[046] An Wilhelmine v. Zenge, 3. Juni 1801
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[1] [BKA IV/2 28] [DKV IV 228] [SE:1993 II 654] [Heimböckel:1999 (Reclam) 236] [MA II 733] Göttingen, d.]den 3t]3. Juni, ]Juni 1801. ]1801 /
Mein liebes Minchen, ich habe Deinen Brief, der mir aus mehr / als einer Rücksicht herzlich wohl that,]tat, gestern hier erhalten u.]und eile ihn / zu beantworten. — Du bist nicht zufrieden, daß ich Dir das Äußere / meiner Lage beschreibe, ich soll Dir auch etwas aus meinem Innern / mittheilen?]mitteilen? Ach, [Heimböckel:1999 (Reclam) 237] liebe Wilhelmine, leicht ist das, wenn Alles]alles in der / Seele klar u.]und hell ist, wenn man nur in sich selbst zu blicken braucht,/ um deutlich darin zu lesen. Aber wo Gedanken mit Gedanken, Gefühle / mit Gefühlen kämpfen, da ist es schwer zu nennen, was in der Seele / herrscht, weil noch der Sieg unentschieden ist. Alles liegt in mir / 10 verworren, wie [MA II 734] die Werchfasern]Wergfasern im Spinnrocken, Spinnerocken, [Graph uneindeutig] durcheinander,/ u.]und ich bin vergebens bemüht mit der Hand des Verstandes den Faden / der Wahrheit, den das Rad der Erfahrung hinaus ziehen [DKV IV 229] soll, um die / Spule des Gedächtnisses zu ordnen. Ja selbst meine Wünsche wechseln,/ und bald trit]tritt der eine, bald der andere ins Dunkle, wie die Gegen/stände einer Landschaft, wenn die Wolken drüber hinziehn. — Was Du / mir zum Troste sagst, ist wirklich das Tröstlichste, das ich kenne. Ich selbst / fange an, zu glauben, daß der Mensch zu etwas mehr da ist, als bloß zu / denken — Arbeit, fühle ich, wird das Einzige]einzige sein, was mich ruhiger / machen kann. Alles was mich beunruhigt ist die Unmöglichkeit, mir ein / 20 Ziel des Bestrebens zu setzen, und die Besorgniß,]Besorgnis, wenn ich zu schnell / ein falsches ergriffe, die Bestimmung zu verfehlen u.]und so ein ganzes Leben / zu verpfuschen — Aber sei ruhig, ich werde das rechte schon finden. Falsch / ist jedes Ziel, das nicht die reine Natur dem Menschen steckt. Ich / habe fast eine Ahndung von dem rechten — wirst Du, Wilhelmine, / mir dahin folgen, wenn Du Dich überzeugen kannst, daß es das rechte / ist — ? Doch laß mich lieber schweigen von dem, was selbst in mir noch / ganz undeutlich ist. Die Geschichte Deines Lebens während der Abwe/senheit Deiner Eltern, und besonders die Art von / Freude, welche Du da genossen hast, hat mich ganz unbeschreiblich / 30 gerührt — Diese Freude, Wilhelmine, ist Dir gewiß; aber wirst / Du Dich mit dieser einzigen begnügen können — ? Kann es ein Mäd/chen von Deinem Stande, so bist Du es, u.]und dieser Gedanke stärkt / mich ganz unbeschreiblich. — Sei zufrieden mit diesen wenigen Zügen / aus meinem Innern. Es ist darin so [SE:1993 II 655] wenig bestimmt, daß ich mich / fürchten muß etwas aufzuschreiben, [Heimböckel:1999 (Reclam) 238] weil es dadurch in gewisser / Art bestimmt wird. Errathe]Errate daraus was Du willst — gewiß ist es,/ daß ich kein andres Erdenglück wünsche, als durch Dich. Fahre fort, liebes / [2] [BKA IV/2 31] Mädchen, Dich immer fähiger zu machen, zu beglücken. Rousseau / ist mir der liebste durch den ich Dich bilden lassen mag, da ich es selbst / 40 nicht mehr unmittelbar, wie sonst, kann. Ach, Wilhelmine, Du hast / mich an frohe Zeiten erinnert, u.]und Alles]alles ist mir dabei eingefallen, auch / das, woran Du mich nicht erinnert hast. Glaubst Du wohl, daß ein Tag / vergeht, ohne daß ich an Dich dächte — ? Dein Bild darf ich so oft nicht / be[DKV IV 230] trachten als ich wohl mögte,]möchte, weil mir jeder unbe[MA II 735] scheidner Zeuge / zuwider ist. Mehr als einmal habe ich gewünscht, meinem ersten / Entschluß, allein zu reisen, treu geblieben zu sein — Ich ehre Ulrike / ganz unbeschreiblich, sie trägt in ihrer Seele Alles,]alles, was achtungswürdig / u.]und bewundrungswerth]bewundrungswert ist, vieles mag sie besitzen, vieles geben / können, aber es läßt sich, wie Göthe]Goethe sagt, nicht an ihrem Busen / 50 ruhen — Doch dies bleibt, wie Alles,]alles, unter uns — Von unsrer Reise / kann ich Dir auch Manches]manches wieder erzählen. Wir reisen, wie Du / vielleicht noch nicht weißt, mit eignen Pferden, die wir in Dreßden]Dresden / gekauft haben. Johann leistet uns dabei treffliche Dienste, wir / sind sehr mit ihm zufrieden, und denken oft mit Dankbarkeit / an Carln, der ihn uns freiwillig abtrat. — Carl ist wohl jetzt in Frank/furt? Oder ist er in Magdeburg? Wenn Du ihn siehst oder schreibst,/ so sage ihm doch auch ein Wörtchen von mir. Ich hatte versprochen, ihm / auch zuweilen zu schreiben, aber das Schreiben wird mir jetzt so schwer,/ daß ich oft selbst die nothwendigsten]notwendigsten Briefe vernachläßige.]vernachlässige. Gestern end/ 60 lich habe ich zum erstenmale an meine Familie nach Pommern ge/schrieben — sollte man wohl glauben, daß ein Mensch, der in seiner / Familie Alles]alles fand, was ein Herz binden kann, Liebe, Vertrauen,/ Schonung, Unterstützung mit Rath]Rat u.]und That, Tath, ]Tat, sein Vaterland ver/lassen kann, ohne selbst einmal schriftlich Abschied zu nehmen von / seinen Verwandten? — Und doch sind sie mir die liebsten u.]und theuersten]teuersten / Menschen auf der [Heimböckel:1999 (Reclam) 239] Welt! So wiedersprechen]widersprechen sich in mir Handlung u.]und / Gefühl — Ach, es ist ekelhaft, zu leben —— Schreibe also Carln, er / solle nicht zürnen, wenn Briefe von mir ausblieben, großmüthig]großmütig sein, u.]und / zuweilen etwas von sich hören lassen, Neuigkeiten schreiben u.]und dergleichen. / 70 Bitte ihn doch [SE:1993 II 656] auch, er mögte]möchte sich einmal bei Rühle erkundigen, ob / dieser denn gar keine Briefe von mir erhalten hat, auch nicht die / große Schrift, die ich ihm von Berlin aus schickte? Er mögte]möchte ihn doch / antreiben, einmal an mich zu schreiben, da mir sehr viel daran / gelegen wäre, wenigstens zu wissen, ob die Schrift nicht verloren / gegangen ist. — Ich will Dich doch von Leipzig nach Göt[DKV IV 231] tingen führen, / [3] [BKA IV/2 32] aber ein wenig schneller, als wir reiseten. Denn wir wandern,/ wie die alten Ritter, von Burg zu Burg, halten uns auf u.]und wechseln gern / ein freundliches Wort mit den Leuten. Wir suchen uns in jeder Stadt im/mer die Würdigsten auf, in Leipzig Plattner, Hinden[MA II 736] burg, in Halle / 80 Klügel, in Göttingen Blumenbach, Wrisberg & &]etc. etc. Aber Du kennst / wohl diese Namen nicht? Es sind die Lehrer der Menschheit. — In / Leipzig fand endlich Ulrike Gelegenheit zu einem Abendtheuer,]Abenteuer, und / hörte verkleidet einer öffentlichen Vorlesung Plattners zu. Das geschah / aber mit Vorwissen des Hofraths,]Hofrats, indem er selbst wünschte, daß sie,/ Störung zu vermeiden, lieber in Mannskleidern Mannskleider [uneindeutig] kommen mögte,]möchte, als in / Weiberröcken. Alles lief glücklich ab, der Hofrath]Hofrat u.]und ich, wir waren die / einzigen in dem Saale, die um das Geheimniß]Geheimnis wußten. — In / Halberstadt besuchten wir Gleim, den bekannten Dichter, einen / der rührendsten u.]und interessantesten interressantesten [uneindeutig] Greise, die ich kenne. An ihn waren / 90 wir zwar durch nichts addressirt,]adressiert, als durch unsern Namen; aber es giebt]gibt / keine bessere Addresse]Adresse als diesen. Er war nämlich einst ein vertrau/ter Freund Ewald Kleists, der bei Frankfurt fiel. Kurz / vor seinem Tode hatte dieser ihm noch einen Neffen Kleist em/pfohlen, für den jedoch Gleim niemals hatte etwas thun]tun können,/ weil er ihn niemals sah. Nun glaubte er, als ich mich melden ließ,/ ich sei es, u.]und die Freude mit der er uns entgegen kam kam, [uneindeutig] war unbeschreib/lich. Doch ließ er es [Heimböckel:1999 (Reclam) 240] uns nicht empfinden, als er sich getäuscht,/ denn Alles,]alles, was Kleist heißt, ist ihm theuer.]teuer. Er führte uns in sein / Cabinet,]Kabinett, geschmückt mit Gemälden seiner Freunde. Da ist keiner,/ 100 sagte er, der nicht ein schönes Werk schrieb, oder eine große That]Tat be/gieng.]beging. Kleist that]tat beides u.]und Kleist steht oben an — Wehmüthig]Wehmütig / nannte er uns die Namen der vorangegangnen Freunde, trauernd,/ daß er noch zurück sei. Aber er ist 83 Jahr u.],und so die Reihe wohl auch / bald an ihn — Er besitzt einige hundert Briefe von Kleist, auch sein / erstes Gedicht. Gleim war es eigentlich, der ihm zuerst die Aussicht nach / dem Parnaß zeigte, [SE:1993 II 657] u.]und die Veranlassung ist seltsam u.]und merkwürdig / genug. Kleist war nämlich in einem Duell [DKV IV 232] blessirt,]blessiert, u.]und lag krank / im Bette zu Potsdam. Gleim war damals RegimentsQuartirmeister Regiments Quartirmeister ]Regiments-Quartiermeister / u.]und besuchte den Kranken, ohne ihn weiter genau zu kennen. könen. [Graph uneindeutig] Ach, sagte Kleist, / 110 ich habe die größte Langeweile, denn ich kann nicht lesen. Wissen Sie was,/ antwortete Gleim, ich will zuweilen herkommen u.]und Ihnen etwas vorlesen. / Damals eben hatte Gleim scherzhafte Gedichte gemacht, im Geschmack / Anakreons, u.]und las ihm unter andern eine Ode an den Tod vor,/ die ohngefähr so lautet: Tod, warum entführst Du]du mir [MA II 737] mein / [4] [BKA IV/2 35] Mädchen? Kannst Du]du Dich]dich auch verlieben? — — Und so geht es fort. Am / Ende heißt es: Was willst Du]du mit ihr machen? Kannst Du du ]du doch mit / Zähnen ohne Lippen, wohl die Mädchen beißen, doch nicht küssen — [Kein Absatz] /
Über diese Vorstellung, wie der Tod mit seinen nackten, eckigen Zähnen,/ vergebens sich in die weichen Rosenlippen drückt, einen Kuß zu ver/ 120 suchen, geräth]gerät Kleist so ins Lachen, daß ihm bei der Erschütterung,/ das Band von der Wunde an der Hand abspringt. Man ruft einen / Feldscheer.]Feldscher. Es ist ein Glück, sagt dieser, daß sie Sie ]Sie mich rufen lassen,/ denn unbemerkt ist der kalte Brand im Entstehen u.]und morgen wäre / es zu spät gewesen. — Aus Dankbarkeit widmete Kleist der Dichtkunst / das Leben, das sie ihm gerettet hatte. — In Wernigerode lernten / wir eine sehr liebenswürdige Familie kennen, die stollbergsche.]Stolbergsche. — In / Goßlar]Goslar fuhren wir in den Rammelsberg, wo in großen Höhlen die / [Heimböckel:1999 (Reclam) 241] Erze mit angezündeten Holzstößen abgebrannt werden, und / Alles]alles vor Hitze nackend arbeitet. Man glaubt in der Hölle, oder / 130 doch wenigstens in der Werkstatt der Cyklopen]Zyklopen zu sein. — Von Ilsenburg / aus bestiegen wir am Nachmittage des 31t]31. den Brocken, den Du / schon aus meiner früheren Reisebeschreibung kennst. Ich habe auch Qued/linburg lange wieder, aber nur von Weitem,]weitem, angesehen — In Ilsenburg / habe ich den Teich gesehen, auf welchem die Knobelsdorf als Kind / herumgefahren ist. Schreibe doch Carl, der alte Otto ließe die Kno/belsdorf grüßen. — Und nun lebe wohl. Heute sind wir hier / auf einem Balle, wo die Füße springen werden, indessen / das Herz weint. Dann geht der Körper immer [DKV IV 233] weiter und / weiter von Dir, indessen die Seele immer zu Dir zurück strebt. Bald / 140 an diesen, bald an jenen Ort treibt mich das wilde Geschick, indessen ich / kein innigeres Bedürfniß]Bedürfnis habe, als Ruhe — Können so viele [SE:1993 II 658] Wieder/sprüche]Widersprüche in meinem einem ]einem engen Herzen wohnen? — ? Lebe wohl. Hier / hast Du meine Reiseroute. Morgen geht es nach Frankfurt, Mainz, / Mannheim; dahin schreibe mir, u.]und theile]teile diese Adresse Carln mit. / Wir werden dann unsre Tour über die Schweiz u.]und Südfrankreich / nehmen — Südfrankreich! Du kennst doch noch das Land? / Und das alte Project]Projekt — ? In Paris werde ich schon das Studium / der Naturwissenschaft fortsetzen müssen u.],und so werde ich wohl am / Ende noch wieder in das alte Gleis kommen, vielleicht auch / 150 [MA II 738] nicht, wer kann es wissen — Ich bin an lauter Pariser Gelehrten / addressirt,]adressiert, u.]und die lassen Einen]einen nicht fort, ohne daß man etwas / von ihnen lernt. Lebe wohl, grüße die goldne Schwester, Carln, u.]und Alle]alle / die es gern hören, daß ich mich ihrer erinnere. Heinrich Kleist. /