[048] An Karoline v. Schlieben, 18. Juli 1801
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[1]
[BKA IV/2 44]
[DKV IV 234]
[SE:1993 II 659]
[Heimböckel:1999 (Reclam) 243]
[MA II 739]
Paris,
d.]den
18t
]18.
Juli,
]Juli
1801.
]1801
Liebe
Freundinn.]Freundin.
Entsinnen
Sie
sich
wohl
noch
eines
armen
kleinen
Menschen, der
vor
einigen
Monaten
an
einem
etwas
stürmischen
Tage, als
die
See
ein
wenig
hoch
gieng,]ging,
mit
dem
Schiffchen
seines
Lebens
in
Dreßden]Dresden
einlief,
und
Anker
warf
in
diesem
5
lieben
Örtchen, weil
der
Boden
ihm
so
wohl
gefiel, und
die
Lüfte
da
so
warm
wehten, und
die
[DKV IV 235]
Menschen
so
freundlich
waren?
Entsinnen
Sie
sich
des
Jünglings
wohl
noch, der
zuweilen
an
kühlen
Abenden
unter
den
dunkeln
Linden
des
Schloßgartens,
frohe
Worte
wechselnd, an
Ihrer
Seite
gieng,]ging,
oder
schweigend
neben
Ihnen
stand
auf
der
hohen
Elbbrücke,
10
wenn
die
Sonne
hinter
den
blauen
Bergen
untergieng?]unterging?
Entsinnen
Sie
sich
dessen
wohl
noch, der
Sie
zuweilen
durch
den
Olymp
der
Griechen
voll
Göttern
Gärten [sic!]
u.]und
Heroen
führte, und
oft
mit
Ihnen
vor
der
Mutter
Gottes
stand, vor
jener
hohen
Gestalt, mit
der
stillen
Größe, mit
dem
hohen
Ernste, mit
der
Engelreinheit?
Der
Ihnen
einst, am
Abhange
der
Terrasse
an
jenem
15
schönen
Morgen
die
Halme
hielt, aus
welchen
Sie
den
Glücks-kranz]Glückskranz
flochten, der
Ihre
Wünsche
erfüllen
soll?
Dem
Sie
ein
wenig
von
Ihrem
Wohlwollen
[SE:1993 II 660]
schenkten
und
Ihr
Andenken
für
immer
versprachen?
Blät⸗
tern
Sie
in
Ihrem
Stammbuch
nach — und
wenn
Sie
ein
Wort
finden, das
warm
ist, wie
ein
Herz, und
einen
[MA II 740]
Namen, der
hold
klingt, wie
ein
20
Dichternamen, [Heimböckel:1999 (Reclam) 244]
so
können
Sie
nicht
fehlen; denn
kurz, es
ist
Heinrich
Kleist.
Ja, liebe
Freundinn,]Freundin,
aus
einem
fernen
fremden
Lande
fliegt
der
Geist
eines
Freundes
zu
Ihnen
zurück, und
versetzt
sich
in
das
holde, freundliche
Thal]Tal
von
Dreßden,]Dresden,
das
mehr
seine
Heimath]Heimat
ist, als
das
stolze, ungezügelte,
ungeheure
25
Paris.
Da
fand
er
Wohlwollen
bei
guten
Menschen,
und
es
ist
nichts, was
ihn
inniger
rühren, nichts
was
ihn
tiefer
bewegen
kann, als
dieses.
O
mögte]möchte
das
Gefühl, es
mir
geschenkt
zu
haben, Sie
nur
halb
so
glücklich
machen, als
mich, es
von
Ihnen
em⸗
pfangen
zu
haben.
Von
Ihnen — denn
ach, es
bricht
durch
die
kalte
Kruste
der
Con⸗
venienz,]Konvenienz,
die
von
Jugend
auf
unsre
Herzen
überzieht, so
selten, besonders
bei
30
den
Weibern
so
selten, ein
warmes
Gefühl
hervor —
Sie
dürfen
nur
immer
so
viel
fühlen, als
der
Hof
erlaubt, und
keinen
Menschen
mehr
lieben, als
die
französischen
Gouvernanten
vorschreiben.
Und
doch — den
Mann
erkennt
man
an
seinem
Verstande; aber
wenn
man
das
Weib
nicht
an
ihrem
Herzen
erkennt, woran
erkennt
man
es
sonst?
Ja, es
giebt]gibt
eine
gewisse
himmlische
35
Güte, womit
die
[DKV IV 236]
Natur
das
Weib
bezeichnet
hat, u.]und
die
ihm
allein
eigen
ist, Alles,]alles,
was
sich
ihr
mit
einem
Herzen
nähert, an
sich
zu
schließen
mit
Innigkeit
und
Liebe: so
wie
die
Sonne, die
wir
darum
auch
Königinn, ]Königin,
nicht
König
nennen,
alle
Weltkörper, die
in
ihrem
Wirkungsraum
schweben, an
sich
zieht
mit
sanften
unsichtbaren
Banden, und
in
frohen
Kreisen
um
sich
führt, Licht
u.]und
Wärme
und
40
Leben
ihnen
gebend, bis
sie
am
Ende
ihrer
spiralförmigen
Bahn
an
ihrem
glühenden
Busen
liegen —
Das
ist
die
Einrichtung
der
Natur, und
nur
ein
Thor]Tor
oder
ein
Bösewicht
kann
es
wagen, daran
etwas
verändern
zu
wollen.
Die
Tugend
hat
ihren
eignen
Wohlstand, und
wo
die
Sittlichkeit
im
Herzen
herrscht, da
bedarf
man
ihres
45
Zeichens
nicht
mehr.*
Lassen
Sie
sich
also
nicht
irren, was
auch
[Heimböckel:1999 (Reclam) 245]
der
Herold
der
Etikette
dagegen
einwendet.
Das
ist
die
Weisheit
des
Staubes; was
Ihnen
Ihr
* Wozu
wollte
man
das
Gold
vergolden?
[2]
[BKA IV/2 47]
Herz
sagt, ist
Goldklang, und
der
spricht
es
selbst
aus, daß
er
ächt]echt
sei.
Alle
diese
Vorschriften
für
Mienen
u.]und
Gebährden]Gebärden
u.]und
Worten
u.]und
Handlun[SE:1993 II 661] gen,
sie
sind
nicht
für
50
den, dem
ein
Gott
in
seinem
Innern
heimlich
anver[MA II 741] traut, was
recht
ist.
Sie
sind
nur
Zeichen
der
Sittlichkeit, die
oft
nicht
vorhanden
ist, und
mancher
hüllt
sein
Herz
nur
darum
in
diesen
klösterlichen
Schleier, die
Blößen
zu
verstecken, die
es
sonst
ver⸗
rathen]verraten
würden.
Ihr
Herz
aber, liebe
Freundinn,]Freundin,
hat
keine — warum
wollten
Sie
es
nicht
zeigen?
Ach, es
ist
so
menschlich
zu
fühlen
u.]und
zu
lieben —
O
folgen
55
Sie
immer
diesem
schönsten
der
Triebe; aber
lieben
Sie
dann
auch
mit
edlerer
Liebe,
Alles]alles
was
edel
u.]und
gut
ist
u.]und
schön.
Ob
Sie
dabei
glücklich
sein
werden —
Ach, liebe
Freundinn,]Freundin,
wer
ist
glück⸗
lich? —
?
Der
kalte
Mensch, dem
nie
ein
Gefühl
die
Brust
erwärmte, der
nie
empfand, wie
süß
eine
Thräne,]Träne,
wie
süß
ein
Händedruck
ist, der
stumpf
60
bei
dem
Schmerze, stumpf
bei
der
Freude
ist, er
ist
nicht
glücklich; aber
das
warme, weiche
Herz, das
unaufhörlich
sich
sehnt, immer
wünscht
und
hofft, u.]und
niemals
genießen
kann, das
[DKV IV 237]
etwas
ahndet, was
es
nirgends
fin⸗
det, das
von
jedem
Eindrucke
bewegt
wird, jedem
Gefühle
sich
hingiebt,]hingibt,
mit
seiner
Liebe
alle
Wesen
umfaßt, an
Alles]alles
sich
knüpft, wo
es
mit
Wohl⸗65
wollen
empfangen
wird, sei
es
die
Brust
eines
Freundes, die
ihm
Trost,
oder
der
Schatten
eines
Baumes, der
ihm
Kühlung
gab — — ist
es
glücklich — ?
Ich
habe
auf
meiner
Reise
so
viele
guten
lieben
Menschen
gefunden,
in
Leipzig
einen
Mann
(Hindenburg)
der
mir
wie
ein
Vater
so
ehrwürdig
70
war, in
Halberstadt
Gleim,
der
ein
Freund
von
Allen]allen
ist, die
Kleist
heißen, in
Wernigerode
eine
treffliche
Familie
(die
stollbergsche)
]Stolbergsche),
in
Rödel⸗
heim
bei
Frankfurt
am
Main
einen
Menschen, den
ich
fast
den
beßten]besten
nennen
mögte,]möchte,
in
Straßburg
eine
Frau,
die
ein
fast
so
weiches
fühlbares
Herz
hat, wie
Henriette,
— —
Aber
zu
schnell
wechseln
die
75
Erscheinungen
im
Leben
u.]und
zu
[Heimböckel:1999 (Reclam) 246]
eng
ist
das
Herz, sie
alle
zu
umfassen, und
immer
die
vergangnen
schwinden, Platz
zu
machen
den
neuen —
Zuletzt
ekelt
dem
Herzen
vor
den
neuen, und
matt
giebt]gibt
es
sich
Eindrücken
hin,
deren
Vergänglichkeit
es
vorempfindet —
Ach, es
muß
öde
u.]und
leer
und
trau⸗
rig
sein, später
zu
sterben, als
das
Herz —
80
Aber
noch
lebt
es —
Zwar
hier
in
Paris
ist
es
so
gut, als
todt.]tot.
Wenn
ich
das
Fenster
öffne,
so
sehe
ich
nichts, als
die
blasse, matte, fade
Stadt, mit
ihren
hohen, grauen
Schieferdächern
u.]und
ihren
ungestalteten
Schornsteinen,
ein
wenig
von
den
Spitzen
der
Thuillerieen,]Tuilerieen,
[SE:1993 II 662]
und
lauter
Menschen, die
man
vergißt, wenn
[MA II 742]
sie
um
die
Ecke
sind.
Noch
kenne
ich
wenige
von
ihnen,85
ich
liebe
noch
keinen, und
weiß
nicht, ob
ich
einen
lieben
werde.
Denn
in
den
Hauptstädten
sind
die
Menschen
zu
gewitzigt,
um
offen, zu
zierlich,
um
wahr
zu
sein.
Schauspieler
sind
sie, die
einander
wechselseitig
be⸗
trügen, und
dabei
thun,]tun,
als
ob
sie
es
nicht
merkten.
Man
geht
kalt
an
einander
vorüber; man
windet
sich
in
den
Straßen
durch
einen
Haufen
von
Menschen,90
denen
nichts
gleichgültiger
ist, als
ihres]ihresgleichen;
Gleichen;]
ehe
man
eine
Erscheinung
ge⸗
faßt
hat, ist
sie
von
zehn
andern
verdrängt; dabei
knüpft
man
sich
an
keinen,
keiner
knüpft
sich
an
uns; man
grüßt
einander
höflich, aber
das
Herz
ist
hier
so
unbrauch[DKV IV 238] bar, wie
eine
Lunge
unter
der
luftleeren
Campane,
und
wenn
[3]
[BKA IV/2 48]
ihm
einmal
ein
Gefühl
entschlüpft, so
verhallt
es, wie
ein
Flötenton
im
Orkan.
95
Darum
schließe
ich
zuweilen
die
Augen
und
denke
an
Dreßden]Dresden
—
Ach, ich
zähle
diesen
Aufenthalt
zu
den
frohsten
Stunden
meines
Lebens.
Die
schöne, große]große,
edle,
]edle
erhabene
Natur, die
Schätze
von
Kunstwerken, die
Frühlingssonne, und
so
viel
Wohlwollen —
Was
macht
Ihre
würdige
Frau
Mutter?
Und
Ihre]ihre
Tante?
Und
Einsiedels?
Und
Ihre
liebe
Schwester?
Wenn
ein
fremder
Maler
eine
100
Deutsche
malen
wollte, und
fragte
mich
nach
der
Gestalt, nach
den
Zügen, nach
der
Farbe
der
Augen, der
Wangen, der
Haare, so
würde
ich
ihn
zu
Ihrer
Schwester
führen
u.]und
sagen, das
ist
ein
ächtes]echtes
deutsches
Mädchen.
Was
macht
[Heimböckel:1999 (Reclam) 247]
auch
mein
liebes
Dreßden?]Dresden?
Ich
sehe
es
noch
vor
mir
liegen
in
der
Tiefe
der
Berge, wie
der
Schauplatz
105
in
der
Mitte
eines
Amphitheaters — ich
sehe
die
Elbhöhen, die
in
einiger
Ent⸗
fernung, als
ob
sie
aus
Ehrfurcht
nicht
näher
zu
rücken
wagten, gelagert
sind,
und
gleichsam
von
Bewunderung
angewurzelt
scheinen — und
die
Felsen
im
Hintergrunde
von
Königstein,
die
wie
ein
bewegtes
Meer
von
Erde
aussehen,
und
in
den
schönsten
Linien
geformt
sind, als
hätten
da
die
Engel
im
110
Sande
gespielt — und
die
Elbe,
die
schnell
ihr
rechtes
Ufer
verläßt, ihren
Liebling
Dreßden]Dresden
zu
küssen, die
bald
zu
dem
einen, bald
zu
dem
andern
Ufer
flieht, als
würde
ihr
die
Wahl
schwer, und
in
tausend
Umwegen,
wie
vor
Entzücken,
durch
die
freundlichen
Fluren
wankt, als
wollte
sie
nicht
ins
Meer — und
Lokowitz,
das
versteckt
hinter
den
Bergen
liegt,115
als
ob
es
sich
schämte — und
die
Weißritz,
die
sich
aus
den
Tiefen
des
plauenschen]Plauenschen
Grundes
losringt, wie
ein
ver[MA II 743] stohlnes
[SE:1993 II 663]
Gefühl
aus
der
Tiefe
der
Brust,
die, immer
an
Felsen
wie
an
Vorurtheilen]Vorurteilen
sich
stoßend, nicht
zornig,
aber
doch
ein
wenig
unwillig
murmelt, sich
unermüdet
durch
alle
Hin⸗
dernisse
windet, bis
sie
an
die
Freiheit
des
Tages
trit]tritt
und
sich
ausbreitet
120
in
dem
offnen
Felde
u.]und
frei
u.]und
ruhig
ihrer
Bestimmung
gemäß
ins
Meer
fließt —
Einige
große
Naturscenen,]Naturszenen,
die
freilich
wohl
mit
der
[DKV IV 239]
dreßdenschen]dresdenschen
wett⸗
eifern
dürfen, habe
ich
doch
auch
auf
meiner
Reise
kennen
gelernt.
Ich
habe
den
Harz
bereiset
u.]und
den
Brocken
bestiegen.
Zwar
war
an
diesem
Tage
die
125
Sonne
in
Regenwolken
gehüllt,
und
wenn
die
Könige
trauren, so
trauert
das
Land.
Über
das
ganze
Gebirge
war
ein
Nebelflor
geschlagen
und
wir
standen
vor
der
Natur, wie
vor
einem
Meisterstücke, das
der
Künstler
aus
Bescheidenheit
mit
einem
Schleier
verhüllt
hat.
Aber
zuweilen
ließ
er
uns
durch
die
zerrißnen
Wolken
einen
Blick
des
Entzückens
thun,]tun,
denn
130
er
fiel
auf
ein
Parradies]Paradies
—
Doch
der
schönste
Landstrich
von
Deutschland,
an
welchem
unser
großer
Gärtner
sichtbar
con
amore
gearbeitet
hat, sind
die
Ufer
des
Rheins
von
Mainz
bis
Coblenz,]Koblenz,
die
[Heimböckel:1999 (Reclam) 248]
wir
auf
dem
Strome
selbst
bereiset
haben.
Das
ist
eine
Gegend
wie
ein
Dichtertraum, und
die
üppigste
Phantasie
kann
135
nichts
schöneres]Schöneres
erdenken, als
dieses
Thal,]Tal,
das
sich
bald
öffnet, bald
schließt,
bald
blüht, bald
öde
ist, bald
lacht, bald
schreckt.
Pfeilschnell
strömt
der
Rhein
heran
von
Mainz
u.]und
gradaus, als
hätte
er
sein
Ziel
schon
im
Auge,
als
sollte
ihn
nichts
abhalten, es
zu
erreichen, als
wollte
er
es
ungeduldig
[4]
[BKA IV/2 51]
auf
dem
kürzesten
Wege
ereilen.
Aber
ein
Rebenhügel
(der
Rheingau)
trit]tritt
140
ihm
in
den
Weg
u.]und
beugt
seinen
stürmischen
Lauf, sanft
aber
mit
festem
Sinn, wie
eine
Gattinn]Gattin
den
stürmischen
Willen
ihres
Mannes, und
zeigt
ihm
mit
stiller
Standhaftigkeit
den
Weg, der
ihn
ins
Meer
führen
wird —
— und
er
ehrt
die
edle
Warnung
u.]und
giebt,]gibt,
der
freundlichen
Weisung
folgend,
sein
voreiliges
Ziel
auf, und
durchbricht
den
Rebenhügel
nicht, sondern
145
umgeht
ihn, mit
beruhigtem
Laufe
dankbar
seine
blumigen
Füße
ihm
küssend —
Aber
still
und
breit
u.]und
majestätisch
strömt
er
bei
Bingen
heran, und
sicher, wie
ein
Held
zum
Siege, und
langsam, als
ob
er
seine
Bahn
wohl
vollenden
würde — und
ein
Gebirge (der
[MA II 744]
Hundsrück)
wirft
sich
ihm
in
150
den
Weg, wie
die
Verläumdung]Verleumdung
[SE:1993 II 664]
der
unbescholtenen
Tugend.
Er
aber
durch⸗
bricht
es, und
wankt
nicht, und
die
Felsen
weichen
ihm
aus, und
blicken
mit
Bewunderung
u.]und
Erstaunen
auf
ihn
hinab — doch
[DKV IV 240]
er
eilt
ver⸗
ächtlich
bei
ihnen
vorüber, aber
ohne
zu
frohlocken, und
die
einzige
Rache,
die
er
sich
erlaubt, ist
diese, ihnen
in
seinem
klaren
Spiegel
ihr
schwar⸗155
zes
Bild
zu
zeigen —
Ich
wäre
auf
dieser
einsamen
Reise, die
ich
mit
meiner
Schwester
machte,
sehr
glücklich
gewesen, wenn, — wenn — —
Ach, liebe
Freundinn,]Freundin,
Ulrike
ist
ein
edles, weises, vortreffliches, großmüthiges]großmütiges
Mädchen, und
ich
müß⸗
te
von
allem
diesen
nichts
sein, wenn
ich
das
nicht
fühlen
wollte.
Aber — 160
so
viel
sie
auch
besitzen, so
viel
sie
auch
geben
kann,
an
ihrem
Busen
läßt
sich
doch
nicht
ruhen
—
Sie
ist
eine
weibliche
Heldenseele, die
von
ihrem
Geschlechte
nichts
hat, als
[Heimböckel:1999 (Reclam) 249]
die
Hüften, ein
Mädchen, das
orthogra⸗
phisch
schreibt
u.]und
handelt, nach
dem
Takte
spielt
und
denkt — —
Doch
still
davon.
Auch
der
leiseste
Tadel
ist
zu
bitter
für
ein
Wesen, das
165
keinen
Fehler
hat, als
diesen
zu
groß
zu
sein
für
ihr
Geschlecht.
Seit
8
Tagen
sind
wir
nun
hier
in
Paris,
und
wenn
ich
Ihnen
Alles]alles
schreiben
wollte, was
ich
in
diesen
Tagen
sah
u.]und
hörte
u.]und
dachte
u.]und
empfand, so
wür⸗
de
das
Papier
nicht
hinreichen, das
auf
meinem
Tische
liegt.
Ich
habe
dem
14t
]14.
Juli, dem
Jahrestage
der
Zerstörung
der
Bastille
beigewohnt, an
170
welchem
zugleich
das
Fest
der
wiedererrungenen
Freiheit
u.]und
das
Frie⸗
densfest
gefeiert
ward.
Wie
solche
Tage
würdig
begangen
werden
könnten, weiß
ich
nicht
bestimmt; doch
dies
weiß
ich, daß
sie
fast
nicht
unwürdiger
begangen
werden
können, als
dieser.
Nicht
als
ob
es
an
Obelisken
u.]und
Triumphbogen
u.]und
Dekorationen, u.]und
Illuminationen, u.]und
Feuer⸗175
werken
u.]und
Luftbällen
u.]und
Canonaden]Kanonaden
gefehlt
hätte, o
behüte.
Aber
keine
von
allen
Anstalten
erinnerte
an
die
Hauptgedanken, die
Absicht, den
Geist
des
Volks
durch
eine
bis
zum
Ekel
gehäufte
Menge
von
Vergnügen
zu
zerstreuen,
war
überall
herrschend, und
wenn
die
Regierung
einem
Manne
von
Ehre
hätte
zumuthen]zumuten
wollen, durch
die
mâts
de
cocagne,
u.]und
die
jeux
de
180
caroussels,
u.]und
die
theatres
forains
u.]und
die
escamoteurs,
u.]und
die
danseurs
de
corde
mit
Heiligkeit
an
die
Göttergaben
Freiheit
u.]und
Frieden
erin⸗
nert
zu
werden, so
wäre
[DKV IV 241]
dies
beleidigender, als
ein
Faustschlag
in
sein
[MA II 745]
Antlitz. —
Rousseau
[SE:1993 II 665]
ist
immer
das
4t
]4.
Wort
der
Franzosen; und
wie
würde
er
sich
schämen, wenn
man
ihm
sagte, daß
dies
sein
Werk
185
sei? —
Doch
ich
muß
schließen —
Diesen
Brief
nimmt
Alexander
von
Humboldt,
der
morgen
früh
mit
seiner
Familie
von
Paris
ab⸗
reiset, mit
sich
bis
Weimar;
u.]und
jetzt
ist
es
9
Uhr
Abends.]abends.
— Von
mir
kann
ich
ihnen]Ihnen
Ihnen
Ihnen
nur
so
viel
sagen, daß
ich
wenigstens
ein
Jahr
hier
bleiben
190
werde, das
Studium
der
Naturwissenschaft
auf
dieser
Schule
der
Welt
fortzusetzen.
Wohin
ich
dann
mich
wenden
werde, u.]und
ob
der
Wind
des
[Heimböckel:1999 (Reclam) 250]
Schicksals
noch
einmal
mein
Lebensschiff
nach
Dreßden]Dresden
treiben
wird — ?
Ach, ich
zweifle
daran.
Es
ist
wahrscheinlich,
daß
ich
nie
in
mein
Vaterland
zurückkehre.
In
welchem
Welttheile]Weltteile
ich
einst
das
195
Pflänzchen
des
Glückes
pflücken
werde, und
ob
es
überhaupt
irgendwo
für
mich
blüht — ?
Ach, dunkel, dunkel
ist
das
Alles.]alles.
— Ich
hoffe
auf
etwas
Gu⸗
tes, doch
bin
ich
auf
das
Schlimmste
gefaßt.
Freude
giebt]gibt
es
ja
doch
auf
jedem
Lebenswege, selbst
das
Bitterste
ist
doch
auf
kurze
Augenblicke
süß.
Wenn
nur
der
Grund
recht
dunkel
ist, so
sind
auch
matte
Farben
200
hell.
Der
helle
Sonnenschein
des
Glücks, der
uns
verblendet, ist
auch
nicht
einmal
für
unser
schwaches
Auge
gemacht.
Am
Tage
sehn
wir
wir
[gestr.]
][gestr.]
wohl
die
schöne
Erde, doch
wenn
es
Nacht
ist, sehn
wir
in
die
Ster⸗
ne — —
Und
soll
ich
diesen
Brief
schließen, ohne
Sie
mit
meiner
ganzen
205
Seele
zu
begrüßen?
O
mögte]möchte
Ihnen
der
Himmel
nur
ein
wenig
von
dem
Glücke
schenken, von
dem
Sie
so
viel, so
viel
verdienen.
Auf
die
Erfül⸗
lung
Ihrer
liebsten
Wünsche
zu
hoffen,
zu
hoffen —?
Ja, immerhin.
Aber
sie
zu
erwarten
—?
Ach, liebe
Freundinn,]Freundin,
wenn
Sie
sich
Thränen]Tränen
er⸗
sparen
wollen, so
erwarten
Sie
wenig
von
dieser
Erde.
Sie
kann
nichts
210
geben, was
ein
reines
Herz
wahrhaft
glücklich
machen
könnte.
Blicken
Sie
zuweilen, wenn
es
Nacht
ist, in
den
Himmel.
Wenn
Sie
auf
diesem
Sterne
keinen
Platz
finden
können, der
Ihrer
würdig
ist, so
finden
Sie
vielleicht
auf
einem
andern
einen
um
so
bessern.
Und
nun
leben
Sie
wohl — der
Himmel
schenke
Ihnen
einen
215
heitern, frischen
Morgen — einen
Regenschauer
in
der
Mittagshitze,
— und
einen
stillen, kühlen
sternenklaren
Abend, an
welchem
sich
leicht
u.]und
sanft
einschlafen
läßt.
Heinrich
Kleist.
N.
S.
Ich
habe
vergessen, Sie
um
eine
Antwort
zu
bitten; war
diese
Bitte
nöthig,]nötig,
oder
würden
Sie
von
selbst
meinem
Wunsche
[SE:1993 II 666]
zu⸗220
vorgekommen
sein?
— Noch
Eines.]eines.
Ich
wollte
auch
Einsiedeln
mit
dieser
Gelegenheit
schreiben, aber
ich
weiß
seinen
Wohnort
nicht, auch
ist
es
jetzt
wegen
Mangel
[Heimböckel:1999 (Reclam) 251]
an
Zeit
nicht
mehr
möglich.
Er
hat
mir
so
viele
Gefälligkeiten
erzeigt, u.]und
ich
fühle, daß
ich
ihm
Dank
schuldig
bin.
Wollen
Sie
es
wohl
übernehmen, ihm
dies
einmal
gelegentlich
225
mitzutheilen?]mitzuteilen?
Es
wird
ihn
sehr
interessiren,]interessieren,
zu
wissen, wie
wir
mit
unsern
Pferden, die
er
uns
gekauft
hat, zufrieden
gewesen
sind.
Schreiben
Sie
ihm, daß
es
keine
gesündern, dienstfertigern
[6]
[BKA IV/2 55]
u.]und
fleißigern
Thiere]Tiere
gab, als
diese
zwei
Pferde.
Wir
haben
sie
un⸗
aufhörlich
gebraucht, sie
haben
uns
nie
im
Stiche
gelassen, und
230
wenn
wir
14
Stunden
an
einem
Tage
gemacht
hatten, so
brauch⸗
ten
wir
sie
nur
vollauf
mit
Haber
zu
füttern
u.]und
ein
wenig
schmei⸗
chelnd
hinter
den
Ohren
zu
kitzeln, so
zogen
sie
uns
am
folgenden
Tage
noch
2
Stunden
weiter.
In
8
Tagen
haben
wir
ohne
auszuruhn
von
Straßburg
bis
Paris
120
Poststunden
gemacht —
Hier
235
nun
haben
wir
sie
verkauft, und
nie
ist
mir
das
Geld
so
ver⸗
ächtlich
gewesen, als
der
Preis
für
diese
Thiere,]Tiere,
die
wir
gleich⸗
gültig
der
Peitsche
des
Philisters
übergeben
mußten, nachdem
sie
uns
mit
allen
ihren
Kräften
gedient
hatten.
Übrigens
war
die⸗
ser
Preis
13
französische
Louis d’or,]Louisdor,
circa
87
Rth.,
Rth,
also
nur
2
Thaler]Taler
240
Verlust.
— Ein
einziges
Mal
waren
wir
ein
wenig
böse
auf
sie, und
das
mit
Recht, denke
ich.
Wir
hatten
ihnen
näm⸗
lich
in
Butzbach,
bei
Frankfurt
am
Main,
die
Zügel
abnehmen
lassen
vor
einem
Wirthshause,]Wirtshause,
sie
zu
tränken
u.]und
mit
Heu
zu
futtern.
Dabei
war
Ulrike
so
wie
ich
in
dem
Wagen
sitzen
geblie⸗245
ben,
als
mit
einemmal
ein
Esel
hinter
uns
ein
so
abscheuliches
Geschrei
erhob, daß
wir
wirklich
grade
so
vernünftig
sein
mußten, wie
wir
sind, [DKV IV 243]
um
dabei
nicht
scheu
zu
werden.
Die
armen
Pferde
aber, die
das
Unglück
haben
keine
Vernunft
zu
besitzen, hoben
sich
hoch
in
die
Höhe
u.]und
250
giengen]gingen
spornstreichs
mit
uns
in
vollem
Carriere]Karriere
über
das
Steinpflaster
der
Stadt
durch.
Ich
grif]griff
nach
dem
Zügel, aber
die
hiengen]hingen
ihnen, aufgelöset, über
der
Brust,
u.]und
ehe
ich
Zeit
hatte, an
die
Größe
der
Gefahr
zu
denken, schlug
schon
der
Wagen
mit
uns
um, u.]und
wir
stürzten —
Und
an
255
einem
Eselsgeschrei
hieng]hing
ein
Menschenleben?
Und
wenn
es
nun
in
dieser
Minute
geschlos[MA II 747] sen
ge[Heimböckel:1999 (Reclam) 252] wesen
wäre,
darum
also
hätte
ich
gelebt?
Darum?
Das
hätte
der
Himmel
mit
diesem
dunkeln, räthselhaften,]rätselhaften,
irrdischen]irdischen
Leben
gewollt, und
weiter
nichts — ?
Doch
für
diesmal
[SE:1993 II 667]
war
es
noch
nicht
geschlossen,260
—
wofür
er
uns
das
Leben
gefristet
hat, wer
kann
es
wissen?
Kurz, wir
standen
beide
ganz
frisch
u.]und
gesund
von
dem
Steinpflaster
auf
u.]und
umarmten
uns.
Der
Wagen
lag
ganz
umgestürzt, daß
die
Räder
zu
oberst
standen, ein
Rad
war
ganz
zerschmet⸗
tert, die
Deichsel
zerbrochen, die
Geschirre
zerrissen, das
Alles]alles
265
kostete
uns
3
Louis d’or]Louisdor
u.]und
24
Stunden, am
andern
Morgen
gieng]ging
es
weiter —
Wann
wird
der
letzte
sein?
—
Grüßen
Sie
Alles,]alles,
was
mich
ein
wenig
liebt, auch
Ihren
Bruder.