhrend des
kurzen Aufenthalts, den er bei
ſeiner
Einſchiffung nach Weſtindien darin ge⸗
nommen, ſey
ihm keine Perſon dieſes Na⸗485
mens vorgekommen. Die Alte
verſetzte
versetzte, [emendiert]
versetzte, [emendiert]
daß
Hr. Bertrand auch, nach ziemlich
ſicheren
Nachrichten, die ſie eingezogen,
nicht mehr
in Frankreich befindlich ſey.
Sein ehrgeiziges
und aufſtrebendes Gemuͤth, ſprach ſie, gefiel 490
ſich in dem Kreis buͤrgerlicher Thaͤtigkeit nicht;
er miſchte ſich beim Ausbruch der Revolution
in die oͤffentlichen Geſchaͤfte, und ging
im
Jahr 1795 mit einer franzoͤſiſchen
Geſand⸗
ſchaft an den tuͤrkiſchen
Hof, von wo er, 495
meines Wiſſens, bis dieſen
Augenblick noch
nicht zuruͤckgekehrt iſt.
Der Fremde ſagte
laͤchelnd zu Toni, indem er ihre Hand faßte:
daß ſie ja in dieſem Falle ein vornehmes und
reiches Maͤdchen waͤre. Er munterte
ſie auf, 500
dieſe Vortheile geltend zu machen,
und meinte,
23Faksimile daß ſie
Hoffnung haͤtte, noch einmal an der
Hand ihres
Vaters in glaͤnzendere Verhaͤlt⸗
niſſe, als in
denen ſie jetzt lebte, eingefuͤhrt
zu werden!
„Schwerlich,“ verſetzte die Alte 505
mit unterdruͤckter Empfindlichkeit. „Herr Ber⸗
trand laͤugnete mir,
waͤhrend meiner Schwan⸗
gerſchaft zu
Paris, aus Scham vor einer
jungen reichen
Braut, die er heirathen wollte,
die
Vaterſchaft zu dieſem Kinde vor Gericht 510
ab.
Ich werde den Eidſchwur, den er die
Frechheit hatte, mir ins Geſicht zu leiſten,
niemals vergeſſen, ein Gallenfieber war
die
Folge davon, und bald darauf noch ſechzig
Peitſchenhiebe, die mir Hr. Villeneuve
geben 515
ließ, und in deren Folge ich noch bis
auf
dieſen Tag an der Schwindſucht leide.“ — —
Toni, welche den
Kopf gedankenvoll auf ihre
Hand gelegt hatte,
fragte den Fremden: wer
er denn waͤre? wo er
herkaͤme und wo er 520
hinginge? worauf dieſer
nach einer kurzen
Verlegenheit, worin ihn die
erbitterte Rede
der Alten verſetzt hatte,
erwiderte: daß er
mit Hrn. Stroͤmlis, ſeines
Oheims Fa⸗
24Faksimilemilie, die er, unter
dem Schutze zweier jun⸗525
gen Vettern, in der Bergwaldung
am Moͤ⸗
wenweiher zuruͤckgelaſſen, vom Fort Dauphin
kaͤme. Er
erzaͤhlte, auf des Maͤdchens Bitte,
mehrere
Zuͤge der in dieſer Stadt ausgebro⸗
chenen
Empoͤrung; wie zur Zeit der Mitter⸗530
nacht, da alles
geſchlafen, auf ein verraͤtheriſch
gegebenes
Zeichen, das Gemetzel der Schwar⸗
zen gegen die
Weißen losgegangen waͤre; wie
der Chef der
Negern, ein Sergeant bei dem
franzoͤſiſchen
Pionirkorps, die Bosheit gehabt, 535
ſogleich alle
Schiffe im Hafen in Brand zu
ſtecken, um den
Weißen die Flucht nach Eu⸗
ropa abzuſchneiden; wie die
Familie kaum
Zeit gehabt, ſich mit einigen
Habſeeligkeiten
vor die Thore der Stadt zu
retten, und wie 540
ihr, bei dem gleichzeitigen
Auflodern der Em⸗
poͤrung in allen Kuͤſtenplaͤtzen,
nichts uͤbrig
geblieben waͤre, als mit Huͤlfe
zweier Maul⸗
eſel, die ſie aufgetrieben, den Weg quer
durch
das ganze Land nach Port au Prince
ein⸗545
zuſchlagen, das allein noch, von
einem ſtar⸗
ken franzoͤſiſchen Heere beſchuͤtzt, der
uͤber⸗
25Faksimilehand nehmenden
Macht der Negern in dieſem
Augenblick
Widerſtand leiſte. — Toni fragte:
wodurch ſich denn die Weißen daſelbſt ſo
ver⸗550
haßt gemacht haͤtten? — Der Fremde erwi⸗
derte
betroffen: durch das allgemeine Ver⸗
haͤltniß, das ſie,
als Herren der Inſel, zu
den Schwarzen hatten,
und das ich, die
Wahrheit zu geſtehen, mich
nicht unterfangen 555
will, in Schutz zu nehmen;
das aber ſchon
ſeit vielen Jahrhunderten auf
dieſe Weiſe be⸗
ſtand! Der Wahnſinn der Freiheit, der alle
dieſe
Pflanzungen ergriffen hat, trieb die Ne⸗
gern und
Kreolen, die Ketten, die ſie druͤck⸗560
ten, zu brechen,
und an den Weißen wegen
vielfacher und
tadelnswuͤrdiger Mißhandlun⸗
gen, die ſie von einigen
ſchlechten Mitglie⸗
dern derſelben erlitten,
Rache zu nehmen. —
Beſonders, fuhr er nach einem kurzen Still⸗565
ſchweigen fort, war mir die That eines
jun⸗
gen Maͤdchens ſchauderhaft und merkwuͤrdig.
Dieſes Maͤdchen, vom Stamm der Negern,
lag gerade zur Zeit, da die Empoͤrung
auflo⸗
derte, an dem gelben Fieber
krank, das zur 570
26Faksimile
Verdoppelung des Elends in der Stadt aus⸗
gebrochen war. Sie
hatte drei Jahre zuvor
einem Pflanzer vom
Geſchlecht der Weißen
als Sclavinn gedient,
der ſie aus Empfind⸗
lichkeit, weil ſie ſich
ſeinen Wuͤnſchen nicht 575
willfaͤhrig gezeigt
hatte, hart behandelt und
nachher an einen
Creoliſchen Pflanzer ver⸗
kauft hatte. Da nun das Maͤdchen an dem
Tage des allgemeinen Aufruhrs erfuhr, daß
ſich der Pflanzer, ihr ehemaliger Herr, vor 580
der Wuth der Negern, die ihn verfolgten,
in
einen nahegelegenen Holzſtall gefluͤchtet
hatte: ſo ſchickte ſie, jener Mißhandlungen
eingedenk, beim Anbruch der Daͤmmerung,
ihren Bruder zu ihm, mit der Einladung, bei 585
ihr zu uͤbernachten. Der
Ungluͤckliche, der
weder wußte, daß das
Maͤdchen unpaͤßlich
war, noch an welcher
Krankheit ſie litt, kam
und ſchloß ſie voll
Dankbarkeit, da er ſich
gerettet glaubte, in
ſeine Arme: doch kaum 590
hatte er eine halbe
Stunde unter Liebkoſun⸗
gen und Zaͤrtlichkeiten in
ihrem Bette zuge⸗
bracht, als ſie ſich ploͤtzlich
mit dem Ausdruck
27Faksimile wilder
und kalter Wuth, darin erhob und
ſprach: eine
Peſtkranke, die den Tod in der 595
Bruſt traͤgt,
haſt du gekuͤßt: geh und gieb
das gelbe Fieber
allen denen, die dir glei⸗
chen! — Der Officier, waͤhrend die Alte mit
lauten
Worten ihren Abſcheu hieruͤber zu er⸗
kennen gab, fragte
Toni: ob ſie wohl einer 600
ſolchen That faͤhig
waͤre? Nein! ſagte Toni,
indem ſie verwirrt vor ſich niederſah. Der
Fremde, indem er das
Tuch auf
dem
Tiſche
legte, verſetzte: daß, nach dem
Gefuͤhl ſeiner
Seele, keine Tyrannei, die die
Weißen je 605
veruͤbt, einen Verrath, ſo
niedertraͤchtig und
abſcheulich, rechtfertigen
koͤnnte. Die Rache
des Himmels, meinte er, indem er ſich mit
einem leidenſchaftlichen Ausdruck erhob, wuͤrde
dadurch entwaffnet: die Engel ſelbſt, dadurch
610
empoͤrt, ſtellten ſich auf Seiten derer,
die
Unrecht haͤtten, und naͤhmen, zur
Aufrecht⸗
haltung menſchlicher und
goͤttlicher Ordnung,
ihre Sache! Er trat bei dieſen Worten auf
einen Augenblick an das Fenſter, und ſah in
615
die Nacht hinaus, die mit ſtuͤrmiſchen
Wol⸗
28Faksimileken uͤber den Mond und
die Sterne voruͤber
zog; und da es ihm ſchien,
als ob Mutter
und Tochter einander anſaͤhen,
obſchon er auf
keine Weiſe merkte, daß ſie
ſich Winke zuge⸗620
worfen haͤtten: ſo uͤbernahm
ihn ein wider⸗
waͤrtiges und verdrießliches
Gefuͤhl; er wandte
ſich und bat, daß man ihm
das Zimmer an⸗
weiſen moͤgte, wo er ſchlafen
koͤnne.
Die Mutter bemerkte, indem
ſie nach der 625
Wanduhr ſah, daß es uͤberdies
nahe an Mit⸗
ternacht ſey, nahm ein Licht in
die Hand,
und forderte den Fremden auf, ihr zu
folgen.
Sie fuͤhrte
ihn durch einen langen Gang in
das fuͤr ihn
beſtimmte Zimmer; Toni trug 630
den Ueberrock des
Fremden und mehrere an⸗
dere Sachen, die er abgelegt
hatte; die Mut⸗
ter zeigte ihm ein von Polſtern bequem
auf⸗
geſtapeltes Bett, worin er
ſchlafen ſollte, und
nachdem ſie Toni noch
befohlen hatte, dem 635
Herrn ein Fußbad zu
bereiten, wuͤnſchte ſie
ihm eine gute Nacht
und empfahl ſich. Der
Fremde ſtellte ſeinen Degen in den Winkel
und legte ein Paar Piſtolen, die er im
Guͤr⸗
29Faksimiletel trug, auf den
Tiſch. Er ſah ſich, waͤh⸗640
rend Toni das Bett vorſchob und ein weißes
Tuch daruͤber breitete, im Zimmer um; und
da er gar bald, aus der Pracht und dem
Geſchmack, die darin herrſchten, ſchloß, daß
es dem vormaligen Beſitzer der Pflanzung
645
angehoͤrt haben muͤſſe: ſo legte ſich ein
Ge⸗
fuͤhl der Unruhe wie ein Geyer um ſein Herz,
und er wuͤnſchte ſich, hungrig und
durſtig,
wie er gekommen war, wieder in die
Wal⸗
dung zu den Seinigen zuruͤck. Das Maͤd⸗650
chen hatte
mittlerweile, aus der nahbelegenen
Kuͤche, ein
Gefaͤß mit warmem Waſſer, von
wohlriechenden
Kraͤutern duftend, hereingeholt,
und forderte
den Officier, der ſich in das Fen⸗
ſter gelehnt hatte,
auf, ſich darin
zn
zu
zu [emendiert ohne Hinweis]
erqui⸗655
cken. Der
Officier ließ ſich, waͤhrend er ſich
ſchweigend von der Halsbinde und der Weſte
befreite, auf den Stuhl nieder; er ſchickte
ſich an, ſich die Fuͤße zu entbloͤßen, und waͤh⸗
rend das Maͤdchen, auf ihre Kniee vor ihm
660
hingekauert, die kleinen Vorkehrungen zum
Bade beſorgte, betrachtete er ihre
einnehmende
30Faksimile Geſtalt.
Ihr Haar, in dunkeln Locken
ſchwel⸗
lend, war ihr, als ſie
niederknieete, auf ihre
jungen Bruͤſte
herabgerollt; ein Zug von aus⸗665
nehmender Anmuth
ſpielte um ihre Lippen
und uͤber ihre langen,
uͤber die geſenkten Au⸗
gen hervorragenden
Augenwimper;
Augenwimpern;
Augenwimper; [nicht emendiert]
Augenwimper; [nicht emendiert]
er haͤtte,
bis auf die Farbe, die ihm
anſtoͤßig war,
ſchwoͤren moͤgen, daß er nie
etwas Schoͤne⸗670
res geſehen. Dabei fiel ihm eine entfernte
Aehnlichkeit,
er wußte noch ſelbſt nicht recht
mit wem, auf,
die er ſchon bei ſeinem Ein⸗
tritt in das Haus
bemerkt hatte, und die ſeine
ganze Seele fuͤr
ſie in Anſpruch nahm. Er 675
ergriff ſie, als ſie in den Geſchaͤften, die
ſie
betrieb, aufſtand, bei der Hand, und da er
gar richtig ſchloß, daß es nur ein Mittel
gab,
zu erpruͤfen, ob das Maͤdchen ein Herz
habe
oder nicht, ſo zog er ſie auf ſeinen
Schooß 680
nieder und fragte ſie: „ob ſie ſchon
einem
Braͤutigam verlobt waͤre?“ Nein! liſpelte
das
Maͤdchen, indem ſie ihre großen ſchwar⸗
zen Augen
in lieblicher Verſchaͤmtheit zur
Erde ſchlug.
Sie ſetzte, ohne ſich auf ſeinem 685
31Faksimile Schooß zu ruͤhren, hinzu:
Konelly, der junge
Neger aus der
Nachbarſchaft, haͤtte zwar
vor drei Monaten um
ſie angehalten; ſie
haͤtte ihn aber, weil ſie
noch zu jung waͤre,
ausgeſchlagen. Der Fremde, der, mit ſeinen 690
beiden Haͤnden, ihren ſchlanken Leib umfaßt
hielt, ſagte: „in ſeinem Vaterlande waͤre,
nach einem daſelbſt herrſchenden Sprichwort,
ein Maͤdchen von vierzehn Jahren und ſieben
Wochen bejahrt genug, um zu heirathen.“ 695
Er fragte, waͤhrend ſie ein kleines,
goldenes
Kreuz, das er auf der Bruſt trug,
betrach⸗
tete: „wie alt ſie waͤre?“
— Funfzehn Jahre,
erwiederte Toni. „Nun alſo!“ ſprach
der
Fremde. —
Fehlt
es ihm denn an Vermoͤgen, 700
um ſich
haͤuslich, wie du es wuͤnſcheſt, mit
dir
niederzulaſſen?“ Toni, ohne die Augen
zu ihm aufzuſchlagen, erwiderte: o nein! —
Vielmehr, ſprach
ſie, indem ſie das Kreuz,
das ſie in der Hand
hielt, fahren ließ: Ko⸗705
nelly iſt, ſeit der letzten
Wendung der Dinge,
ein reicher Mann geworden;
ſeinem Vater
iſt die ganze Niederlaſſung, die
ſonſt dem
32FaksimilePflanzer, ſeinem
Herrn, gehoͤrte, zugefallen. —
„Warum lehnteſt du denn ſeinen Antrag ab?“ 710
fragte der Fremde. Er ſtreichelte ihr freund⸗
lich das Haar von der Stirn
und ſprach:
„gefiel er dir etwa nicht?“ Das Maͤdchen,
indem ſie
kurz mit dem Kopf ſchuͤttelte, lachte;
und auf
die Frage des Fremden, ihr ſcher⸗715
zend ins Ohr
gefluͤſtert: ob es vielleicht ein
Weißer ſeyn
muͤſſe, der
ihr
Gunſt davon tra⸗
gen ſolle? legte ſie ſich
ploͤtzlich, nach einem
fluͤchtigen,
traͤumeriſchen Bedenken, unter ei⸗
nem uͤberaus reizenden
Erroͤthen, das uͤber 720
ihr verbranntes Geſicht
aufloderte, an ſeine
Bruſt. Der Fremde, von ihrer Anmuth und
Lieblichkeit geruͤhrt, nannte ſie ſein liebes
Maͤd⸗
chen, und ſchloß ſie, wie durch goͤttliche
Hand
von jeder Sorge erloͤſt, in ſeine Arme.
Es 725
war ihm
unmoͤglich zu glauben, daß alle dieſe
Bewegungen, die er an ihr wahrnahm, der
bloße elende Ausdruck einer kalten und graͤß⸗
lichen Verraͤtherei ſeyn ſollten. Die Gedan⸗
ken, die ihn
beunruhigt hatten, wichen, wie 730
ein Heer
ſchauerlicher Voͤgel, von ihm; er
ſchalt33Faksimileſchalt ſich, ihr Herz nur einen Augenblick
verkannt zu haben, und waͤhrend er ſie auf
ſeinen Knieen ſchaukelte, und den ſuͤßen Athem
einſog, den ſie ihm heraufſandte, druͤckte er,
735
gleichſam zum Zeichen der Ausſoͤhnung und
Vergebung, einen Kuß auf ihre Stirn.
In⸗
zwiſchen hatte
ſich das Maͤdchen, unter einem
ſonderbar
ploͤtzlichen Aufhorchen, als ob je⸗
mand von dem Gange her
der Thuͤr nahte, 740
emporgerichtet; ſie ruͤckte
ſich gedankenvoll
und traͤumeriſch das Tuch,
daß
das
das [emendiert ohne Hinweis]
ſich uͤber ihrer
Bruſt verſchoben
hatte, zurecht; und erſt als
ſie ſah, daß ſie
von einem Irrthum getaͤuſcht
worden war,
wandte ſie ſich mit einigem 745
Ausdruck von
Heiterkeit wieder zu dem Frem⸗
den zuruͤck und
erinnerte ihn: daß ſich das
Waſſer, wenn er
nicht bald Gebrauch davon
machte, abkaͤlten
wuͤrde. — Nun? ſagte ſie be⸗
treten, da der Fremde ſchwieg und ſie
gedan⸗750
kenvoll betrachtete: was ſeht
ihr mich ſo auf⸗
merkſam an? Sie ſuchte, indem ſie ſich mit ih⸗
rem Latz beſchaͤftigte, die Verlegenheit, die ſie
er⸗
griffen, zu verbergen, und rief lachend:
wun⸗
Kleiſts Erzaͤhl. 2te S. C
34Faksimilederlicher Herr, was faͤllt euch in meinem
An⸗755
blick ſo auf? Der
Fremde, der ſich mit der
Hand uͤber die Stirn
gefahren war, ſagte,
einen Seufzer
unterdruͤckend, indem er ſie
von ſeinem Schooß
herunterhob:
eine
wun⸗
derbare Aehnlichkeit zwiſchen dir und einer
760
Freundinn!“ —
Toni, welche ſichtbar be⸗
merkte, daß ſich ſeine Heiterkeit
zerſtreut hat⸗
te, nahm ihn freundlich und theilnehmend bei
der Hand, und fragte: mit welcher?
wor⸗
auf jener, nach einer kurzen Beſinnung das
765
Wort nahm und ſprach: „Ihr Name war
Mariane Congreve und ihre Vaterſtadt
Straß⸗
burg. Ich hatte
ſie in dieſer Stadt, wo
ihr Vater Kaufmann
war, kurz vor dem
Ausbruch der Revolution
kennen gelernt, und 770
war gluͤcklich genug
geweſen, ihr Jawort und
vorlaͤufig auch ihrer
Mutter Zuſtimmung zu er⸗
halten. Ach, es war die treuſte Seele unter
der Sonne; und die ſchrecklichen und
ruͤh⸗
renden Umſtaͤnde, unter denen
ich ſie verlor, 775
werden mir, wenn ich dich
anſehe, ſo gegen⸗
waͤrtig, daß ich mich vor
Wehmuth der Thraͤ⸗
35Faksimilenen nicht enthalten kann.“ Wie? ſagte
Toni,
indem ſie ſich herzlich und innig an
ihn druͤck⸗
te: ſie lebt nicht mehr? — „Sie ſtarb,“ ant⸗780
wortete
der Fremde, „und ich lernte den In⸗
begriff aller Guͤte
und Vortrefflichkeit erſt mit
ihrem Tode
kennen. Gott weiß,“ fuhr er
fort, indem er ſein Haupt ſchmerzlich an ihre
Schulter lehnte, „wie ich die
Unbeſonnen⸗785
heit ſo weit treiben
konnte, mir eines Abends
an einem
oͤffentlichen Ort Aeußerungen uͤber
das eben
errichtete furchtbare Revolutionstri⸗
bunal zu
erlauben. Man verklagte, man
ſuchte mich; ja, in Ermangelung meiner, der
790
gluͤcklich genug geweſen war, ſich in die
Vor⸗
ſtadt zu retten, lief die Rotte meiner
raſen⸗
den Verfolger, die ein Opfer haben mußte,
nach der Wohnung meiner Braut, und durch
ihre wahrhaftige Verſicherung, daß ſie
nicht 795
wiſſe, wo ich ſey, erbittert, ſchleppte
man die⸗
ſelbe, unter dem Vorwand, daß ſie mit mir
im Einverſtaͤndniß ſey, mit unerhoͤrter
Leicht⸗
fertigkeit ſtatt meiner auf
den Richtplatz.
Kaum war mir dieſe entſetzliche Nachricht 800
C 2
36Faksimile hinterbracht worden, als ich ſogleich aus dem
Schlupfwinkel, in welchen ich mich
gefluͤchtet
hatte, hervortrat, und indem ich,
die Menge
durchbrechend, nach dem Richtplatz
eilte, laut
ausrief: Hier, ihr Unmenſchlichen,
hier bin 805
ich! Doch
ſie, die ſchon auf dem Geruͤſte
der Guillotine
ſtand, antwortete auf die
Frage einiger
Richter, denen ich ungluͤckli⸗
cher Weiſe
fremd ſeyn mußte, indem ſie
ſich mit einem
Blick, der mir unausloͤſch⸗810
lich in die Seele
gepraͤgt iſt, von mir ab⸗
wandte: dieſen Menſchen kenne ich
nicht! —
worauf unter Trommeln und Laͤrmen,
von
den ungeduldigen Blutmenſchen angezettelt,
das Eiſen, wenige Augenblicke nachher,
her⸗815
abfiel, und ihr Haupt von ſeinem Rumpfe
trennte. — Wie ich
gerettet worden bin, das
weiß ich nicht; ich
befand mich, eine Viertel⸗
ſtunde darauf,
in der Wohnung eines Freun⸗
des, wo ich aus einer Ohnmacht
in die an⸗820
dere fiel, und halbwahnwitzig gegen Abend
auf einen Wagen geladen und uͤber den Rhein
geſchafft wurde.“ — Bei dieſen Worten trat
37Faksimileder Fremde, indem er das Maͤdchen
losließ,
an das Fenſter; und da dieſe ſah, daß
er 825
ſein Geſicht ſehr geruͤhrt in ein Tuch
druͤckte:
ſo uͤbernahm ſie, von manchen Seiten
ge⸗
weckt, ein menſchliches Gefuͤhl; ſie folgte
ihm mit einer ploͤtzlichen Bewegung, fiel
ihm
um den Hals, und miſchte ihre Thraͤnen mit
830
den ſeinigen.
Was weiter erfolgte,
brauchen wir nicht
zu melden, weil es jeder,
der an dieſe Stelle
kommt, von ſelbſt lieſ’t.
Der Fremde, als
er
ſich wieder geſammlet hatte, wußte nicht, 835
wohin ihn die That, die er begangen, fuͤh⸗
ren wuͤrde;
inzwiſchen ſah er ſo viel ein, daß
er
gerettet, und in dem Hauſe, in welchem
er ſich
befand, fuͤr ihn nichts von dem Maͤd⸗
chen zu befuͤrchten
war. Er verſuchte, da 840
er ſie mit verſchraͤnkten Armen auf dem Bett
weinen ſah, alles nur Moͤgliche, um ſie zu
beruhigen. Er
nahm ſich das kleine goldene
Kreuz, ein
Geſchenk der treuen Mariane, ſei⸗
ner abgeſchiedenen
Braut, von der Bruſt; 845
und, indem er ſich unter
unendlichen Liebko⸗
38Faksimileſungen
uͤber ſie neigte, hing er es ihr als ein
Brautgeſchenk, wie er es nannte, um den
Hals. Er ſetzte ſich, da ſie in
Thraͤnen zer⸗
floß und auf ſeine Worte nicht hoͤrte, auf
850
den Rand des Bettes nieder, und ſagte ihr,
indem er ihre Hand bald ſtreichelte, bald
kuͤßte: daß er bei ihrer Mutter am Morgen
des naͤchſten Tages um ſie anhalten wolle.
Er beſchrieb ihr,
welch ein kleines Eigenthum, 855
frei und
unabhaͤngig, er an den
Ufer
Ufern
Alternativ ist Emendation
in ›an dem Ufer‹ möglich. Wir folgen hier den Fassung
in D1.
Ufern [emendiert ohne Hinweis]
der
Aaar
beſitze; eine Wohnung, bequem und geraͤumig
genug, ſie und auch ihre Mutter, wenn ihr
Al⸗
ter die Reiſe zulaſſe, darin aufzunehmen;
Fel⸗
der, Gaͤrten, Wieſen und Weinberge; und
einen 860
alten ehrwuͤrdigen Vater, der ſie
dankbar und
liebreich daſelbſt, weil ſie
ſeinen Sohn geret⸗
tet, empfangen wuͤrde. Er ſchloß ſie, da
ihre
Thraͤnen in unendlichen Ergießungen auf
das
Bettkiſſen niederfloſſen, in ſeine Arme, 865
und
fragte ſie, von Ruͤhrung ſelber ergriffen:
was
er ihr zu Leide gethan und ob ſie ihm
nicht
vergeben koͤnne? Er ſchwor ihr, daß
Liebe fuͤr ſie nie aus ſeinem Herzen wei⸗
39Faksimilechen wuͤrde, und daß nur, im
Taumel wun⸗870
derbar verwirrter Sinne, eine Miſchung von
Begierde und Angſt, die ſie ihm
eingefloͤßt,
ihn zu einer ſolchen That habe
verfuͤhren koͤn⸗
nen. Er erinnerte ſie zuletzt, daß die Mor⸗
genſterne funkelten, und daß, wenn ſie
laͤn⸗875
ger im Bette verweilte, die Mutter kommen
und ſie darin uͤberraſchen wuͤrde; er
forderte
ſie, ihrer Geſundheit wegen, auf,
ſich zu
erheben und noch einige Stunden auf
ihrem
eignen Lager auszuruhen; er fragte ſie,
durch 880
ihren Zuſtand in die entſetzlichſten
Beſorgniſſe
geſtuͤrzt, ob er ſie vielleicht in
ſeinen Armen
aufheben und in ihre Kammer
tragen ſolle;
doch da ſie auf Alles, was er
vorbrachte,
nicht antwortete, und, ihr Haupt
ſtilljam⸗885
mernd,
ohne ſich zu
ruͤhren, in ihre Arme
gedruͤckt, auf den
verwirrten Kiſſen des Bet⸗
tes dalag: ſo blieb ihm zuletzt,
hell wie der
Tag ſchon durch beide Fenſter
ſchimmerte,
nichts uͤbrig, als ſie, ohne
weitere Ruͤckſpra⸗890
che, aufzuheben; er trug
ſie, die wie eine
Lebloſe von ſeiner Schulter
niederhing, die
40FaksimileTreppe
hinauf in ihre Kammer, und nachdem
er ſie auf
ihr Bette niedergelegt, und ihr un⸗
ter tauſend
Liebkoſungen noch einmal Alles, 895
was er ihr
ſchon geſagt, wiederholt hatte,
nannte er ſie
noch einmal ſeine liebe Braut,
druͤckte einen
Kuß auf ihre Wangen, und eilte
in ſein Zimmer
zuruͤck.
Sobald der Tag voͤllig
angebrochen war, 900
begab ſich die alte Babekan
zu ihrer Tochter
hinauf, und eroͤffnete ihr,
indem ſie ſich an
ihr Bett niederſetzte,
welch’ einen Plan ſie mit
dem Fremden ſowohl,
als ſeiner Reiſegeſell⸗
ſchaft vor habe. Sie meinte, daß, da der Ne⸗905
ger Congo Hoango erſt in zwei Tagen wieder⸗
kehre, Alles darauf ankaͤme, den Fremden
waͤhrend dieſer Zeit in dem Hauſe
hinzuhal⸗
ten, ohne die Familie
ſeiner Angehoͤrigen,
deren Gegenwart, ihrer
Menge wegen, ge⸗910
faͤhrlich werden koͤnnte, darinn
zuzulaſſen.
Zu
dieſem Zweck, ſprach ſie, habe ſie erdacht,
dem Fremden vorzuſpiegeln, daß, einer ſo
eben eingelaufenen Nachricht zufolge, der Ge⸗
neral Deſſalines ſich mit ſeinem Heer in
dieſe 915
41FaksimileGegend wenden werde,
und daß man mithin,
wegen allzugroßer Gefahr,
erſt am dritten
Tage, wenn er voruͤber waͤre,
wuͤrde moͤglich
machen koͤnnen, die Familie,
ſeinem Wunſche
gemaͤß, in dem Hauſe
aufzunehmen. Die 920
Geſellſchaft ſelbſt, ſchloß ſie, muͤſſe inzwi⸗
ſchen, damit ſie nicht weiter reiſe, mit
Le⸗
bensmitteln verſorgt, und
gleichfalls, um ſich
ihrer ſpaͤterhin zu
bemaͤchtigen, in dem Wahn,
daß ſie eine
Zuflucht in dem Hauſe finden 925
werde,
hingehalten werden. Sie bemerkte,
daß die Sache wichtig ſey, indem die Familie
wahrſcheinlich betraͤchtliche
Habſeeligkeiten mit
ſich fuͤhre; und forderte
die Tochter auf, ſie
aus allen Kraͤften in dem
Vorhaben, das ſie 930
ihr angegeben, zu
unterſtuͤtzen. Toni, halb
im Bette aufgerichtet, indem die Roͤthe des
Unwillens ihr Geſicht uͤberflog,
verſetzte:
„daß es ſchaͤndlich und
niedertraͤchtig waͤre,
das Gaſtrecht an
Perſonen, die man in das 935
Haus gelockt, alſo zu
verletzen. Sie meinte,
daß ein Verfolgter, der ſich ihrem Schutz
anvertraut, doppelt ſicher bei ihnen ſein
ſollte;
42Faksimile und verſicherte,
daß, wenn ſie den blutigen
Anſchlag, den ſie
ihr geaͤußert, nicht aufgaͤbe, 940
ſie auf der
Stelle hingehen und dem Fremden
anzeigen
wuͤrde, welch eine Moͤrdergrube das
Haus ſei,
in welchem er geglaubt habe, ſeine
Rettung zu
finden.“ Toni! ſagte die Mut⸗
ter, indem ſie die Arme in die Seite ſtaͤmmte,
945
und dieſelbe mit großen Augen anſah. —
„Gewiß!“ erwiederte
Toni, indem ſie die
Stimme ſenkte. „Was hat uns dieſer Juͤng⸗
ling, der
von Geburt gar nicht einmal ein
Franzoſe,
ſondern, wie wir geſehen haben, 950
ein Schweizer
iſt, zu leide gethan, daß wir,
nach Art der
Raͤuber, uͤber ihn herfallen,
ihn toͤdten und
auspluͤndern wollen?
Gelten
die Beſchwerden, die
man hier gegen die
Pflanzer fuͤhrt, auch in
der Gegend der In⸗955
ſel, aus welcher er herkoͤmmt?
Zeigt nicht
vielmehr Alles, daß er der edelſte und vor⸗
trefflichſte Menſch iſt, und gewiß das
Unrecht,
das die Schwarzen ſeiner Gattung
vorwer⸗
fen moͤgen, auf keine Weiſe theilt?“ —
Die 960
Alte, waͤhrend
ſie den ſonderbaren Ausdruck
43Faksimile des Maͤdchens betrachtete, ſagte bloß mit be⸗
benden Lippen: daß ſie erſtaune. Sie fragte,
was der junge
Portugieſe verſchuldet, den
man unter dem
Thorweg kuͤrzlich mit Keulen 965
zu Boden geworfen
habe? Sie fragte, was
die beiden Hollaͤnder verbrochen, die vor drei
Wochen durch die Kugeln der Neger im Hofe
gefallen waͤren? Sie wollte wiſſen, was man
den drei Franzoſen und ſo vielen andern ein⸗970
zelnen
Fluͤchtlingen, vom Geſchlecht der Wei⸗
ßen, zur Laſt
gelegt habe, die mit Buͤchſen,
Spießen und
Dolchen, ſeit dem Ausbruch
der Empoͤrung, im
Hauſe hingerichtet wor⸗
den waͤren? „Beim Licht der Sonne,“ ſagte 975
die Tochter, indem ſie wild aufſtand, „du
haſt ſehr Unrecht, mich an dieſe Graͤuelthaten
zu erinnern! Die Unmenſchlichkeiten, an de⸗
nen ihr mich Theil zu
nehmen zwingt, em⸗
poͤrten laͤngſt mein innerſtes
Gefuͤhl; und 980
um mir Gottes Rache wegen Alles,
was vor⸗
gefallen, zu verſoͤhnen, ſo, ſchwoͤre ich
dir,
daß ich eher zehnfachen Todes ſterben,
als
zugeben werde, daß dieſem Juͤngling, ſo
lange
44Faksimileer ſich in unſerm
Hauſe befindet, auch nur 985
ein Haar gekruͤmmt
werde.“ — Wohlan,
ſagte die Alte, mit einem ploͤtzlichen Ausdruck
von Nachgiebigkeit: ſo mag der Fremde
rei⸗
ſen! Aber wenn
Congo Hoango zuruͤckkoͤmmt,
ſetzte ſie hinzu,
indem ſie um das Zimmer 990
zu verlaſſen,
aufſtand, und erfaͤhrt, daß ein
Weißer in
unſerm Hauſe uͤbernachtet hat,
ſo magſt du das
Mitleiden, das dich bewog,
ihn gegen das
ausdruͤckliche Gebot wieder
abziehen zu
laſſen, verantworten. 995
Auf dieſe Aeußerung, bei
welcher, trotz
aller ſcheinbaren Milde, der
Ingrimm der
Alten heimlich hervorbrach, blieb
das Maͤd⸗
chen in nicht geringer Beſtuͤrzung im
Zim⸗
mer zuruͤck. Sie
kannte den Haß der Alten 1000
gegen die Weißen zu
gut, als daß ſie haͤtte
glauben koͤnnen, ſie
werde eine ſolche Gele⸗
genheit, ihn zu ſaͤttigen,
ungenutzt voruͤber
gehen laſſen. Furcht, daß ſie ſogleich in die
benachbarten Pflanzungen ſchicken und die 1005
Neger zur Überwaͤltigung des Fremden
her⸗
beirufen moͤchte, bewog ſie,
ſich anzukleiden
45Faksimile und ihr
unverzuͤglich in das untere Wohn⸗
zimmer zu folgen.
Sie ſtellte
ſich
sich, [emendiert]
sich, [emendiert ohne Hinweis]
waͤh⸗
rend dieſe verſtoͤrt den Speiſeſchrank, bei
1010
welchem ſie ein Geſchaͤft zu haben
ſchien, ver⸗
ließ, und ſich an einen Spinnrocken
nieder⸗
ſetzte, vor das an die Thuͤr
geſchlagene Man⸗
dat, in welchem allen Schwarzen
bei Lebens⸗
ſtrafe verboten war, den Weißen Schutz
und 1015
Obdach zu geben; und gleichſam als ob
ſie,
von Schrecken ergriffen, das Unrecht,
daß
das
das [emendiert ohne Hinweis]
ſie begangen, einſaͤhe, wandte ſie ſich
ploͤtz⸗
lich, und fiel der Mutter,
die ſie, wie ſie
wohl wußte, von hinten
beobachtet hatte, zu 1020
Fuͤßen. Sie bat, die Kniee derſelben um⸗
klammernd, ihr die raſenden Aeußerungen,
die ſie ſich zu Gunſten des Fremden erlaubt,
zu vergeben; entſchuldigte ſich mit dem
Zu⸗
ſtand, halb traͤumend, halb wachend, in 1025
welchem ſie von ihr mit den Vorſchlaͤgen zu
ſeiner Ueberliſtung, da ſie noch im Bette
ge⸗
legen, uͤberraſcht worden ſei, und meinte,
daß
ſie ihn ganz und gar der Rache der
beſtehen⸗
den Landesgeſetze, die
ſeine Vernichtung ein⸗1030
46Faksimilemal beſchloſſen,
Preis gaͤbe.
Die Alte, nach
einer
Pauſe, in der ſie das Maͤdchen unver⸗
wandt
betrachtete, ſagte: „Beim Himmel,
dieſe deine
Erklaͤrung rettet ihm fuͤr heute
das Leben!
Denn die Speiſe, da du ihn in 1035
deinen Schutz zu nehmen drohteſt, war ſchon
vergiftet, die ihn der Gewalt Congo
Hoan⸗
go’s, ſeinem Befehl gemaͤß, wenigſtens todt
uͤberliefert haben wuͤrde.“ Und damit ſtand
ſie auf
und ſchuͤttete einen Topf mit Milch, 1040
der auf
dem Tiſch ſtand, aus dem Fenſter.
Toni,
welche ihren Sinnen nicht traute,
ſtarrte,
von Entſetzen ergriffen, die Mutter
an.
Die Alte, waͤhrend ſie ſich wieder
nie⸗
derſetzte, und das Maͤdchen, das
noch im⸗1045
mer auf den Knieen dalag, vom Boden auf⸗
hob, fragte: „was denn im Lauf einer
ein⸗
zigen Nacht ihre Gedanken ſo ploͤtzlich
um⸗
gewandelt haͤtte? Ob ſie geſtern, nachdem ſie
ihm das Bad bereitet, noch lange bei ihm
ge⸗1050
weſen waͤre? Und
ob ſie viel mit dem Frem⸗
den geſprochen haͤtte?“ Doch Toni, deren
Bruſt
flog, antwortete hierauf nicht, oder
47Faksimilenichts Beſtimmtes; das Auge zu Boden ge⸗
ſchlagen, ſtand ſie, indem ſie ſich den Kopf
1055
hielt, und berief ſich auf einen Traum;
ein
Blick jedoch auf die Bruſt ihrer
ungluͤckli⸗
chen Mutter, ſprach ſie,
indem ſie ſich raſch
buͤckte und ihre Hand
kuͤßte, rufe ihr die
ganze Unmenſchlichkeit
der Gattung, zu der 1060
dieſer Fremde gehoͤre,
wieder ins Gedaͤchtniß
zuruͤck: und
betheuerte, indem ſie ſich um⸗
kehrte und das
Geſicht in ihre Schuͤrze druͤck⸗
te, daß, ſobald der
Neger Hoango eingetrof⸗
fen waͤre, ſie ſehen
wuͤrde, was ſie an ihr 1065
fuͤr eine Tochter
habe.
Babekan ſaß noch in Gedanken
verſenkt,
und erwog, woher wohl die
ſonderbare Leiden⸗
ſchaftlichkeit des Maͤdchens entſpringe:
als
der Fremde mit einem in ſeinem
Schlafge⸗1070
mach geſchriebenen Zettel,
worin er die Fa⸗
milie einlud, einige Tage in der
Pflanzung
des Negers Hoango zuzubringen, in
das Zim⸗
mer trat. Er
gruͤßte ſehr heiter und freund⸗
lich die Mutter
und die Tochter, und bat, in⸗1075
dem er der Alten den
Zettel uͤbergab: daß man
48Faksimileſogleich in die Waldung ſchicken und fuͤr die
Geſellſchaft, dem ihm gegebenen Verſprechen
gemaͤß, Sorge tragen moͤchte. Babekan ſtand
auf und
ſagte, mit einem Ausdruck von Un⸗1080
ruhe, indem ſie den
Zettel in den Wandſchrank
legte: „Herr, wir
muͤſſen euch bitten, euch
ſogleich in euer
Schlafzimmer zuruͤck zu ver⸗
fuͤgen. Die Straße iſt voll von einzelnen
Negertrupps, die voruͤberziehen und uns
an⸗1085
melden, daß ſich der General Deſſalines mit
ſeinem Heer in dieſe Gegend wenden werde.
Dies Haus, das
jedem offen ſteht, gewaͤhrt
euch keine
Sicherheit, falls ihr euch nicht in
eurem,
auf den Hof hinausgehenden, Schlaf⸗1090
gemach verbergt,
und die Thuͤren ſowohl, als
auch die
Fenſterladen, auf das Sorgfaͤltigſte
verſchließt.“ — Wie? ſagte der Fremde
be⸗
troffen: der General
Deſſalines
— „Fragt
nicht!“
unterbrach ihn die Alte, indem ſie 1095
mit einem
Stock dreimal auf den Fußboden
klopfte: „in
eurem Schlafgemach, wohin ich
euch folgen
werde, will ich euch Alles erklaͤ⸗
ren.“ Der Fremde von der Alten mit aͤngſt⸗
lichen
49Faksimilelichen Gebehrden aus dem Zimmer gedraͤngt,
1100
wandte ſich noch einmal unter der Thuͤr
und
rief: aber wird man der Familie, die
meiner
harrt, nicht wenigſtens einen Boten
zuſen⸗
den muͤſſen, der ſie — ? „Es wird Alles be⸗
ſorgt
werden,“ fiel ihm die Alte ein, waͤh⸗1105
rend, durch
ihr Klopfen gerufen, der Ba⸗
ſtardknabe, den
wir ſchon kennen, hereinkam;
und damit befahl
ſie Toni, die, dem Frem⸗
den den Ruͤcken zukehrend, vor
den Spiegel
getreten war, einen Korb mit
Lebensmitteln, 1110
der in dem Winkel ſtand,
aufzunehmen; und
Mutter, Tochter, der Fremde
und der Knabe
begaben ſich in das
Schlafzimmer hinauf.
Hier erzaͤhlte die Alte,
indem ſie ſich auf
gemaͤchliche Weiſe auf den
Seſſel niederließ, 1115
wie man die ganze Nacht
uͤber auf den, den
Horizont abſchneidenden
Bergen, die Feuer
des Generals Deſſalines
ſchimmern geſehen:
ein Umſtand, der in der
That gegruͤndet war,
obſchon ſich bis dieſen
Augenblick noch kein 1120
einziger Neger von
ſeinem Heer, das
ſuͤd⸗
weſtlich
[liest ›sudwestlich‹]
[liest ›sudwestlich‹]
gegen Port au
Prince anruͤckte, in
Kleiſts Erzaͤhl. 2te S. D
50Faksimiledieſer Gegend gezeigt hatte. Es gelang ihr,
den
Fremden dadurch in einen Wirbel von
Unruhe zu
ſtuͤrzen, den ſie jedoch nachher 1125
wieder durch
die Verſicherung, daß ſie alles
Moͤgliche,
ſelbſt in dem ſchlimmen Fall, daß
ſie
Einquartierung bekaͤme, zu ſeiner Ret⸗
tung
beitragen wuͤrde, zu ſtillen wußte.
Sie nahm, auf die wiederholte inſtaͤndige 1130
Erinnerung desſelben, unter dieſen
Umſtaͤn⸗
den ſeiner Familie
wenigſtens mit Lebensmit⸗
teln beizuſpringen, der
Tochter den Korb
aus der Hand, und indem ſie
ihn dem Kna⸗
ben gab, ſagte ſie ihm: „er ſolle an den
Moͤ⸗1135
wenweiher, in die nahgelegnen
Waldberge hin⸗
aus gehen, und ihn der daſelbſt befindlichen
Familie des fremden Offiziers
uͤberbringen.
Der
Offizier ſelbſt,“ ſolle er hinzuſetzen,
„befinde ſich wohl; Freunde der Weißen, 1140
die
ſelbſt viel der Parthei wegen, die ſie er⸗
griffen,
von den Schwarzen leiden muͤßten,
haͤtten ihn
in ihrem Hauſe mitleidig aufge⸗
nommen. Sie
ſchloß, daß ſobald die Land⸗
ſtraße nur von den
bewaffneten Negerhaufen, 1145
51Faksimile
die man erwartete, befreit waͤre, man ſogleich
Anſtalten treffen wuͤrde, auch ihr, der Fa⸗
milie, ein
Unterkommen in dieſem Hauſe zu
verſchaffen.
— Haſt du verſtanden? fragte
ſie, da ſie geendet hatte. Der Knabe, indem 1150
er den
Korb auf ſeinen Kopf ſetzte, antwor⸗
tete: daß er den
ihm beſchriebenen Moͤwen⸗
weiher, an dem
er zuweilen mit ſeinen Ka⸗
meraden zu fiſchen
pflege, gar wohl kenne,
und daß er Alles, wie
man es ihm aufgetra⸗1155
gen, an die daſelbſt
uͤbernachtende Familie
des fremden Herrn
beſtellen wuͤrde.
Der
Fremde zog ſich, auf
die Frage der Alten:
ob er noch etwas
hinzuzuſetzen haͤtte? noch
einen Ring vom
Finger, und haͤndigte ihn 1160
dem Knaben ein, mit
dem Auftrag, ihn zum
Zeichen, daß es mit den
uͤberbrachten Mel⸗
dungen ſeine Richtigkeit habe,
dem Oberhaupt
der Familie, Hrn. Stroͤmli, zu
uͤbergeben.
Hierauf traf die Mutter mehrere, die Sicher⸗1165
heit des
Fremden, wie ſie ſagte, abzweckende
Veranſtaltungen; befahl Toni, die Fenſter⸗
laden zu
verſchließen, und zuͤndete ſelbſt, um
D 2
52Faksimiledie Nacht, die dadurch in dem Zimmer
herr⸗
ſchend geworden war, zu
zerſtreuen, an ei⸗1170
nem auf dem Kaminſims
befindlichen Feuer⸗
zeug, nicht ohne
Muͤhſeligkeit, indem der
Zunder nicht fangen
wollte, ein Licht an.
Der Fremde benutzte dieſen Augenblick, um
den Arm ſanft um Toni’s Leib zu legen, 1175
und ihr ins Ohr zu fluͤſtern: wie ſie
geſchla⸗
fen? und: ob er die Mutter
nicht von dem,
was vorgefallen, unterrichten
ſolle? doch auf
die erſte Frage antwortete
Toni nicht, und
auf die andere verſetzte ſie,
indem ſie ſich aus 1180
ſeinem Arm loswand: nein,
wenn ihr mich
liebt, kein Wort! Sie
unterdruͤckte die Angſt,
die alle dieſe
luͤgenhaften Anſtalten in ihr er⸗
weckten; und unter
dem Vorwand, dem Frem⸗
den ein Fruͤhſtuͤck zu
bereiten, ſtuͤrzte ſie ei⸗1185
lig in das untere Wohnzimmer
herab.
Sie nahm aus dem Schrank der
Mutter
den Brief, worin der Fremde in ſeiner
Un⸗
ſchuld die Familie eingeladen hatte, dem
Kna⸗
ben in die Niederlaſſung zu folgen: und auf
1190
gut Gluͤck hin, ob die Mutter ihn
vermiſſen
wuͤrde, entſchloſſen, im
ſchlimmſten Falle den
53FaksimileTod
mit ihm zu leiden, flog ſie damit dem
ſchon
auf der Landſtraße wandernden Knaben
nach.
Denn ſie ſah den Juͤngling, vor Gott
1195
und ihrem Herzen, nicht mehr als einen
blo⸗
ßen Gaſt, dem ſie Schutz und Obdach
gege⸗
ben, ſondern als ihren Verlobten und
Ge⸗
mahl an, und war Willens, ſobald nur ſeine
Parthei im Hauſe ſtark genug ſeyn wuͤrde,
1200
dies der Mutter, auf deren Beſtuͤrzung
ſie
unter dieſen Umſtaͤnden rechnete, ohne
Ruͤck⸗
halt zu erklaͤren. „Nanky,“ ſprach ſie, da
ſie den Knaben athemlos und eilfertig auf der
Landſtraße erreicht hatte: „die Mutter hat
1205
ihren Plan, die Familie Hrn. Stroͤmli’s
an⸗
betreffend, umgeaͤndert. Nimm dieſen Brief!
Er lautet an Hrn. Stroͤmli, das alte
Ober⸗
haupt der Familie, und enthaͤlt
die Einladung,
einige Tage mit Allem, was zu
ihm gehoͤrt, 1210
in unſerer Niederlaſſung zu
verweilen. — Sey
klug und trage ſelbſt alles Moͤgliche dazu bei,
dieſen Entſchluß zur Reife zu bringen;
Con⸗
go Hoango, der Neger, wird, wenn er
wie⸗
derkoͤmmt, es dir lohnen!“
Gut, gut, Baſe 1215
54FaksimileToni, antwortete der Knabe. Er fragte, in⸗
dem er den Brief
ſorgſam eingewickelt in
ſeine Taſche ſteckte:
und ich ſoll dem Zuge,
auf ſeinem Wege
hierher, zum Fuͤhrer die⸗
nen? „Allerdings,“ verſetzte Toni; „das 1220
verſteht
ſich, weil ſie die Gegend nicht ken⸗
nen, von ſelbſt.
Doch wirſt du, moͤglicher
Truppenmaͤrſche wegen, die auf der Land⸗
ſtraße ſtatt finden koͤnnten, die Wanderung
eher nicht, als um Mitternacht antreten;
1225
aber dann dieſelbe auch ſo beſchleunigen,
daß
du vor der Daͤmmerung des Tages hier
ein⸗
triffſt.
[liest ›eintriffst‹ und emendiert in
›eintriffst.‹]
[liest ›eintriffst‹ und emendiert in
›eintriffst.‹]
— Kann man ſich
auf dich verlaſſen?
fragte ſie. Verlaßt euch auf Nanky! antwor⸗
tete der Knabe; ich weiß, warum ihr dieſe
1230
weißen Fluͤchtlinge in die Pflanzung
lockt,
und der Neger Hoango ſoll mit mir
zufrie⸗
den ſeyn!
Hierauf trug Toni dem
Fremden das Fruͤh⸗
ſtuͤck auf; und nachdem es
wieder abgenom⸗1235
men war, begaben ſich Mutter
und Tochter,
ihrer haͤuslichen Geſchaͤfte
wegen, in das vor⸗
dere Wohnzimmer zuruͤck. Es konnte nicht
55Faksimilefehlen, daß die Mutter einige Zeit darauf an
den Schrank trat, und, wie es natuͤrlich
1240
war, den Brief vermißte. Sie legte die Hand,
unglaͤubig gegen ihr Gedaͤchtniß, einen Au⸗
genblick
an den Kopf, und fragte Toni: wo
ſie den
Brief, den ihr der Fremde gegeben,
wohl
hingelegt haben koͤnne? Toni antwortete
1245
nach einer kurzen Pauſe, in der ſie auf
den
Boden niederſah: daß ihn der Fremde ja,
ihres Wiſſens, wieder eingeſteckt und
oben im
Zimmer, in ihrer beider Gegenwart,
zerriſſen
habe! Die Mutter ſchaute das Maͤdchen mit 1250
großen
Augen an; ſie meinte, ſich beſtimmt
zu
erinnern, daß ſie den Brief aus ſeiner
Hand
empfangen und in den Schrank gelegt
habe;
doch da ſie ihn nach vielem vergeblichen
Suchen darin nicht fand, und ihrem Gedaͤcht⸗1255
niß, mehrerer aͤhnlichen Vorfaͤlle
wegen, mis⸗
traute: ſo blieb ihr zuletzt nichts uͤbrig,
als
der Meinung, die ihr die Tochter
geaͤußert,
Glauben zu ſchenken. Inzwiſchen konnte ſie
ihr
lebhaftes Misvergnuͤgen uͤber dieſen Um⸗1260
ſtand nicht
unterdruͤcken, und meinte, daß
56Faksimile der Brief dem Neger Hoango, um die Fa⸗
milie in die Pflanzung hereinzubringen, von
der groͤßten Wichtigkeit geweſen ſeyn
wuͤrde.
Am Mittag
und Abend, da Toni den Frem⸗1265
den mit Speiſen
bediente, nahm ſie, zu ſei⸗
ner Unterhaltung an der
Tiſchecke ſitzend, meh⸗
reremal Gelegenheit, ihn nach
dem Briefe zu
fragen; doch Toni war geſchickt
genug, das
Geſpraͤch, ſo oft es auf dieſen
gefaͤhrlichen 1270
Punkt kam, abzulenken oder zu
verwirren;
dergeſtalt, daß die Mutter durch
die Erklaͤ⸗
rungen des Fremden uͤber das eigentliche
Schick⸗
ſal des Briefes auf keine
Weiſe ins Reine
kam. So verfloß der Tag; die Mutter ver⸗1275
ſchloß nach dem Abendeſſen aus Vorſicht, wie
ſie ſagte, des Fremden Zimmer; und
nach⸗
dem ſie noch mit Toni uͤberlegt hatte,
durch
welche Liſt ſie ſich von neuem, am
folgenden
Tage, in den Beſitz eines ſolchen
Briefes ſez⸗1280
zen koͤnne, begab ſie
ſich zur Ruhe, und be⸗
fahl dem Maͤdchen gleichfalls, zu
Bette zu
gehen.
Sobald Toni, die dieſen
Augenblick mit
57Faksimile Sehnſucht
erwartet hatte, ihre Schlafkammer 1285
erreicht
und ſich uͤberzeugt hatte, daß die
Mutter
entſchlummert war, ſtellte ſie das
Bildniß
der heiligen Jungfrau, das neben
ihrem Bette
hing, auf einen Seſſel, und ließ
ſich mit
verſchraͤnkten Haͤnden auf Knieen da⸗1290
vor nieder. Sie
flehte den Erloͤſer, ihren goͤttli⸗
chen Sohn, in
einem Gebet voll unendlicher
Innbrunſt, um
Muth und Standhaftigkeit an,
dem Juͤngling,
dem ſie ſich zu eigen gegeben,
das
Geſtaͤndniß der Verbrechen, die ihren 1295
jungen
Buſen beſchwerten, abzulegen. Sie
gelobte, dieſem, was es ihrem Herzen auch
koſten wuͤrde, nichts, auch nicht die
Abſicht,
erbarmungslos und entſetzlich, in
der ſie ihn
geſtern in das Haus gelockt, zu
verbergen; 1300
doch um der Schritte willen, die
ſie bereits
zu
ſeiner
Rettung gethan, wuͤnſchte ſie, daß
er
ihr vergeben, und ſie als ſein treues Weib
mit ſich nach Europa fuͤhren moͤchte. Durch
dies Gebet wunderbar geſtaͤrkt,
ergriff ſie, 1305
indem ſie aufſtand, den
Hauptſchluͤſſel, der
alle Gemaͤcher des
Hauſes ſchloß, und ſchritt
58Faksimiledamit langſam, ohne Licht, uͤber den ſchmalen
Gang, der das Gebaͤude durchſchnitt, dem
Schlafgemach des Fremden zu. Sie oͤffnete 1310
das Zimmer
leiſe und trat vor ſein Bett, wo
er in tiefen
Schlaf verſenkt ruhte. Der
Mond beſchien ſein bluͤhendes Antlitz, und
der Nachtwind, der durch die geoͤffneten
Fen⸗
ſter eindrang, ſpielte mit dem Haar auf
ſei⸗1315
ner Stirn. Sie
neigte ſich ſanft uͤber ihn
und rief ihn,
ſeinen ſuͤßen Athem einſaugend,
beim Namen;
aber ein tiefer Traum, von
dem ſie der
Gegenſtand zu ſeyn ſchien, be⸗
ſchaͤftigte
ihn: wenigſtens hoͤrte ſie, zu wie⸗1320
derholten Malen,
von ſeinen gluͤhenden, zit⸗
ternden Lippen das
gefluͤſterte Wort: Toni!
Wehmuth, die nicht zu beſchreiben iſt, ergriff
ſie; ſie konnte ſich nicht entſchließen,
ihn aus
den Himmeln lieblicher Einbildung in
die 1325
Tiefe einer gemeinen und elenden
Wirklichkeit
herabzureißen; und in der
Gewißheit, daß er
ja fruͤh oder ſpaͤt von
ſelbſt erwachen muͤſſe,
kniete ſie an ſeinem
Bette nieder und uͤber⸗
deckte ſeine theure Hand mit
Kuͤſſen.1330
Aber wer beſchreibt das
Entſetzen, das
wenige Augenblicke darauf
ihren Buſen ergriff,
als ſie ploͤtzlich, im
Innern des Hofraums,
ein Geraͤuſch von
Menſchen, Pferden und
Waffen hoͤrte, und
darunter ganz deutlich die 1335
Stimme des Negers
Congo Hoango erkannte,
der unvermutheter
Weiſe mit ſeinem ganzen
Troß aus dem Lager
des Generals Deſſali⸗
nes zuruͤckgekehrt war.
Sie ſtuͤrzte, den
Mondſchein, der ſie zu verrathen drohte, ſorg⸗1340
ſam vermeidend, hinter die Vorhaͤnge des
Fen⸗
ſter,
Fen⸗
ſters,
Fensters, [emendiert ohne Hinweis]
und hoͤrte auch
ſchon die Mutter, welche
dem Neger von Allem,
was waͤhrend deſſen
vorgefallen war, auch von
der Anweſenheit
des europaͤiſchen
Fluͤchtlings im Hauſe, Nach⸗1345
richt gab. Der Neger befahl den Seinigen,
mit gedaͤmpfter Stimme, im Hofe ſtill zu
ſeyn. Er fragte
die Alte, wo der Fremde in
dieſem Augenblick
befindlich ſey? worauf dieſe
ihm das Zimmer
bezeichnete, und ſogleich auch 1350
Gelegenheit
nahm, ihn von dem ſonderbaren
und
auffallenden Geſpraͤch, das ſie, den Fluͤcht⸗
ling
betreffend, mit der Tochter gehabt hatte,
60Faksimilezu unterrichten. Sie verſicherte dem Neger,
daß das Maͤdchen
eine Verraͤtherinn, und der 1355
ganze Anſchlag,
desſelben habhaft zu werden,
in Gefahr ſey,
zu ſcheitern. Wenigſtens ſey
die Spitzbuͤbin, wie ſie bemerkt, heimlich
beim
Einbruch der Nacht in ſein Bette
geſchlichen,
wo ſie noch bis dieſen
Augenblick in guter 1360
Ruhe befindlich ſey; und
wahrſcheinlich, wenn
der Fremde nicht ſchon
entflohen ſey, werde
derſelbe eben jetzt
gewarnt, und die Mittel,
wie ſeine Flucht zu
bewerkſtelligen ſey, mit
ihm verabredet.
Der Neger, der die Treue 1365
des Maͤdchens ſchon in aͤhnlichen Faͤllen
er⸗
probt hatte, antwortete: es waͤre wohl nicht
moͤglich? Und:
Kelly! rief er wuͤthend, und:
Omra! Nehmt
eure Buͤchſen! Und damit,
ohne weiter ein Wort zu ſagen, ſtieg er, im
1370
Gefolge aller ſeiner Neger, die Treppe
hin⸗
auf, und begab ſich in das Zimmer des
Fremden.
Toni, vor deren Augen ſich,
waͤhrend
weniger Minuten, dieſer ganze
Auftritt abge⸗1375
ſpielt hatte, ſtand, gelaͤhmt
an allen Gliedern,
61Faksimileals ob
ſie ein Wetterſtrahl getroffen haͤtte, da.
Sie dachte einen Augenblick daran, den
Frem⸗
den zu wecken; doch theils war, wegen
Be⸗
ſetzung des Hofraums, keine
Flucht fuͤr ihn 1380
moͤglich, theils auch ſah ſie
voraus, daß er
zu den Waffen greifen, und
ſomit bei der
Ueberlegenheit der Neger,
Zubodenſtreckung
unmittelbar ſein Loos ſeyn
wuͤrde. Ja, die
entſetzlichſte Ruͤckſicht, die ſie zu nehmen genoͤ⸗1385
thigt war, war dieſe, daß der
Ungluͤckliche
ſie ſelbſt, wenn er ſie in
dieſer Stunde bei
ſeinem Bette faͤnde, fuͤr
eine Verraͤtherinn
halten, und, ſtatt auf
ihren Rath zu hoͤren,
in der Raſerei eines ſo
heilloſen Wahns, dem 1390
Neger Hoango voͤllig
beſinnungslos in die
Arme laufen wuͤrde.
In dieſer unausſprech⸗
lichen Angſt fiel ihr ein Strick in
die Augen,
welcher, der Himmel weiß durch
welchen
Zufall, an dem Riegel der Wand hing.
Gott 1395
ſelbſt,
meinte ſie, indem ſie ihn herabriß,
haͤtte
ihn zu ihrer und des Freundes Rettung
dahin
gefuͤhrt. Sie umſchlang den Juͤngling,
vielfache Knoten ſchuͤrzend, an Haͤnden
und
62FaksimileFuͤßen damit; und
nachdem ſie, ohne darauf 1400
zu achten, daß er
ſich ruͤhrte und ſtraͤubte,
die Enden
angezogen und an das Geſtell des
Bettes
feſtgebunden hatte: druͤckte ſie, froh,
des
Augenblicks maͤchtig geworden zu ſeyn,
einen
Kuß auf ſeine Lippen, und eilte dem 1405
Neger
Hoango, der ſchon auf der Treppe
klirrte,
entgegen.
Der Neger, der dem Bericht
der Alten,
Toni anbetreffend, immer noch
keinen Glau⸗
ben ſchenkte, ſtand, als er ſie aus dem
be⸗1410
zeichneten Zimmer hervortreten
ſah, beſtuͤrzt
und verwirrt, im Corridor mit
ſeinem Troß
von Fackeln und Bewaffneten
ſtill. Er rief:
„die Treuloſe! die Bundbruͤchige!“ und indem
er ſich zu Babekan
wandete,
wandte, [emendiert]
wandte, [emendiert ohne Hinweis]
welche einige 1415
Schritte vorwaͤrts gegen die
Thuͤr des Frem⸗
den gethan hatte, fragte er:
„iſt der Fremde
entflohn?“ Babekan, welche die Thuͤr, ohne
hineinzuſehen, offen gefunden hatte, rief,
in⸗
dem ſie als eine Wuͤthende zuruͤckkehrte: Die
1420
Gaunerinn! Sie
hat ihn entwiſchen laſſen!
Eilt, und beſetzt die Ausgaͤnge, ehe er das
63Faksimileweite Feld erreicht!
„Was giebt’s?“ fragte
Toni, indem ſie mit dem Ausdruck des Er⸗
ſtaunens den Alten und die Neger, die ihn 1425
umringten, anſah. Was es giebt? erwiederte
Hoango; und damit
ergriff er ſie bei der
Bruſt und ſchleppte
ſie nach dem Zimmer hin.
„Seid ihr raſend?“ rief Toni, indem ſie den
Alten, der bei dem ſich ihm darbietenden
An⸗1430
blick erſtarrte, von ſich ſtieß: „da liegt
der
Fremde, von mir in ſeinem Bette
feſtgebun⸗
den; und, beim Himmel, es
iſt nicht die
ſchlechteſte That, die ich in
meinem Leben
gethan!“ Bei dieſen Worten kehrte ſie ihm 1435
den Ruͤcken zu, und ſetzte ſich, als ob ſie
wein⸗
te, an einen Tiſch nieder. Der Alte wandte
ſich
gegen die in Verwirrung zur Seite ſte⸗
hende Mutter
und ſprach: o Babekan, mit wel⸗
chem Maͤhrchen haſt
du mich getaͤuſcht? „Dem 1440
Himmel ſey Dank,“ antwortete die Mutter,
indem ſie die Stricke, mit welchen der
Frem⸗
de gebunden war, verlegen unterſuchte; „der
Fremde iſt da, obſchon ich von dem
Zuſam⸗
menhang nichts begreife.“
Der Neger trat, 1445
64Faksimiledas Schwerdt in die Scheide ſteckend, an
das
Bett und fragte den Fremden: wer er ſey?
woher er komme und wohin er reiſe? Doch
da dieſer, unter
krampfhaften Anſtrengungen
ſich loszuwinden,
nichts hervorbrachte, als, 1450
auf jaͤmmerlich
ſchmerzhafte Weiſe: o Toni!
o Toni! — ſo nahm
die Mutter das Wort
und bedeutete ihm, daß er
ein Schweizer ſey,
Namens Guſtav von der
Ried, und daß er
mit einer ganzen Familie
europaͤiſcher Hunde, 1455
welche in dieſem
Augenblick in den Berghoͤh⸗
len am Moͤwenweiher
verſteckt ſey, von dem
Kuͤſtenplatz Fort
Dauphin komme. Hoango,
der das Maͤdchen, den Kopf ſchwermuͤthig
auf ihre Haͤnde geſtuͤtzt, daſitzen ſah, trat
1460
zu ihr und nannte ſie ſein liebes
Maͤdchen;
klopfte ihr die Wangen, und
forderte ſie auf,
ihm den uͤbereilten
Verdacht, den er ihr
geaͤußert, zu vergeben.
Die Alte, die gleich⸗
falls vor das Maͤdchen hingetreten war,
ſtaͤmm⸗1465
te die Arme kopfſchuͤttelnd in die Seite
und
fragte: weshalb ſie denn den Fremden, der
doch von der Gefahr, in der er ſich
befun⸗
den,65Faksimileden, gar nichts gewußt, mit
Stricken in dem
Bette feſtgebunden habe?
Toni, vor Schmerz 1470
und Wuth in der That
weinend, antwortete,
ploͤtzlich zur Mutter
gekehrt: „weil du keine
Augen und Ohren haſt!
Weil er die Gefahr,
in der er ſchwebte, gar wohl begriff! Weil
er entfliehen wollte; weil er mich
gebeten hat⸗1475
te, ihm zu ſeiner Flucht behuͤlflich zu
ſeyn;
weil er einen Anſchlag auf dein eignes
Leben
gemacht hatte, und ſein Vorhaben bei
An⸗
bruch
des
Tages ohne Zweifel, wenn ich ihn
nicht
ſchlafend gebunden haͤtte, in Ausfuͤhrung 1480
gebracht haben
wuͤrde.“
Der Alte liebkoſete
und beruhigte das Maͤdchen, und befahl Ba⸗
bekan, von
dieſer Sache zu ſchweigen. Er
rief ein Paar Schuͤtzen mit Buͤchſen vor, um
das Geſetz, dem der Fremdling verfallen
war, 1485
augenblicklich an demſelben zu
vollſtrecken;
aber Babekan fluͤſterte ihm
heimlich zu: „nein,
um’s Himmels willen,
Hoango!“ — Sie
nahm ihn auf die Seite und bedeutete ihm:
„Der Fremde muͤſſe, bevor er hingerichtet 1490
werde, eine Einladung aufſetzen, um vermit⸗
Kleiſts
Erzaͤhl. 2te S. E66Faksimiletelſt
derſelben die Familie, deren Bekaͤmpfung
im
Walde manchen Gefahren ausgeſetzt ſey,
in die
Pflanzung zu locken.“ — Hoango, in
Erwaͤgung, daß die Familie wahrſcheinlich 1495
nicht unbewaffnet ſeyn werde, gab dieſem
Vor⸗
ſchlage ſeinen Beifall; er
ſtellte, weil es zu ſpaͤt
war, den Brief
verabredeter Maßen ſchreiben
zu laſſen, zwei
Wachen bei dem weißen Fluͤcht⸗
ling aus; und
nachdem er noch, der Sicher⸗1500
heit wegen, die
Stricke unterſucht, auch, weil
er ſie zu
locker befand, ein Paar Leute her⸗
beigerufen
hatte, um ſie noch enger zuſam⸗
menzuziehen,
verließ er mit ſeinem ganzen
Troß das Zimmer,
und Alles nach und nach 1505
begab ſich zur Ruh.
Aber Toni, welche nur
ſcheinbar dem Al⸗
ten, der ihr noch einmal die Hand
gereicht,
gute Nacht geſagt und ſich zu Bette
gelegt
hatte, ſtand, ſobald ſie Alles im
Hauſe ſtill 1510
ſah, wieder auf, ſchlich ſich
durch eine Hin⸗
terpforte des Hauſes auf das
freie Feld hin⸗
aus, und lief, die wildeſte
Verzweiflung im
Herzen, auf dem, die
Landſtraße durchkreu⸗
67Faksimilezenden,
Wege der Gegend zu, von welcher 1515
die
Famile
Familie [emendiert]
Familie [emendiert ohne Hinweis]
Hrn. Stroͤmli’s herankommen
muß⸗
te. Denn die
Blicke voll Verachtung, die der
Fremde von
ſeinem Bette aus auf ſie gewor⸗
fen hatte, waren ihr
empfindlich, wie Meſ⸗
ſerſtiche, durchs Herz gegangen;
es miſchte 1520
ſich ein Gefuͤhl heißer Bitterkeit
in ihre Liebe
zu ihm, und ſie frohlockte bei
dem Gedanken,
in dieſer zu ſeiner
Retung
Rettung
Die Schreibung ›Retung‹
findet sich ſelten in älteren Urkunden.
angeordneten Un⸗
ternehmung zu
ſterben. Sie ſtellte ſich, in
der Beſorgniß, die Familie zu verfehlen, an
1525
den Stamm einer Pinie, bei welcher, falls
die Einladung angenommen worden war, die
Geſellſchaft voruͤberziehen mußte, und
kaum
war auch, der Verabredung gemaͤß, der
erſte
Strahl der Daͤmmerung am Horizont
ange⸗1530
brochen, als Nankys, des
Knaben, Stimme,
der dem Troſſe zum Fuͤhrer
diente, ſchon fern⸗
her unter den Baͤumen des
Waldes hoͤrbar
ward.
Der Zug beſtand aus Hrn.
Stroͤmli und 1535
ſeiner Gemahlinn, welche
letztere auf einem
Mauleſel ritt; fuͤnf
Kindern desſelben, deren
E 2
68Faksimilezwei, Adelbert und Gottfried, Juͤnglinge von
18 und 17 Jahren, neben dem Mauleſel
her⸗
gingen; drei Dienern und zwei
Maͤgden, wo⸗1540
von die eine, einen Saͤugling an der Bruſt,
anf
auf
[liest ›auf‹]
[liest ›auf‹]
dem andern Mauleſel ritt; in allem aus
zwoͤlf Perſonen. Er bewegte ſich
langſam
uͤber die den Weg durchflechtenden
Kienwur⸗
zeln, dem Stamm der Pinie
zu: wo Toni, 1545
ſo geraͤuſchlos, als niemand zu
erſchrecken noͤ⸗
thig war, aus dem Schatten des
Baums
hervortrat, und dem Zuge zurief: Halt!
Der
Knabe kannte
ſie ſogleich; und auf ihre Fra⸗
ge: wo Herr Stroͤmli
ſei? waͤhrend Maͤn⸗1550
ner, Weiber und Kinder ſie
umringten, ſtellte
dieſer ſie freudig dem
alten Oberhaupt der Fa⸗
milie, Herrn Stroͤmli, vor.
„Edler Herr!“
ſagte Toni, indem ſie die Begruͤßungen des⸗
ſelben mit
feſter Stimme unterbrach: „der 1555
Neger Hoango
iſt, auf uͤberraſchende Weiſe,
mit ſeinem
ganzen Troß in die Niederlaſſung
zuruͤck
gekommen. Ihr koͤnnt jetzt, ohne die
groͤßeſte Lebensgefahr, nicht darin
einkehren;
ja, euer Vetter, der zu ſeinem
Ungluͤck eine 1560
69FaksimileAufnahme
darin
fand
fand, [emendiert]
fand, [emendiert]
iſt verloren, wenn ihr
nicht zu den
Waffen greift, und mir, zu
ſeiner Befreiung
aus der Haft, in welcher
ihn der Neger Hoango
gefangen haͤlt, in
die Pflanzung folgt!“
Gott im Himmel! 1565
riefen, von Schrecken erfaßt, alle Mitglieder
der Familie; und die Mutter, die krank und
von der Reiſe erſchoͤpft war, fiel von
dem
Maulthier ohnmaͤchtig auf den Boden
nieder.
Toni,
waͤhrend, auf
dem
den
den [emendiert ohne Hinweis]
Ruf Herrn
Stoͤm⸗1570
li’s
Stroͤm⸗
li’s
Stroͤmli’s [emendiert ohne Hinweis]
die Maͤgde
herbeieilten, um ihrer Frau
zu helfen,
fuͤhrte, von den Juͤnglingen mit
Fragen
beſtuͤrmt, Herrn Stroͤmli und die
uͤbrigen
Maͤnner, aus Furcht vor dem Kna⸗
ben Nanky, auf die
Seite. Sie erzaͤhlte den 1575
Maͤnnern, ihre Thraͤnen vor Scham und
Reue nicht zuruͤckhaltend, Alles, was
vorge⸗
fallen;
wie
die Verhaͤltniſſe, in dem Augen⸗
blick, da
der Juͤngling eingetroffen, im Hauſe
beſtanden; wie das Geſpraͤch, das ſie unter 1580
vier Augen mit ihm gehabt, dieſelben auf
ganz unbegreifliche Weiſe veraͤndert; was ſie
bei der Ankunft des Negers, faſt wahnſinnig
70Faksimilevor
Angſt,
gethan, und wie ſie nun Tod und
Leben
daran ſetzen wolle, ihn aus der Ge⸗1585
fangenſchaft,
worin ſie ihn ſelbſt geſtuͤrzt, wie⸗
der zu befreien.“
Meine Waffen! rief Herr
Stroͤmli, indem er zu dem Maulthier ſeiner
Frau eilte und ſeine Buͤchſe herabnahm.
Er
ſagte, waͤhrend
auch Adelbert und Gottfried, 1590
ſeine ruͤſtigen
Soͤhne, und die drei wackern
Diener ſich
bewaffneten: Vetter Auguſt hat
mehr als Einem
von uns das Leben gerettet;
jetzt iſt es an
uns, ihm den gleichen Dienſt
zu thun; und
damit hob er ſeine Frau, welche 1595
ſich erholt
hatte, wieder auf das Maulthier,
ließ dem
Knaben Nanky, aus Vorſicht, als
eine Art von
Geißel, die Haͤnde binden;
ſchickte den
ganzen Troß, Weiber und Kin⸗
der, unter dem bloßen
Schutz ſeines dreizehn⸗1600
jaͤhrigen,
gleichfalls bewaffneten Sohnes, Fer⸗
dinand, an den
Moͤwenweiher zuruͤck; und
nachdem er noch
Toni, welche ſelbſt einen
Helm und einen
Spieß genommen hatte, uͤber
die Staͤrke der
Neger und ihre Vertheilung 1605
im Hofraume
ausgefragt und ihr verſprochen
71Faksimilehatte, Hoango’s ſowohl, als ihrer Mutter,
ſo viel es ſich thun ließ, bei dieſer
Unterneh⸗
mung zu ſchonen: ſtellte er
ſich muthig, und
auf Gott vertrauend, an die
Spitze ſeines 1610
kleinen Haufens, und brach, von
Toni ge⸗
fuͤhrt, in die Niederlaſſung auf.
Toni, ſobald der Haufen
durch die hintere
Pforte eingeſchlichen war,
zeigte Herrn
Stroͤmli das Zimmer, in welchem
Hoango 1615
und Babekan ruhten; und waͤhrend Herr
Stroͤmli geraͤuſchlos mit ſeinen Leuten
in das
offne Haus eintrat, und ſich
ſaͤmmtlicher zu⸗
ſammengeſetzter Gewehre der Neger bemaͤch⸗
tigte, ſchlich ſie zur Seite ab in den
Stall, 1620
in welchem der fuͤnfjaͤhrige
Halbbruder des
Nanky, Seppy, ſchlief. Denn Nanky und
Seppy,
Baſtardkinder des alten Hoango,
waren dieſem,
beſonders der letzte, deſſen
Mutter kuͤrzlich
geſtorben war, ſehr theuer; 1625
und da, ſelbſt in
dem Fall, daß man den
gefangenen Juͤngling
befreite, der Ruͤckzug
an den Moͤwenweiher
und die Flucht von
dort nach Port au Prince,
der ſie ſich anzu⸗
72Faksimileſchließen
gedachte, noch mancherlei Schwie⸗1630
rigkeiten
ausgeſetzt war: ſo ſchloß ſie nicht
unrichtig, daß der Beſitz beider Knaben, als
einer Art von Unterpfand, dem Zuge, bei
etwaniger Verfolgung der Negern, von gro⸗
ßem Vortheil
ſeyn wuͤrde. Es gelang ihr, 1635
den Knaben ungeſehen aus ſeinem Bette zu
heben, und in ihren Armen, halb ſchlafend,
halb wachend, in das Hauptgebaͤude
hinuͤber⸗
zutragen. Inzwiſchen war Herr Stroͤmli,
ſo heimlich, als es ſich thun ließ, mit
ſeinem 1640
Haufen in Hoango’s Stubenthuͤre
eingetre⸗
ten; aber ſtatt ihn und
Babekan, wie er
glaubte, im Bette zu finden,
ſtanden, durch
das Geraͤuſch geweckt, beide,
obſchon halb⸗
nackt und huͤlflos, in der
Mitte des Zimmers 1645
da. Herr Stroͤmli, indem er ſeine Buͤchſe
in die Hand nahm, rief: ſie ſollten ſich
erge⸗
ben, oder ſie waͤren des Todes! doch
Hoan⸗
go, ſtatt aller Antwort, riß ein Piſtol von
der Wand und platzte es, Herrn Stroͤmli
1650
am Kopf ſtreifend, unter die Menge los.
Herrn Stroͤmli’s
Haufen, auf dies Signal,
73Faksimilefiel wuͤthend uͤber ihn her; Hoango, nach
einem zweiten Schuß, der einem Diener die
Schulter durchbohrte, ward durch einen Saͤ⸗1655
belhieb an
der Hand verwundet, und beide,
Babekan und
er, wurden niedergeworfen und
mit Stricken am
Geſtell eines großen Tiſches
feſt gebunden.
Mittlerweile waren, durch die
Schuͤſſe geweckt, die Neger des Hoango,
zwan⸗1660
zig und mehr an der Zahl, aus ihren
Staͤl⸗
len hervorgeſtuͤrzt, und drangen, da ſie
die
alte Babekan im Hauſe ſchreien hoͤrten,
wuͤ⸗
thend gegen dasſelbe vor, um ihre Waffen
wieder zu erobern. Vergebens poſtirte Herr 1665
Stroͤmli, deſſen
Wunde von keiner Bedeu⸗
tung war, ſeine Leute an die
Fenſter des Hau⸗
ſes, und ließ, um die Kerle im
Zaum zu
halten, mit Buͤchſen unter ſie
feuern; ſie ach⸗
teten zweier Todten nicht, die
ſchon auf dem 1670
Hofe umher lagen, und waren im
Begriff,
Aexte und Brechſtangen zu holen, um
die
Hausthuͤr, welche Hr. Stroͤmli verriegelt
hatte, einzuſprengen, als Toni, zitternd
und
bebend, den Knaben Seppy auf dem Arm, 1675
74Faksimilein Hoangos Zimmer trat.
Herr Stroͤmli,
dem
dieſe Erſcheinung aͤußerſt erwuͤnſcht war,
riß ihr den Knaben vom Arm; er wandte ſich,
indem er ſeinen Hirſchfaͤnger zog, zu Hoan⸗
go, und
ſchwor, daß er den Jungen augen⸗1680
blicklich
toͤdten wuͤrde, wenn er den Negern
nicht
zuriefe, von ihrem Vorhaben abzuſtehen.
Hoango, deſſen Kraft durch den Hieb uͤber
die drei Finger der Hand gebrochen war,
und
der ſein eignes Leben, im Fall einer
Weige⸗1685
rung, ausgeſetzt haben wuͤrde,
erwiederte nach
einigen Bedenken, indem er
ſich vom Boden
aufheben ließ: „daß er dies
thun wolle;“ er
ſtellte ſich, von Herrn
Stroͤmli gefuͤhrt, an
das Fenſter, und mit
einem Schnupftuch, das 1690
er in die linke Hand
nahm, uͤber den Hof
hinauswinkend, rief er
den Negern zu: „daß
ſie die Thuͤr, indem es,
ſein Leben zu retten,
keiner Huͤlfe beduͤrfe,
unberuͤhrt laſſen ſollten
und in ihre Staͤlle
zuruͤckkehren moͤchten!“ 1695
Hierauf beruhigte ſich der Kampf ein wenig;
Hoango ſchickte, auf Verlangen Herrn
Stroͤm⸗
li’s, einen im Hauſe eingefangenen Neger,
75Faksimilemit der Wiederholung
dieſes Befehls, zu dem
im Hofe noch
verweilenden und ſich berath⸗1700
ſchlagenden
Haufen hinab; und da die Schwar⸗
zen, ſo wenig ſie
auch von der Sache begrif⸗
fen, den Worten dieſes
foͤrmlichen Bothſchaf⸗
ters Folge leiſten mußten,
ſo gaben ſie ihren
Anſchlag, zu deſſen
Ausfuͤhrung ſchon Alles 1705
in Bereitſchaft war,
auf, und verfuͤgten ſich
nach und nach,
obſchon murrend und ſchim⸗
pfend, in ihre
Staͤlle zuruͤck. Herr Stroͤmli,
indem er dem
Knaben Seppy vor den Augen
Hoango’s die
Haͤnde binden ließ, ſagte die⸗1710
ſem: „daß ſeine
Abſicht keine andere ſey, als
den Offizier,
ſeinen Vetter aus der in der
Pflanzung uͤber
ihn verhaͤngten Haft zu be⸗
freien, und daß,
wenn ſeiner Flucht nach
Port au Prince keine
Hinderniſſe in den Weg 1715
gelegt wuͤrden, weder
fuͤr ſein, Hoango’s,
noch fuͤr ſeiner Kinder
Leben, die er ihm wie⸗
dergeben wuͤrde, etwas zu
befuͤrchten ſeyn
wuͤrde. Babekan, welcher Toni ſich naͤherte
und zum Abſchied in einer Ruͤhrung, die ſie
1720
nicht
unterdruͤcken
konnte, die Hand geben
76Faksimilewollte, ſtieß dieſe heftig von ſich. Sie nannte
ſie eine
Niedertraͤchtige und Verraͤtherinn,
und
meinte, indem ſie ſich am Geſtell des
Tiſches, an dem ſie lag, umkehrte: die Rache 1725
Gottes wuͤrde ſie, noch ehe ſie ihrer Schand⸗
that froh geworden, ereilen. Toni antworte⸗
te: „ich habe euch
nicht verrathen; ich bin
eine Weiße, und dem
Juͤngling, den ihr ge⸗
fangen haltet, verlobt; ich
gehoͤre zu dem Ge⸗1730
ſchlecht derer, mit denen ihr im
offenen Kriege
liegt, und werde vor Gott, daß
ich mich auf ihre
Seite ſtellte, zu
verantworten wiſſen.“ Hier⸗
auf gab Herr Stroͤmli dem Neger Hoango,
den er zur Sicherheit wieder hatte feſſeln
und 1735
an die Pfoſten der Thuͤr feſtbinden
laſſen, eine
Wache; er ließ den Diener, der,
mit zer⸗
ſplittertem Schulterknochen,
ohnmaͤchtig am
Boden lag, aufheben und
wegtragen; und
nachdem er dem Hoango noch
geſagt hatte, 1740
daß er beide Kinder, den Nanky
ſowohl als
den Seppy, nach Verlauf einiger
Tage, in
Sainte Luͤze, wo die erſten
franzoͤſiſchen Vor⸗
poſten ſtuͤnden, abholen laſſen
koͤnne, nahm
77Faksimileer Toni,
die, von mancherlei Gefuͤhlen be⸗1745
ſtuͤrmt, ſich nicht
enthalten konnte zu wei⸗
nen, bei der Hand, und fuͤhrte
ſie, unter
den Fluͤchen Babekans und des
alten Hoango,
aus dem Schlafzimmer fort.
Inzwiſchen waren Adelbert
und Gottfried, 1750
Hrn. Stroͤmli’s Soͤhne, ſchon
nach Beendi⸗
gung des erſten, an den Fenſtern
gefochtenen
Hauptkampfs, auf Befehl des
Vaters, in
das Zimmer ihres Vetters Auguſt
geeilt, und
waren gluͤcklich genug geweſen,
die beiden 1755
Schwarzen, die dieſen bewachten,
nach einem
hartnaͤckigen Widerſtand zu
uͤberwaͤltigen. Der
eine lag todt im Zimmer; der andere hatte
ſich mit einer ſchweren Schußwunde bis auf
den Corridor hinausgeſchleppt. Die Bruͤder, 1760
deren einer, der Aeltere, dabei ſelbſt, obſchon
nur leicht, am Schenkel verwundet worden
war, banden den theuren lieben Vetter los:
ſie umarmten und kuͤßten ihn, und
forderten
ihn jauchzend, indem ſie ihm Gewehr
und 1765
Waffen gaben, auf, ihnen nach dem
vorde⸗
ren Zimmer, in welchem, da der Sieg
ent⸗
78Faksimileſchieden, Herr
Stroͤmli wahrſcheinlich Alles
ſchon zum
Ruͤckzug anordne, zu folgen. Aber
Vetter Auguſt, halb im Bette aufgerichtet,
1770
druͤckte ihnen freundlich die Hand; im
uͤbri⸗
gen war er ſtill und zerſtreut, und ſtatt
die
Piſtolen, die ſie ihm darreichten, zu
ergreifen,
hob er die Rechte, und ſtrich
ſich, mit einem
unausſprechlichen Ausdruck
von Gram, da⸗1775
mit uͤber die Stirn. Die Juͤnglinge, die
ſich
bei ihm niedergeſetzt hatten, fragten: was
ihm fehle? und ſchon, da er ſie mit ſeinem
Arm umſchloß, und ſich mit dem Kopf ſchwei⸗
gend an
die Schulter des Juͤngern lehnte, 1780
wollte
Adelbert ſich erheben,
um ihn
im Wahn,
daß ihn eine Ohnmacht
anwandle, einen Trunk
Waſſer herbeiholen: als
Toni, den Knaben
Seppy auf dem Arm, an der
Hand Herrn
Stroͤmli’s, in das Zimmer trat.
Auguſt wech⸗1785
ſelte bei
dieſem Anblick die Farbe; er hielt
ſich,
indem er aufſtand, als ob er umſinken
wollte,
an den Leibern der Freunde feſt; und
ehe die
Juͤnglinge noch wußten, was er mit
dem
Piſtol, das er ihnen jetzt aus der Hand 1790
79Faksimilenahm, anfangen wollte: druͤckte er dasſelbe
ſchon, knirſchend vor Wuth, gegen Toni
ab.
Der Schuß war
ihr mitten durch die Bruſt
gegangen; und da
ſie, mit einem gebrochenen
Laut des
Schmerzes, noch einige Schritte 1795
gegen ihn
that, und ſodann, indem ſie den
Knaben an
Herrn Stroͤmli gab, vor ihm nie⸗
derſank:
ſchleuderte er das Piſtol uͤber ſie,
ſtieß
ſie mit dem Fuß von ſich, und warf ſich,
indem er ſie eine Hure nannte, wieder auf 1800
das Bette nieder. „Du ungeheurer
Menſch!“
riefen Herr Stroͤmli und ſeine
beiden Soͤhne.
Die
Juͤnglinge warfen ſich uͤber das Maͤdchen,
und riefen, indem ſie es aufhoben, einen der
alten Diener herbei, der dem Zuge ſchon in 1805
manchen aͤhnlichen, verzweiflungsvollen Faͤllen
die Huͤlfe eines Arztes geleiſtet hatte; aber
das Maͤdchen, das ſich mit der Hand
krampf⸗
haft die Wunde hielt,
druͤckte die Freunde
hinweg, und: „ſagt ihm
—!“ ſtammelte ſie 1810
roͤchelnd, auf ihn, der ſie
erſchoſſen, hindeu⸗
tend, und wiederholte: „ſagt
ihm — —!“
„Was
ſollen wir ihm
ſagen?
fragte Herr
80FaksimileStroͤmli, da der Tod ihr die Sprache raubte.
Adelbert und Gottfried
ſtanden auf und rie⸗1815
fen dem unbegreiflich
graͤßlichen Moͤrder zu:
ob er wiſſe, daß das
Maͤdchen ſeine Rette⸗
rinn ſey; daß ſie ihn liebe
und daß es ihre
Abſicht geweſen ſey, mit ihm,
dem ſie Alles,
Eltern und Eigenthum,
aufgeofert,
aufgeopfert [emendiert]
aufgeopfert [emendiert ohne Hinweis]
nach
Port 1820
au Prince zu entfliehen? — Sie donnerten
ihm:
Guſtav! in die Ohren, und fragten ihn:
ob er
nichts hoͤre? und ſchuͤttelten ihn und
griffen
ihn
in die Haare, da er unempfindlich,
und
ohne auf ſie zu achten, auf dem Bette 1825
lag.
Guſtav richtete ſich auf. Er warf einen
Blick auf
das in ſeinem Blut ſich waͤlzende
Maͤdchen;
und die Wuth, die dieſe That ver⸗
anlaßt hatte,
machte, auf natuͤrliche Weiſe, ei⸗
nem Gefuͤhl gemeinen
Mitleidens Platz. Hr. 1830
Stroͤmli, heiße Thraͤnen auf ſein
Schnupf⸗
tuch niederweinend, fragte:
warum, Elender,
haſt du das gethan? Vetter
Guſtav, der von
dem Bette aufgeſtanden war,
und das Maͤd⸗
chen, indem er ſich den Schweiß von der 1835
Stirn abwiſchte, betrachtete, antwortete: daß
ſie
81Faksimileſie ihn ſchaͤndlicher Weiſe zur Nachtzeit
gebun⸗
den, und dem Neger Hoango uͤbergeben habe.
„Ach!“ rief Toni,
und ſtreckte, mit einem unbe⸗
ſchreiblichen Blick, ihre Hand nach ihm aus:
1840
„dich, liebſten Freund, band ich, weil —
—!“
Aber ſie
konnte nicht reden und ihn auch mit der
Hand
nicht erreichen; ſie fiel, mit einer ploͤtz⸗
lichen
Erſchlaffung der Kraft, wieder auf den
Schooß
Herrn Stroͤmli’s zuruͤck. Weshalb? 1845
fragte Guſtav blaß, indem er zu ihr
nieder⸗
kniete. Herr Stroͤmli, nach einer langen,
nur durch das Roͤcheln Toni’s unterbrochenen
Pauſe, in welcher man vergebens auf eine
Antwort von ihr gehofft hatte, nahm das
1850
Wort und ſprach: weil, nach der Ankunft
Hoango’s, dich, Ungluͤcklichen, zu
retten, kein
anderes Mittel war; weil ſie den
Kampf, den
du unfehlbar eingegangen waͤreſt,
vermeiden,
weil ſie Zeit gewinnen wollte, bis
wir, die 1855
wir ſchon vermoͤge ihrer
Veranſtaltung her⸗
beieilten, deine Befreiung mit
den Waffen in
der Hand erzwingen konnten.
Guſtav legte
die Haͤnde vor ſein Geſicht.
Oh! rief er,
Kleiſts Erzaͤhl. 2te S. F82Faksimileohne
aufzuſehen, und meinte, die Erde ver⸗1860
ſaͤnke
unter ſeinen Fuͤßen: iſt das, was ihr
mir
ſagt, wahr? Er legte ſeine Arme um
ihren Leib und ſah ihr mit jammervoll
zer⸗
riſſenem Herzen ins Geſicht.
„Ach,“ rief
Toni,
und dies waren ihre letzten Worte: 1865
„du
haͤtteſt mir nicht mißtrauen ſollen!“ Und
damit hauchte ſie ihre ſchoͤne Seele
aus. Gu⸗
ſtav raufte ſich die
Haare. Gewiß! ſagte
er, da ihn die Vettern von der Leiche weg⸗
riſſen: ich
haͤtte dir nicht mißtrauen ſollen; 1870
denn du
warſt mir durch einen Eidſchwur ver⸗
lobt, obſchon wir
keine Worte daruͤber ge⸗
wechſelt
hatten!
Herr Stroͤmli druͤckte jam⸗
mernd den Latz, der des Maͤdchens Bruſt
umſchloß, nieder. Er ermunterte den Die⸗1875
ner, der mit einigen
unvollkommenen Ret⸗
tungs-Werkzeugen neben ihm
ſtand, die Ku⸗
gel, die, wie er meinte, in dem Bruſtknochen
ſtecken muͤſſe, auszuziehen; aber alle
Bemuͤ⸗
hung, wie geſagt, war
vergebens, ſie war von 1880
dem Blei ganz
durchbohrt, und ihre Seele
ſchon zu beſſeren
Sternen entflohn. — In⸗
83Faksimilezwiſchen war Guſtav ans Fenſter
getreten;
und waͤhrend Herr Stroͤmli und
ſeine Soͤhne
unter ſtillen Thraͤnen
berathſchlagten, was 1885
mit der Leiche
anzufangen ſey, und ob man
nicht die Mutter
herbeirufen ſolle: jagte Gu⸗
ſtav ſich die Kugel,
womit das andere Piſtol
geladen war, durchs
Hirn. Dieſe neue Schrek⸗
kensthat raubte den
Verwandten voͤllig alle 1890
Beſinnung. Die Huͤlfe wandte ſich jetzt auf
ihn; aber des
Aermſtem
Aermſten
[liest ›Ärmsten‹. Versale Umlaute werden in
heutiger Schreibung wiedergegeben]
[liest ›Ärmsten‹]
Schaͤdel war ganz
zerſchmettert, und
hing, da er ſich das Pi⸗
ſtol in den Mund geſetzt hatte,
zum Theil
an den Waͤnden umher. Herr Stroͤmli war 1895
der
Erſte, der ſich wieder ſammelte. Denn
da der Tag ſchon ganz hell durch die
Fenſter
ſchien, und auch Nachrichten
einliefen, daß
die Neger ſich ſchon wieder
auf dem Hofe
zeigten: ſo blieb nichts uͤbrig,
als ungeſaͤumt 1900
an den Ruͤckzug zu denken.
Man legte die
beiden Leichen, die man nicht der muthwilli⸗
gen Gewalt der Neger uͤberlaſſen
wollte, auf
ein Brett, und nachdem die
Buͤchſen von
neuem geladen waren, brach der
traurige Zug 1905
84Faksimilenach dem
Moͤwenweiher auf. Herr Stroͤmli,
den Knaben Seppy auf dem Arm, ging vor⸗
an; ihm folgten die beiden ſtaͤrkſten Diener,
welche
anf
auf
[liest ›auf‹]
[liest ›auf‹]
ihren Schultern die Leichen tru⸗
gen; der
Verwundete ſchwankte an einem 1910
Stabe
hinterher; und Adelbert und Gottfried
gingen
mit geſpannten Buͤchſen dem langſam
fortſchreitenden Leichenzuge zur Seite. Die
Neger, da ſie den
Haufen ſo ſchwach erblick⸗
ten, traten mit Spießen und
Gabeln aus ih⸗1915
ren Wohnungen hervor, und ſchienen Miene
zu machen, angreifen zu wollen; aber
Hoan⸗
go, den man die Vorſicht beobachtet hatte,
loszubinden, trat auf die Treppe des
Hauſes
hinaus, und winkte den Negern, zu
ruhen. 1920
„In Sainte
Luͤze!“ rief er
Herr
Herrn
Herrn [emendiert ohne Hinweis]
Stroͤmli
zu, der ſchon mit den Leichen
unter dem Thor⸗
weg war. „In Sainte Luͤze!“ antwortete
dieſer: worauf der Zug, ohne verfolgt zu
werden, auf das Feld hinauskam und die 1925
Waldung erreichte. Am Moͤwenweiher, wo
man die Familie fand,
grub man, unter vie⸗
len Thraͤnen, den Leichen ein
Grab; und
nachdem man noch die Ringe, die ſie
an der
85FaksimileHand trugen,
gewechſelt hatte, ſenkte man 1930
ſie unter
ſtillen Gebeten in die Wohnungen
des ewigen
Friedens ein. Herr Stroͤmli war
gluͤcklich genug, mit ſeiner Frau und ſeinen
Kindern, fuͤnf Tage darauf, Sainte Luͤze
zu
erreichen, wo er die beiden Negerknaben,
ſei⸗1935
nem Verſprechen gemaͤß, zuruͤckließ. Er traf
kurz vor Anfang
der Belagerung in Port au
Prince ein, wo er
noch auf den Waͤllen fuͤr
die Sache der
Weißen focht; und als die
Stadt nach einer
hartnaͤckigen Gegenwehr an 1940
den General
Deſſalines uͤberging, rettete er
ſich mit dem
franzoͤſiſchen Heer auf die eng⸗
liſche Flotte, von
wo die Familie nach Eu⸗
ropa uͤberſchiffte, und ohne
weitere Unfaͤlle
ihr Vaterland, die Schweiz,
erreichte. Herr 1945
Stroͤmli kaufte ſich daſelbſt mit dem Reſt
ſeines kleinen Vermoͤgens, in der Gegend des
Rigi, an; und noch im Jahr 1807 war un⸗
ter den
Buͤſchen ſeines Gartens das Denk⸗
maal zu ſehen, das
er Guſtav, ſeinem Vet⸗1950
ter, und der Verlobten
desſelben, der treuen
Toni, hatte ſetzen
laſſen.