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  • [027] W. v. Zenge, 13.11.1800

[027] An Wilhelmine v. Zenge, 13. November 1800

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[1] [BKA IV/1 364] [DKV IV 149] [SE:1993 II 584] [Heimböckel:1999 (Reclam) 155] [MA II 660] Berlin, d.]den 13t ]13. Novmbr, ]November 1800. ]1800

Liebe Wilhelmine, o Dein Brief hat mir eine ganz außer⸗
ordentliche
Freude gewährt.
Dich so anzuschmiegen an meine
Wünsche, so innig einzugreifen in mein Interesse — o es soll
Dir gewiß einst belohnt werden!
Grade auf diesem Lebens⸗5
wege
, wo Du Alles]alles fahren läßt, was doch sonst die Weiber reizt,
Ehre, Reichthum,]Reichtum, Wohlleben, grade auf diesem Wege wirst Du um
so gewisser etwas Anderes]anderes finden, [DKV IV 150] das doch mehr werth]wert ist als
das Alles]alles — Liebe.
Denn wo es noch andere Genüsse giebt,]gibt, da
theilt]teilt sich das Herz, aber wo es nichts giebt]gibt als Liebe, da öffnet 10
sich ihr das ganze Wesen, da umfaßt es ihr ganzes Glück, da werden
alle ihre unendlichen Genüsse erschöpft — ja, gewiß, Wilhelmine,
Du sollst einst glücklich sein.

Aber laß uns nicht bloß frohen Träumereien folgen — Es ist
wahr, wenn ich mir das freundliche Thal]Tal denke, das einst unsre 15
Hütte umgrenzen wird, u.]und mich in dieser Hütte [Heimböckel:1999 (Reclam) 156] u.]und Dich u.]und die
Wissenschaften, u.]und weiter nichts — o dann sind mir alle Ehren⸗
stellen
u.]und alle Reichthümer]Reichtümer verächtlich, dann ist es mir, als könnte
mich nichts glücklich machen, als die Erfüllung dieses Wunsches, u.]und als müßte
ich unverzüglich an seine Erreichung [MA II 661] schreiten — —
Aber die 20
Vernunft muß doch auch mitsprechen, u.]und wir wollen einmal
hören, was sie sagt.
Wir wollen einmal recht vernünftig
diesen ganzen Schrit]Schritt prüfen.

Ich will kein Amt nehmen. Warum will ich es nicht? — O wie
viele Antworten liegen mir auf der Seele!
Ich kann nicht ein⸗25
greifen
in ein Interesse, das ich mit meiner Vernunft nicht prüfen
darf.
Ich soll thun]tun was der Staat von mir verlangt, u.]und doch soll ich nicht
untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist.
Zu seinen unbekann⸗
ten
Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein — ich kann es nicht.
Ein
eigner Zweck steht mir vor Augen, [SE:1993 II 585] nach ihm würde ich handeln müssen, 30
u.]und wenn der Staat es anders will, dem Staate nicht gehorchen
dürfen.
Meinen Stolz würde ich darin suchen, die Aussprüche meiner
Vernunft geltend zu machen gegen den Willen meiner Obern — nein,
Wilhelmine, es geht nicht, ich passe mich für kein Amt.
Ich bin auch wirklich
zu ungeschickt, um es zu führen.
Ordnung, Genauigkeit, Geduld, Un⸗35
verdrossenheit
, das sind Eigenschaften die bei einem Amte unent⸗
behrlich
sind, u.]und die mir doch ganz fehlen.
Ich arbeite nur für meine
Bildung gern u.]und da bin ich unüberwindlich geduldig u.]und unverdrossen.
[2] [BKA IV/1 367] Aber für die Amtsbesoldung Listen zu schreiben u.]und Rechnungen zu füh⸗
ren
— ach, ich würde eilen, eilen, daß sie nur fertig würden]würden, u.]und zu 40
mei[DKV IV 151] nen geliebten Wissenschaften zurückkehren.
Ich würde die Zeit
meinem Amte stehlen, um sie meiner Bildung zu widmen — nein,
Wilhelmine, es geht nicht, es geht nicht.
Ja ich bin selbst zu ungeschickt
mir ein Amt zu erwerben.
Denn zufrieden mir wirklich Kenntnisse
zu erwerben, bekümmert es mich wenig, ob Andere]andere sie in mir wahr⸗45
nehmen
.
Sie zur Schau aufstellen, oder zum Kauf ausbieten, wäre
mir ganz unmöglich — und [Heimböckel:1999 (Reclam) 157] würde man denjenigen wohl begünstigen,
der den Stolz hat, jede Gunst zu entbehren, u.]und der durch keine andere
Fürsprache steigen will, als durch die Fürsprache seiner eignen
Verdienste? —
Aber das Entscheidendste ist dieses, daß selbst ein 50
Amt, u.]und wäre es eine Ministerstelle, mich nicht glücklich machen
kann.
Mich nicht, Wilhelmine — denn Eines]eines ist gewiß, ich bin ein⸗
mal
in meinem Hause glücklich, oder niemals, nicht auf Bällen,
nicht im Opernhause, nicht in Gesellschaften, u.]und wären es die Gesellschaften
der Fürsten, ja wäre es auch die Gesellschaft unsres eignen Königs — 55
— u.]und wollte ich darum Mi[MA II 662] nister werden, um häußliches]häusliches Glück zu
genießen?
Wollte ich darum mich in eine Hauptstadt begraben u.]und
mich in ein Chaos von verwickelten Verhältnissen stürzen, um
still u.]und ruhig bei meiner Frau zu leben?
Wollte ich mir darum
Ehrenstellen erwerben u.]und mich darum mit Ordensbändern behängen,60
um Staat zu machen damit vor meinem Weibe u.]und meinen Kindern?

Ich will von der Freiheit nicht reden, weil Du mir schon einmal
Einwürfe dagegen gemacht hast, ob Du zwar wohl gleich, wie
alle Weiber, das nicht recht verstehen magst; aber Liebe u.]und Bildung
sind zwei unerlaßliche Bedingungen meines künftigen Glückes — 65
— u.]und was [SE:1993 II 586] könnte mir in einem Amte davon zu] Theil]zuteil werden, als
höchstens ein karger, sparsamer Theil]Teil von beiden?
Wollte ich an die
Wissenschaften gehen, so brächte mir der Secretair]Sekretär einen Stoß
voll Akten, u.]und wollte ich einen großen Gedanken verfolgen, so mel⸗
dete
mir der Kammerdiener, daß das Vorzimmer voll Fremden stehe.
70
Wollte ich den Abend bei meinem Weibe zubringen, so ließe mich der
König zu sich rufen]rufen, u.]und um mir auch die Nächte zu rauben, müßte ich
in die Provinzen [DKV IV 152] reisen u.]und die Fabriken zählen.
O wie würde ich den
Orden u.]und die Reichthümer]Reichtümer u.]und den ganzen Bettel der großen Welt verwün⸗
schen
, wie würde ich bitterlich weinen, meine Bestimmung so 75
unwiderbringlich]unwiederbringlich verfehlt zu haben, wie würde ich mir mit
heißer Sehnsucht trocknes Brod]Brot wünschen u.]und mit ihm Liebe, Bildung
u.]und Freiheit —
Nein, Wil[Heimböckel:1999 (Reclam) 158] helmine, ich darf kein Amt wählen, weil
ich das ganze Glück, das es gewähren kann, verachte.

[3] [BKA IV/1 368]

Aber darf ich mich auch jedem Amte entziehen? — Ach, Wilhelmine, 80
diese spitzfündige Frage haben mir schon so viele Menschen aufge⸗
worfen
.
Man müsse seinen Mitbürgern nützlich sein, sagen sie,
u.]und darin haben sie Recht]recht — und darum müsse man ein Amt nehmen,
setzen sie hinzu, aber darin haben sie Unrecht.]unrecht.
Kann man denn nicht
Gutes wirken, wenn man auch nicht eben dafür besoldet wird?
85
O ich darf nur an Brokes denken —! Wie vieles Gute, Vortreffliche,
thut täglich dieser herrliche Mensch. —
Und dann, wenn ich einmal
auf Kosten der Bescheidenheit die Wahrheit reden will — habe ich nicht
auch während meiner Anwesenheit in Frankfurt unter unsern
Familien manches Gute gestiftet —?
Durch untadelhaften Lebens⸗90
wandel
den Glauben an die Tugend bei Andern]andern stärken, [MA II 663] durch weise Freu⸗
den
sie zur Nachahmung reizen, immer dem Nächsten, der es bedarf,
helfen mit Wohlwollen u.]und Güte — ist das nicht auch Gutes wirken?
Dich,
mein geliebtes Mädchen, ausbilden, ist das nicht etwas Vortreffliches?

Und dann, mich selbst auf eine Stufe näher der Gottheit zu 95
stellen — — o laß laß, [Graph uneindeutig] mich, laß mich!
Das Ziel ist gewiß hoch
genug u.]und erhaben, da giebt]gibt es gewiß Stoff genug zum Handeln —
— und wenn ich auch auf dieser Erde nirgends meinen Platz finden
sollte, so finde ich vielleicht auf einem andern Sterne einen um
so bessern.
100

Aber kann ich jedes Amt ausschlagen? das heißt, ist es möglich? — Ach,
Wilhelmine, wie gehe ich mit klopfendem Herzen an die [SE:1993 II 587] Beantwortung
dieser Frage!
Weißt Du wohl noch am letzten Abend den Erfolg unsrer
Berechnung — ? Berechnungen? ]Berechnungen? —
Aber ich glaube doch immer noch — ich habe doch noch nicht
alle Hoffnung verloren — —
Sieh, Mädchen, ich will [DKV IV 153] Dir sagen, wie 105
ich zuerst auf den Gedanken kam, daß es wohl möglich sein müsse.

Ich dachte, Du lebst in Frankfurt, ich in Berlin, warum könnten wir
denn nicht, ohne mehr zu verlangen, zusammen leben?
Aber das Herkommen
will, daß [Heimböckel:1999 (Reclam) 159] wir ein Haus bilden sollen]sollen, u.]und unsere Geburt, daß wir mit
Anstand leben sollen — o über die unglückseeligen]unglückseligen Vorurtheile!]Vorurteile!
Wie viele 110
Menschen genießen mit Wenigem,]wenigem, vielleicht mit einem Paar]paar Hundert]hundert
Thalern]Talern das Glück der Liebe — u.]und wir sollten es entbehren, weil wir
von Adel sind?
Da dachte ich, weg mit allen Vorurtheilen,]Vorurteilen, weg mit dem
Adel, weg mit dem Stande — gute Menschen wollen wir sein u.]und uns
mit der Freude begnügen, die die Natur uns schenkt.
Lieben wollen wir 115
uns, u.]und bilden]bilden, u.]und dazu gehört nicht viel Geld — aber doch etwas, doch
etwas
— u.]und ist das, was wir haben, wohl hinreichend?
Ja, das ist
eben die große Frage.
O wenn ich warten wollte, bis ich mir etwas
erwerben kann, oder will, o dann bedürften wir weiter nichts als
[4] [BKA IV/1 371] Geduld, denn das ist mir in der Folge gewiß. —
Laß mich ganz 120
aufrichtig sein, liebes Mädchen.
Ich will von mir mit Dir reden, als
spräche ich mit mir selbst.
Gesetzt Du fändest die Rede eitel, was
schadet es?
Du bist nichts anders als ich, u.]und vor Dir will ich nicht besser
erscheinen, als vor mir selbst, auch Schwächen will ich vor Dir nicht
verstecken.
Also aufrichtig u.]und ohne allen Rückhalt. 125

Ich bilde mir ein, daß ich Fähigkeiten habe, seltnere Fähigkeiten,
meine ich —
Ich glaube es, weil mir keine Wissenschaft [MA II 664] zu schwer
wird; weil ich rasch darin vorrücke, weil ich manches schon aus eigener
Erfindung hinzugethan]hinzugetan habe — u.]und am Ende glaube ich es auch darum,
weil alle Leute es mir sagen.
Also kurz, ich glaube es. Da stünde 130
mir nun für die Zukunft das ganze schriftstellerische Fach offen.

Darin fühle ich, daß ich sehr gern arbeiten würde. — O da ist die
Aussicht auf Erwerb äußerst vielseitig.
Ich könnte nach Paris
gehen u.]und die neueste Philosophie in dieses neugierige Land verpflanzen
— doch das siehst Du Alles]alles so vollständig nicht ein, als ich.
Da müß⸗135
test
Du schon meiner bloßen Versicherung glauben]glauben, u.]und ich versichere
Dir hiermit, [SE:1993 II 588] daß [DKV IV 154] wenn Du mir nur ein Paar]paar Jahre, höchstens
sechs, Spielraum giebst,]gibst, ich dann gewiß Gelegenheit finden
werde, mir Geld zu erwerben.

[Heimböckel:1999 (Reclam) 160]

Aber so lange sollen wir noch getrennt sein —? Liebe Wilhelmine, 140
ich will auch hierin ganz aufrichtig sein.
Ich fühle, daß es mir noth⸗
wendig]notwendig
ist, bald ein Weib zu haben.
Dir selbst wird meine Ungeduld
nicht entgangen sein — ich muß diese unruhigen Wünsche, die mich un⸗
aufhörlich
wie Schuldner mahnen, zu befriedigen suchen.
Sie stören
mich in meinen Beschäfftigungen]Beschäftigungen — auch damit ich moralisch gut bleibe,145
ist es nöthig]nötig —
Sei aber ganz ruhig, ich bleibe es gewiß. Nur kämpfen
möchte ich nicht gern.
Man muß sich die Tugend so leicht machen
als möglich.
Wenn ich nur erst ein Weib habe, so werde ich meinem
Ziele ganz ruhig u.]und ganz sicher entgegen gehen — aber bis dahin —
— o werde bald, bald, mein Weib.
150

Also ich wünsche es mit meiner ganzen Seele u.]und entsage dem ganzen
prächtigen Bettel von Adel u.]und Stand u.]und Ehre u.]und Reichthum,]Reichtum, wenn
ich nur Liebe bei Dir finde.
Wenn es nur möglich ist, daß wir so
ohne Mangel beieinander leben können etwa sechs Jahre
lang, nämlich bis so lange, wo ich mir etwas zu erwerben hoffe,155
o dann bin ich glücklich.

Aber ist dies möglich —? O du gutes, treffliches Mädchen! Ist es mög⸗
lich
, so ist es nur durch Dich möglich.
Hätte mich mein Schicksaal]Schicksal zu einem
andern Mädchen geführt, das nicht so anspruchslos u.]und genügsam wäre,
wie Du, ja dann müßte ich diesen innigsten Wunsch unfehlbar unter⸗160
[gestr.] [gestr.]
[5] [BKA IV/1 372] unterdrücken. Aber auch Du willst nichts, als Liebe u.]und Bildung — o beides
sollst Du von mir erhalten, von dem ersten mehr selbst als Du fordern
wirst, von dem andern so viel ich geben kann, aber beides mit Freuden.

[MA II 665] Ich erwarte mit Sehnsucht Deine Berechnung. Du kannst das Alles]alles
besser prüfen als ich.
Aber laß Dich nicht verführen von Deiner Liebe. 165
Sei karg gegen mich, aber nicht gegen Dich. Nein, ich schwöre Dir, ich
will Dich mit dieser scheinbaren Selbstverleugnung nicht an Edelmuth]Edelmut
übertreffen.
Setze also nicht vergeblich Edelmuth]Edelmut an Edelmuth,]Edelmut, das würde
unser [DKV IV 155] beiderseitiges Interesse verwirren.
Laß uns wahr sein, ohne
geschraubte Tugend.
Wenn ich weniger verlange, als Du, so ist das 170
keine [Heimböckel:1999 (Reclam) 161] Selbstverleugnung, die mir ein Opfer kostet.
Ich fühle, daß
ich wirklich wenig bedarf, [SE:1993 II 589] u.]und mit wahrer Freude würde ich selbst manches
entbehren, um Dich damit froher zu machen.
Das ist mein Ernst, Wilhel⸗
mine,
also laß mir diese Freude.
Überfluß wirst Du nicht verlangen, aber
an dem Nothwendigen,]Notwendigen, darf es Dir niemals fehlen, o niemals, denn 175
das würde mich selbst unglücklich machen.
Also sei nicht karg gegen Dich
in der Berechnung.
Fordere lieber mehr als Du brauchst, als weniger.
Es steht ja doch immer in der Folge bei Dir, mir zufließen zu lassen,
was Du übrig hast, u.]und dann werde ich es gewiß immer gern von Dir
annehmen.
Ist es unter diesen Bedingungen nicht möglich, daß 180
wir uns bald vereinigen — nicht möglich, nun denn, so müssen
wir auf günstigere Zeiten hoffen — aber dann ist die Aussicht
dunkel, o sehr dunkel — u.]und das Schrecklichste wäre mir, Dich betro⸗
gen
zu haben, Dich, die mich so innig liebte — o weg mit dem ab⸗
scheulichen
Gedanken.
185

Indessen ich weiß doch noch ein Mittel, selbst wenn unser Ver⸗
mögen
Deiner Berechnung nicht entspräche.
Es ist dieses, mir durch
Unterricht wenigstens jährlich ein Paar]paar Hundert]hundert Thaler]Taler zu erwerben.

Lächle nicht u.]und bemühe Dich nur ja, alle Vorurtheile]Vorurteile zu bekämpfen.
Ich bin sehr fest entschlossen, den ganzen Adel von mir abzuwerfen. 190
Viele Männer haben geringfügig angefangen u.]und königlich ihre
Laufbahn beschlossen.
Shakespeare war ein Pferdejunge u.]und jetzt
ist er die Bewunderung der Nachwelt.
Wenn Dir auch die eine
Art von Ehre entgeht, so wird Dir doch vielleicht einst eine
andere zu] Theil]zuteil werden, die höher ist —
Wilhelmine, warte zehen zehn ]zehn 195
Jahre u.]und Du wirst mich nicht ohne Stolz umarmen.

Mein Plan in diesem Falle wäre dieser. Wir hielten uns irgend⸗
wo
in Frankreich auf, etwa in dem südlichen Theile,]Teile, in [MA II 666] der französi⸗
schen
Schweiz,
in dem schönsten Erdstriche von Europa — und zwar
aus diesem Grunde, um Unterricht dort in der deutschen Sprache 200
[6] [BKA IV/1 375] zu geben.
Du weißt, wie [DKV IV 156] überhäuft mit Stunden hier bei uns
die Emigrirten]Emigrierten sind; das möchte in [Heimböckel:1999 (Reclam) 162] Frankreich noch mehr der Fall sein,
weil es da weniger Deutsche giebt,]gibt, u.]und doch von der Academie]Akademie
u.]und von allen französischen Gelehrten unaufhörlich die Erlernung der
deutschen Sprache anempfohlen wird, weil man wohl einsieht, daß 205
jetzt von keinem Volke der Erde mehr zu lernen ist, als von den Deut⸗
schen
.
Dieser Aufenthalt in Frankreich wäre mir aus 3 Gründen
lieb.
Erstlich, weil es mir in [SE:1993 II 590] dieser Entfernung leicht werden
würde, ganz nach meiner Neigung zu leben, ohne die Rathschläge]Ratschläge
guter Freunde zu hören, die mich u.]und was ich eigentlich begehre, ganz u.]und gar nicht 210
verstehen; zweitens, weil ich so ein Paar]paar Jahre lang ganz unbe⸗
kannt
leben könnte u.]und ganz vergessen werden würde, welches ich recht
eigentlich wünsche; u.]und drittens, welches der Hauptgrund ist, weil
ich mir da recht die französische Sprache aneignen könnte, welches
zu der entworfnen Verpflanzung der neuesten Philosophie in dieses 215
Land, wo man von ihr noch gar nichts weiß, nothwendig]notwendig ist. —
Schrei⸗
be
mir unverhohlen Deine Meinung über dieses. —
Aber daß ja
niemand etwas von diesem Plane erfährt.
Wenn Du nicht mein
künftiges Weib wärest, so hätte ihn vor der Ausführung kein
Mensch von mir erfahren. —
Lerne nur auf jeden Fall recht 220
fleißig die französische Sprache. —
Wie Vater zur Einwilligung
zu bringen ist, davon ein andermal. —
Ist das Alles]alles nicht ausführ⸗
bar
, so bleibt uns, bis zum Tode, Eins]eins gewiß, nämlich meine
Liebe Dir,
u.]und Deine Liebe mir.
Ich wenigstens gebe nie einem
andern Mädchen meine Hand, als Dir.
225

Und nun muß ich schließen. Ich kann jetzt nicht mehr so lange Briefe
schreiben, als auf der Reise, denn jetzt muß ich für Dich u.]und mich arbeiten.

Und doch habe ich Dir noch so vieles zu sagen, z. B. über Deine Bildung.
O wenn ich bei Dir wäre, so wäre das Alles]alles weit kürzer abgemacht.
Ich wollte Dir bei meiner Anwesenheit in Frankfurt vorschlagen,230
ob Du Dir nicht ein Tagebuch halten wolltest, nämlich ob du nicht alle
Abend aufschreiben wolltest, was Du am Tage sahst, dachtest, fühltest &]etc.
Denke einmal darüber [DKV IV 157] nach, [Heimböckel:1999 (Reclam) 163] ob das nicht gut wäre.
[MA II 667] Wir werden uns
in diesem unruhigen Leben so selten unsrer bewußt — die Gedanken
u.]und die Empfindungen verhallen wie ein Flötenton im Orkane — so manche 235
Erfahrung geht ungenutzt verloren — das Alles]alles kann ein Tagebuch
verhüten.
Auch lernen wir dadurch Freude aus uns selbst entwickeln,
u.]und das möchte wohl gut sein für Dich, da Du von außen, außer von mir,
wenige Freude empfangen wirst.
Das könntest Du mir dann von Zeit zu Zeit mit⸗
theilen]mitteilen
— aber Du müßtest Dich darum nicht weniger strenge prüfen — ich werde nicht 240
hart sein — denke an Deine Verzeihung meines Fehltritts. —
Ich werde Dir auch in meinen Briefen
alles mittheilen,]mitteilen, was mir begegnet. —
Adieu. Ich küsse Dein Bild. H. K.

27
An Wilhelmine v. Zenge, 13. November 1800

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/briefe/027, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 02.08.2025

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Apparat

Textwiedergabe nach Kopie der Handschrift. Die Handschrift ist in Besitz von:
Biblioteka Jagiellońska, Kraków; Sammlung Autographa (H. v. Kleist)

Erstdruck: [Buel:1848] 122–131

Pagina Kleist-Ausgaben
  • [BKA] (026) IV/1 363–377
  • [MA] (026) II 660–667
  • [DKV] (029) IV 149–157
  • [SE:1993] (027) II 584–590
  • [Heimböckel:1999 (Reclam)] (026) 155–163
 Erwähnte Personen
  • []Brockes, Ludwig von (1)
  • []Kleist, Heinrich von (1)
  • []Shakespeare, William (1)
  • []Zenge, Hartmann von (1)
  • []Zenge, Wilhelmine von (15)
  • [»]Alle Personen anzeigen +/–
 Erwähnte Orte
  • []Berlin (2)
  • []Frankfurth a Oder (3)
  • []Frankreich (3)
  • []Französische Schweiz (1)
  • []Paris (1)
  • [»]Alle Orte anzeigen +/–
 Vergleich Editionen

Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)

Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.

[MP:1936] [3 Abw.]
  • 104Berechnung — ? Berechnungen? ]Berechnungen? ] Berechnungen?
  • 161unter/ 160 [gestr.] [gestr.] ] [gestr.]
  • 195zehen zehn ]zehn ] zehn
[MA:2010] [2 Abw.]
  • 96laß laß, [Graph uneindeutig] ] laß, [Graph uneindeutig]
  • 161unter/ 160 [gestr.] [gestr.] ] [gestr.]
Stellenkommentar

161 unterdrücken. Kleist nimmt das Wort auf der neuen Briefseite wieder auf.

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