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  • [048] K. v. Schlieben, 18.7.1801

[048] An Karoline v. Schlieben, 18. Juli 1801

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[1] [BKA IV/2 44] [DKV IV 234] [SE:1993 II 659] [Heimböckel:1999 (Reclam) 243] [MA II 739] Paris, d.]den 18t ]18. Juli, ]Juli 1801. ]1801 /

Liebe Freundinn.]Freundin. Entsinnen Sie sich wohl noch eines armen / kleinen Menschen, der vor einigen Monaten an einem etwas / stürmischen Tage, als die See ein wenig hoch gieng,]ging, mit dem Schiffchen / seines Lebens in Dreßden]Dresden einlief, und Anker warf in diesem / lieben Örtchen, weil der Boden ihm so wohl gefiel, und die Lüfte da so / warm wehten, und die [DKV IV 235] Menschen so freundlich waren? Entsinnen Sie / sich des Jünglings wohl noch, der zuweilen an kühlen Abenden unter den / dunkeln Linden des Schloßgartens, frohe Worte wechselnd, an Ihrer Seite / gieng,]ging, oder schweigend neben Ihnen stand auf der hohen Elbbrücke, / 10 wenn die Sonne hinter den blauen Bergen untergieng?]unterging? Entsinnen Sie / sich dessen wohl noch, der Sie zuweilen durch den Olymp der Griechen / voll Göttern Gärten [sic!] u.]und Heroen führte, und oft mit Ihnen vor der Mutter Gottes stand, vor / jener hohen Gestalt, mit der stillen Größe, mit dem hohen Ernste, mit der / Engelreinheit? Der Ihnen einst, am Abhange der Terrasse an jenem / schönen Morgen die Halme hielt, aus welchen Sie den Glücks-kranz]Glückskranz / flochten, der Ihre Wünsche erfüllen soll? Dem Sie ein wenig von Ihrem / Wohlwollen [SE:1993 II 660] schenkten und Ihr Andenken für immer versprachen? Blät/tern Sie in Ihrem Stammbuch nach — und wenn Sie ein Wort finden, das / warm ist, wie ein Herz, und einen [MA II 740] Namen, der hold klingt, wie ein / 20 Dichternamen, [Heimböckel:1999 (Reclam) 244] so können Sie nicht fehlen; denn kurz, es ist Heinrich / Kleist. /

Ja, liebe Freundinn,]Freundin, aus einem fernen fremden Lande fliegt der Geist / eines Freundes zu Ihnen zurück, und versetzt sich in das holde, freundliche Thal]Tal / von Dreßden,]Dresden, das mehr seine Heimath]Heimat ist, als das stolze, ungezügelte, ungeheure / Paris. Da fand er Wohlwollen bei guten Menschen, und es ist nichts, was ihn / inniger rühren, nichts was ihn tiefer bewegen kann, als dieses. O mögte]möchte das Gefühl, es mir / geschenkt zu haben, Sie nur halb so glücklich machen, als mich, es von Ihnen em/pfangen zu haben. Von Ihnen — denn ach, es bricht durch die kalte Kruste der Con/venienz,]Konvenienz, die von Jugend auf unsre Herzen überzieht, so selten, besonders bei / 30 den Weibern so selten, ein warmes Gefühl hervor — Sie dürfen nur immer / so viel fühlen, als der Hof erlaubt, und keinen Menschen mehr lieben, als / die französischen Gouvernanten vorschreiben. Und doch — den Mann erkennt / man an seinem Verstande; aber wenn man das Weib nicht an ihrem Herzen / erkennt, woran erkennt man es sonst? Ja, es giebt]gibt eine gewisse himmlische / Güte, womit die [DKV IV 236] Natur das Weib bezeichnet hat, u.]und die ihm allein eigen ist, Alles,]alles, / was sich ihr mit einem Herzen nähert, an sich zu schließen mit Innigkeit und / Liebe: so wie die Sonne, die wir darum auch Königinn, ]Königin, nicht König nennen,/ alle Weltkörper, die in ihrem Wirkungsraum schweben, an sich zieht mit sanften / unsichtbaren Banden, und in frohen Kreisen um sich führt, Licht u.]und Wärme und / 40 Leben ihnen gebend, bis sie am Ende ihrer spiralförmigen Bahn an ihrem / glühenden Busen liegen — /

Das ist die Einrichtung der Natur, und nur ein Thor]Tor oder ein Bösewicht kann / es wagen, daran etwas verändern zu wollen. Die Tugend hat ihren eignen / Wohlstand, und wo die Sittlichkeit im Herzen herrscht, da bedarf man ihres / Zeichens nicht mehr.* Minde-Pouet fügt die Fußnote in der HS direkt in den laufenden Text ein, ohne kenntlich zu machen, dass es sich in der HS um eine Fußnote handelt. Lassen Sie sich also nicht irren, was auch [Heimböckel:1999 (Reclam) 245] der Herold der / Etikette dagegen einwendet. Das ist die Weisheit des Staubes; was Ihnen Ihr / * Wozu wollte man das Gold vergolden? / [2] [BKA IV/2 47] Herz sagt, ist Goldklang, und der spricht es selbst aus, daß er ächt]echt sei. Alle / diese Vorschriften für Mienen u.]und Gebährden]Gebärden u.]und Worten u.]und Handlun[SE:1993 II 661] gen, sie sind nicht für / 50 den, dem ein Gott in seinem Innern heimlich anver[MA II 741] traut, was recht ist. Sie sind / nur Zeichen der Sittlichkeit, die oft nicht vorhanden ist, und mancher hüllt sein Herz / nur darum in diesen klösterlichen Schleier, die Blößen zu verstecken, die es sonst ver/rathen]verraten würden. Ihr Herz aber, liebe Freundinn,]Freundin, hat keine — warum wollten / Sie es nicht zeigen? Ach, es ist so menschlich zu fühlen u.]und zu lieben — O folgen / Sie immer diesem schönsten der Triebe; aber lieben Sie dann auch mit / edlerer Liebe, Alles]alles was edel u.]und gut ist u.]und schön. /

Ob Sie dabei glücklich sein werden — Ach, liebe Freundinn,]Freundin, wer ist glück/lich? — ? Der kalte Mensch, dem nie ein Gefühl die Brust erwärmte, der / nie empfand, wie süß eine Thräne,]Träne, wie süß ein Händedruck ist, der stumpf / 60 bei dem Schmerze, stumpf bei der Freude ist, er ist nicht glücklich; aber das / warme, weiche Herz, das unaufhörlich sich sehnt, immer wünscht und / hofft, u.]und niemals genießen kann, das [DKV IV 237] etwas ahndet, was es nirgends fin/det, das von jedem Eindrucke bewegt wird, jedem Gefühle sich hingiebt,]hingibt, / mit seiner Liebe alle Wesen umfaßt, an Alles]alles sich knüpft, wo es mit Wohl/wollen empfangen wird, sei es die Brust eines Freundes, die ihm Trost,/ oder der Schatten eines Baumes, der ihm Kühlung gab — — ist es / glücklich — ? /

Ich habe auf meiner Reise so viele guten lieben Menschen gefunden,/ in Leipzig einen Mann (Hindenburg) der mir wie ein Vater so ehrwürdig / 70 war, in Halberstadt Gleim, der ein Freund von Allen]allen ist, die Kleist / heißen, in Wernigerode eine treffliche Familie (die stollbergsche) ]Stolbergsche), Vgl. Anmerkung Zeile 127 (Brief v. 6. Juni 1801) in Rödel/heim bei Frankfurt am Main einen Menschen, den ich fast den beßten]besten / nennen mögte,]möchte, in Straßburg eine Frau, die ein fast so weiches / fühlbares Herz hat, wie Henriette, — — Aber zu schnell wechseln die / Erscheinungen im Leben u.]und zu [Heimböckel:1999 (Reclam) 246] eng ist das Herz, sie alle zu umfassen, und / immer die vergangnen schwinden, Platz zu machen den neuen — Zuletzt / ekelt dem Herzen vor den neuen, und matt giebt]gibt es sich Eindrücken hin,/ deren Vergänglichkeit es vorempfindet — Ach, es muß öde u.]und leer und trau/rig sein, später zu sterben, als das Herz — / 80

Aber noch lebt es — Zwar hier in Paris ist es so gut, als todt.]tot. Wenn ich / das Fenster öffne, so sehe ich nichts, als die blasse, matte, fade Stadt, mit ihren / hohen, grauen Schieferdächern u.]und ihren ungestalteten Schornsteinen,/ ein wenig von den Spitzen der Thuillerieen,]Tuilerieen, [SE:1993 II 662] und lauter Menschen, die / man vergißt, wenn [MA II 742] sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen,/ ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn / in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, / um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig be/trügen, und dabei thun,]tun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt an einander / vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen,/ 90 denen nichts gleichgültiger ist, als ihres]ihresgleichen; Gleichen;] ehe man eine Erscheinung ge/faßt hat, ist sie von zehn andern verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen,/ keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier / so unbrauch[DKV IV 238] bar, wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn / [3] [BKA IV/2 48] ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan. / Darum schließe ich zuweilen die Augen und denke an Dreßden]Dresden — Ach, ich zähle / diesen Aufenthalt zu den frohsten Stunden meines Lebens. Die schöne, große]große, / edle, ]edle erhabene Natur, die Schätze von Kunstwerken, die Frühlingssonne, und / so viel Wohlwollen — Was macht Ihre würdige Frau Mutter? Und Ihre]ihre Tante? / Und Einsiedels? Und Ihre liebe Schwester? Wenn ein fremder Maler eine / 100 Deutsche malen wollte, und fragte mich nach der Gestalt, nach den Zügen, nach / der Farbe der Augen, der Wangen, der Haare, so würde ich ihn zu Ihrer Schwester / führen u.]und sagen, das ist ein ächtes]echtes deutsches Mädchen. Was macht [Heimböckel:1999 (Reclam) 247] auch mein liebes / Dreßden?]Dresden? / Ich sehe es noch vor mir liegen in der Tiefe der Berge, wie der Schauplatz / in der Mitte eines Amphitheaters — ich sehe die Elbhöhen, die in einiger Ent/fernung, als ob sie aus Ehrfurcht nicht näher zu rücken wagten, gelagert sind,/ und gleichsam von Bewunderung angewurzelt scheinen — und die Felsen im / Hintergrunde von Königstein, die wie ein bewegtes Meer von Erde aussehen,/ und in den schönsten Linien geformt sind, als hätten da die Engel im / 110 Sande gespielt — und die Elbe, die schnell ihr rechtes Ufer verläßt, ihren / Liebling Dreßden]Dresden zu küssen, die bald zu dem einen, bald zu dem andern / Ufer flieht, als würde ihr die Wahl schwer, und in tausend Umwegen,/ wie vor Entzücken, durch die freundlichen Fluren wankt, als wollte / sie nicht ins Meer — und Lokowitz, das versteckt hinter den Bergen liegt,/ als ob es sich schämte — und die Weißritz, die sich aus den Tiefen des plauenschen]Plauenschen / Grundes losringt, wie ein ver[MA II 743] stohlnes [SE:1993 II 663] Gefühl aus der Tiefe der Brust,/ die, immer an Felsen wie an Vorurtheilen]Vorurteilen sich stoßend, nicht zornig,/ aber doch ein wenig unwillig murmelt, sich unermüdet durch alle Hin/dernisse windet, bis sie an die Freiheit des Tages trit]tritt und sich ausbreitet / 120 in dem offnen Felde u.]und frei u.]und ruhig ihrer Bestimmung gemäß ins Meer / fließt — /

Einige große Naturscenen,]Naturszenen, die freilich wohl mit der [DKV IV 239] dreßdenschen]dresdenschen wett/eifern dürfen, habe ich doch auch auf meiner Reise kennen gelernt. Ich habe / den Harz bereiset u.]und den Brocken bestiegen. Zwar war an diesem Tage die / Sonne in Regenwolken gehüllt, und wenn die Könige trauren, so trauert / das Land. Über das ganze Gebirge war ein Nebelflor geschlagen und wir / standen vor der Natur, wie vor einem Meisterstücke, das der Künstler / aus Bescheidenheit mit einem Schleier verhüllt hat. Aber zuweilen ließ / er uns durch die zerrißnen Wolken einen Blick des Entzückens thun,]tun, denn / 130 er fiel auf ein Parradies]Paradies — /

Doch der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser großer / Gärtner sichtbar con amore gearbeitet hat, sind die Ufer des Rheins von / Mainz bis Coblenz,]Koblenz, die [Heimböckel:1999 (Reclam) 248] wir auf dem Strome selbst bereiset haben. Das / ist eine Gegend wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann / nichts schöneres]Schöneres erdenken, als dieses Thal,]Tal, das sich bald öffnet, bald schließt,/ bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt. Pfeilschnell strömt der / Rhein heran von Mainz u.]und gradaus, als hätte er sein Ziel schon im Auge,/ als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es ungeduldig / [4] [BKA IV/2 51] auf dem kürzesten Wege ereilen. Aber ein Rebenhügel (der Rheingau) trit]tritt / 140 ihm in den Weg u.]und beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem / Sinn, wie eine Gattinn]Gattin den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt / ihm mit stiller Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird — /— und er ehrt die edle Warnung u.]und giebt,]gibt, der freundlichen Weisung folgend,/ sein voreiliges Ziel auf, und durchbricht den Rebenhügel nicht, sondern / umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe dankbar seine blumigen Füße ihm / küssend — /

Aber still und breit u.]und majestätisch strömt er bei Bingen heran, und / sicher, wie ein Held zum Siege, und langsam, als ob er seine Bahn wohl / vollenden würde — und ein Gebirge (der [MA II 744] Hundsrück) wirft sich ihm in / 150 den Weg, wie die Verläumdung]Verleumdung [SE:1993 II 664] der unbescholtenen Tugend. Er aber durch/bricht es, und wankt nicht, und die Felsen weichen ihm aus, und blicken / mit Bewunderung u.]und Erstaunen auf ihn hinab — doch [DKV IV 240] er eilt ver/ächtlich bei ihnen vorüber, aber ohne zu frohlocken, und die einzige Rache,/ die er sich erlaubt, ist diese, ihnen in seinem klaren Spiegel ihr schwar/zes Bild zu zeigen — /

Ich wäre auf dieser einsamen Reise, die ich mit meiner Schwester machte,/ sehr glücklich gewesen, wenn, — wenn — — Ach, liebe Freundinn,]Freundin, Ulrike / ist ein edles, weises, vortreffliches, großmüthiges]großmütiges Mädchen, und ich müß/te von allem diesen nichts sein, wenn ich das nicht fühlen wollte. Aber — / 160 so viel sie auch besitzen, so viel sie auch geben kann, an ihrem Busen / läßt sich doch nicht ruhen — Sie ist eine weibliche Heldenseele, die von / ihrem Geschlechte nichts hat, als [Heimböckel:1999 (Reclam) 249] die Hüften, ein Mädchen, das orthogra/phisch schreibt u.]und handelt, nach dem Takte spielt und denkt — — Doch / still davon. Auch der leiseste Tadel ist zu bitter für ein Wesen, das / keinen Fehler hat, als diesen zu groß zu sein für ihr Geschlecht. /

Seit 8 Tagen sind wir nun hier in Paris, und wenn ich Ihnen Alles]alles / schreiben wollte, was ich in diesen Tagen sah u.]und hörte u.]und dachte u.]und empfand, so wür/de das Papier nicht hinreichen, das auf meinem Tische liegt. Ich habe dem / 14t ]14. Juli, dem Jahrestage der Zerstörung der Bastille beigewohnt, an / 170 welchem zugleich das Fest der wiedererrungenen Freiheit u.]und das Frie/densfest gefeiert ward. Wie solche Tage würdig begangen werden / könnten, weiß ich nicht bestimmt; doch dies weiß ich, daß sie fast nicht / unwürdiger begangen werden können, als dieser. Nicht als ob es an / Obelisken u.]und Triumphbogen u.]und Dekorationen, u.]und Illuminationen, u.]und Feuer/werken u.]und Luftbällen u.]und Canonaden]Kanonaden gefehlt hätte, o behüte. Aber keine / von allen Anstalten erinnerte an die Hauptgedanken, die Absicht, den Geist des Volks / durch eine bis zum Ekel gehäufte Menge von Vergnügen zu zerstreuen, / war überall herrschend, und wenn die Regierung einem Manne / von Ehre hätte zumuthen]zumuten wollen, durch die mâts de cocagne, u.]und die jeux de / 180 caroussels, u.]und die theatres forains u.]und die escamoteurs, u.]und die danseurs de / corde mit Heiligkeit an die Göttergaben Freiheit u.]und Frieden erin/nert zu werden, so wäre [DKV IV 241] dies beleidigender, als ein Faustschlag in / sein [MA II 745] Antlitz. — Rousseau [SE:1993 II 665] ist immer das 4t ]4. Wort der Franzosen; und / wie würde er sich schämen, wenn man ihm sagte, daß dies sein Werk / sei? — /

[5] [BKA IV/2 52]

Doch ich muß schließen — Diesen Brief nimmt Alexander von / Humboldt, Es muss sich hier um Wilhelm v. Humboldt handeln. Alexander v. Humboldt befand sich seit dem 5. Juni 1799 auf seiner langen Amerika-Forschungsreise, von der er erst am 3. August 1804 zurückkehren sollte. Dagegen beendete Wilhelm v. Humboldt mit Familie seinen 4-jährigen Aufenthalt in Paris (unterbrochen durch Reisen nach Spanien) und reiste nach Berlin zurück. der morgen früh mit seiner Familie von Paris ab/reiset, mit sich bis Weimar; u.]und jetzt ist es 9 Uhr Abends.]abends. — Von mir kann / ich ihnen]Ihnen Ihnen Ihnen nur so viel sagen, daß ich wenigstens ein Jahr hier bleiben / 190 werde, das Studium der Naturwissenschaft auf dieser / Schule der Welt fortzusetzen. Wohin ich dann mich wenden werde, u.]und ob / der Wind des [Heimböckel:1999 (Reclam) 250] Schicksals noch einmal mein Lebensschiff nach Dreßden]Dresden / treiben wird — ? Ach, ich zweifle daran. Es ist wahrscheinlich, daß ich nie / in mein Vaterland zurückkehre. In welchem Welttheile]Weltteile ich einst das / Pflänzchen des Glückes pflücken werde, und ob es überhaupt irgendwo für / mich blüht — ? Ach, dunkel, dunkel ist das Alles.]alles. — Ich hoffe auf etwas Gu/tes, doch bin ich auf das Schlimmste gefaßt. Freude giebt]gibt es ja doch auf / jedem Lebenswege, selbst das Bitterste ist doch auf kurze Augenblicke / süß. Wenn nur der Grund recht dunkel ist, so sind auch matte Farben / 200 hell. Der helle Sonnenschein des Glücks, der uns verblendet, ist auch / nicht einmal für unser schwaches Auge gemacht. Am Tage sehn wir / wir [gestr.] ][gestr.] Kleist wiederholt das ›wir‹ am Anfang der nächsten Zeile. wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehn wir in die Ster/ne — — /

Und soll ich diesen Brief schließen, ohne Sie mit meiner ganzen / Seele zu begrüßen? O mögte]möchte Ihnen der Himmel nur ein wenig von dem / Glücke schenken, von dem Sie so viel, so viel verdienen. Auf die Erfül/lung Ihrer liebsten Wünsche zu hoffen, zu hoffen —? Ja, immerhin. Aber / sie zu erwarten —? Ach, liebe Freundinn,]Freundin, wenn Sie sich Thränen]Tränen er/sparen wollen, so erwarten Sie wenig von dieser Erde. Sie kann nichts / 210 geben, was ein reines Herz wahrhaft glücklich machen könnte. Blicken / Sie zuweilen, wenn es Nacht ist, in den Himmel. Wenn Sie auf diesem / Sterne keinen Platz finden können, der Ihrer würdig ist, so finden / Sie vielleicht auf einem andern einen um so bessern. /

[DKV IV 242]

Und nun leben Sie wohl — der Himmel schenke Ihnen einen / heitern, frischen Morgen — einen Regenschauer in der Mittagshitze,/ — und einen stillen, kühlen sternenklaren Abend, an welchem sich leicht / u.]und sanft einschlafen läßt. Heinrich Kleist. /

[MA II 746]

N. S. Ich habe vergessen, Sie um eine Antwort zu bitten; war / diese Bitte nöthig,]nötig, oder würden Sie von selbst meinem Wunsche [SE:1993 II 666] zu/ 220 vorgekommen sein? — Noch Eines.]eines. Ich wollte auch Einsiedeln mit / dieser Gelegenheit schreiben, aber ich weiß seinen Wohnort nicht, auch / ist es jetzt wegen Mangel [Heimböckel:1999 (Reclam) 251] an Zeit nicht mehr möglich. Er hat mir / so viele Gefälligkeiten erzeigt, u.]und ich fühle, daß ich ihm Dank schuldig / bin. Wollen Sie es wohl übernehmen, ihm dies einmal gelegentlich / mitzutheilen?]mitzuteilen? Es wird ihn sehr interessiren,]interessieren, zu wissen, wie wir / mit unsern Pferden, die er uns gekauft hat, zufrieden gewesen / sind. Schreiben Sie ihm, daß es keine gesündern, dienstfertigern / [6] [BKA IV/2 55] u.]und fleißigern Thiere]Tiere gab, als diese zwei Pferde. Wir haben sie un/aufhörlich gebraucht, sie haben uns nie im Stiche gelassen, und / 230 wenn wir 14 Stunden an einem Tage gemacht hatten, so brauch/ten wir sie nur vollauf mit Haber zu füttern u.]und ein wenig schmei/chelnd hinter den Ohren zu kitzeln, so zogen sie uns am folgenden / Tage noch 2 Stunden weiter. In 8 Tagen haben wir ohne auszuruhn / von Straßburg bis Paris 120 Poststunden gemacht — Hier / nun haben wir sie verkauft, und nie ist mir das Geld so ver/ächtlich gewesen, als der Preis für diese Thiere,]Tiere, die wir gleich/gültig der Peitsche des Philisters übergeben mußten, nachdem sie / uns mit allen ihren Kräften gedient hatten. Übrigens war die/ser Preis 13 französische Louis d’or,]Louisdor, circa 87 Rth., Rth, also nur 2 Thaler]Taler / 240 Verlust. — Ein einziges Mal waren wir ein wenig böse / auf sie, und das mit Recht, denke ich. Wir hatten ihnen näm/lich in Butzbach, bei Frankfurt am Main, die Zügel abnehmen / lassen vor einem Wirthshause,]Wirtshause, sie zu tränken u.]und mit Heu zu / futtern. Dabei war Ulrike so wie ich in dem Wagen sitzen geblie/ben, als mit einemmal ein Esel hinter uns / ein so abscheuliches Geschrei erhob, daß wir wirklich grade / so vernünftig sein mußten, wie wir sind, [DKV IV 243] um dabei nicht / scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben / keine Vernunft zu besitzen, hoben sich hoch in die Höhe u.]und / 250 giengen]gingen spornstreichs mit uns in vollem Carriere]Karriere / über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich grif]griff nach dem / Zügel, aber die hiengen]hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust,/ u.]und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug / schon der Wagen mit uns um, u.]und wir stürzten — Und an / einem Eselsgeschrei hieng]hing ein Menschenleben? Und wenn / es nun in dieser Minute geschlos[MA II 747] sen ge[Heimböckel:1999 (Reclam) 252] wesen wäre, darum / also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit / diesem dunkeln, räthselhaften,]rätselhaften, irrdischen]irdischen Leben gewollt, und / weiter nichts — ? Doch für diesmal [SE:1993 II 667] war es noch nicht geschlossen,/ 260 — wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen? / Kurz, wir standen beide ganz frisch u.]und gesund von dem Steinpflaster / auf u.]und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, daß / die Räder zu oberst standen, ein Rad war ganz zerschmet/tert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen, das Alles]alles / kostete uns 3 Louis d’or]Louisdor u.]und 24 Stunden, am andern Morgen gieng]ging / es weiter — Wann wird der letzte sein? /

—

Grüßen Sie Alles,]alles, was mich ein wenig liebt, auch Ihren Bruder. /

48
An Karoline v. Schlieben, 18. Juli 1801

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/briefe/048, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 23.08.2025

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Apparat

Textwiedergabe nach Kopie der Handschrift. Die Handschrift ist in Besitz von:
Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden: Mscr. Dresd. App. 204, 45

Erstdruck: [ES:1904] V 232–240

Pagina Kleist-Ausgaben
  • [BKA] (047) IV/2 43–55
  • [MA] (047) II 739–747
  • [DKV] (051) IV 234–243
  • [SE:1993] (048) II 659–667
  • [Heimböckel:1999 (Reclam)] (047) 243–252
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Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)

Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.

[MP:1936] [2 Abw.]
  • 190ihnen]Ihnen Ihnen Ihnen ] Ihnen
  • 203wir [gestr.] ][gestr.] ] [gestr.]
[MA:2010] [3 Abw.]
  • 13Göttern Gärten [sic!] ] Gärten [sic!]
  • 190ihnen]Ihnen Ihnen Ihnen ] Ihnen
  • 240Rth., Rth, ] Rth,
Stellenkommentar

46*Minde-Pouet fügt die Fußnote in der HS direkt in den laufenden Text ein, ohne kenntlich zu machen, dass es sich in der HS um eine Fußnote handelt.

72 stollbergsche) Vgl. Anmerkung Zeile 127 (Brief v. 6. Juni 1801)

188 Alexander von Humboldt, Es muss sich hier um Wilhelm v. Humboldt handeln. Alexander v. Humboldt befand sich seit dem 5. Juni 1799 auf seiner langen Amerika-Forschungsreise, von der er erst am 3. August 1804 zurückkehren sollte. Dagegen beendete Wilhelm v. Humboldt mit Familie seinen 4-jährigen Aufenthalt in Paris (unterbrochen durch Reisen nach Spanien) und reiste nach Berlin zurück.

203 wir Kleist wiederholt das ›wir‹ am Anfang der nächsten Zeile.

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