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  • [012] W. v. Zenge, 16.8.1800

[012] An Wilhelmine v. Zenge, 16. August 1800

Textwiedergabe  nach Handschrift.

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[1] [BKA IV/1 160] [DKV IV 68] [SE:1993 II 515] [Heimböckel:1999 (Reclam) 70] [MA II 586] Berlin]Berlin, d.]den 16t Auguſt 1800. ]1800

Mein liebes, theures]teures Herzensminchen, ſei nicht böſe,
daß Du ſo ſpät dieſen Brief erhältßſt.
Geſtern hielten
mich viele Geſchäfte vom Schreiben ab — doch das iſt eine
ſchlechte Entſchuldigung.
Kein Geſchäft darf mich von der 5
Erfüllung der Pflicht abhalten, meinem lieben, treuen Mäd⸗
chen
zur beſtim̄ten Zeit Nachricht von mir zu geben.
Nun, ver⸗
zeihe
diesmal.
Wenn ich jetzt dieſe Zeilen auf die Poſt gäbe,
ſo fändeſt Du freilich bei Deiner Rückkehr von Tamſel einen
Brief von mir vor; aber kann man 7 Zeilen ein einen einen einen
Brief 10
nennen? Laß mich alſo lieber noch ein Weilchen mit Ver⸗
trauen
u.]und Innigkeit mit Dir plaudern.

Mit welchen Empfindungen ich Frankfurt verlaſſen habe —
ach, liebes Mädchen, das kann ich Dir nicht beſchreiben, weil [MA II 587] Du
mich doch nicht ganz verſtehen würdeſt.
Als ich mich von Dir trennte trennte, ]trennte, 15
legte ich mich noch ins Bett, u.]und lag da wohl noch 1 ½ Stunde, doch mit
offnen Augen, ohne zu ſchlafen.
Als ich im Halbdunkel des Morgens
abfuhr, war mirs, als hörte ich ein Geräuſch an dem einen
Fenſter des Eures Saales.
Mir fuhr ein ſchneller Gedanke durch
die Seele, ob Du das ſwohl ſein könnteſt.
Aber Du warſt es 20
nicht, ob ich gleich eine brennende Sehnſucht hatte, Dich noch ein⸗
mal
zu ſehen.
Der Wagen rollte weiter, indeſſen mein Auge
im̄er noch mit rückwärtsgewandtem Körper an das geliebte
Haus hieng.]hing.
Mir traten Thränen]Tränen ins Auge, ich wünſchte
herzlich zu weinen, aber ich bin ſchon zu lange davon ent⸗25
wöhnt
.

Auf meiner ganzen Reiſe nach Berlin iſt der Gedanke an
Dich nur ſelten, ſehr ſelten aus meiner Seele gewichen.
Ich bin über[SE:1993 II 516] zeugt, daß wenn man die Augenblicke der Zer[DKV IV 69] ſtreu⸗
ung
zuſam̄enrechnen wollte, kaum eine kleine Viertelſtunde 30
herauskom̄en würde.
Nichts zerſtreute mich, nicht das wirklich
[2] [BKA IV/1 163] romantiſche Steinhöffel (ein Gut des Hofmarſchalls Maſſow) ]Massow),
wo gleichſam jeder Baum, jeder Zweig, ja ſelbſt jedes Blatt
nach einer entworfenen Idee [Heimböckel:1999 (Reclam) 71] des Schönen gepflanzt, gebogen
u.]und geordnet zu ſein ſcheint; nicht der emporſtrebende Rauch 35
der Feuerreſſen Feuereſſen am Schloſſe, der mich an die Anſtalten erin⸗
nerte
mich mit welchen man eine königliche Familie hier empfangen
wollte; nicht der ganze königliche Troß, der, in eine Staubwolke
gehüllt, vor mir dahin rollte;
nicht die ſchöne, bereits fertige
Chaußee]Chaussee von Friedrichsfelde nach Berlin, auf welcher ich jetzt 40
nicht ohne Freude, aber, wenn ich ſie gebaut hätte, nicht ohne
Stolz gefahren wäre; ſelbſt nicht die brennende Hitze des
Tages, die mir auf den Scheiteln glühte, als ob ich unter der
Linie
wäre, u.]und die ſo ſehr ſie auch meinen Körper erſchlaffte,
doch meinen Geiſt nicht in ſeiner liebſten Beſchäfftigung,]Beschäftigung, in 45
der Erinnerung an Dich ſtören konnte.

Hier bin ich nun in Berlin liest »Berlin.«47a

Als ich hinein fuhr in das Thor, Thor ]Tor im Halbdunkel des Abends Abends, ]Abends, u.]und die hohen weiten Gebäude
anfänglich nur zerſtreut u.]und einzeln umher lagen, dann im̄er
dichter u.]und dichter, u.]und das Leben im̄er lebendiger, u.]und das Geräusch
im̄er geräuſchvoller wurde, als ich nun endlich in die Mitte der 50
ſtolzen Königsſtadt war, u.]und meine Seele ſich erweiterte
um ſo viele zuſtrömende Erſcheinungen zu faſſen, da dachte ich:
wo mag wohl das liebe [MA II 588] Dach liegen, das einſt mich u.]und mein Liebchen
ſchützen wird? Hier an der ſtolzen Colonnade?]Kolonnade? dort in jenem
verſteckten Winkel? oder hier an der offnen Spree?
Werde ich einſt 55
in jenem weitläufigen Gebäude mit vierfachen Reihen von [Heimböckel:1999 (Reclam) 72] Fen⸗
ſtern
mich verlieren, oder hier in dieſem kleinen engen Häuſchen
mich im̄er wieder finden?
Werde ich hier am Abend, nach vollbrachter
Arbeit, hier durch dieſes kleine Gäßchen, mit Papieren unter
dem Arm zu Fuß nach meiner Wohnung gehen, oder werde ich mit 60
Vieren ſtolz durch dieſe prächtige Straße vor jenes hohe Portal
rollen?
Wird mein liebes Minchen, wenn ich ſtill in die Wohnung
treten will, mir von oben herab [DKV IV 70] freundlich zuwinken, u.]und auf dieſer
[3] [BKA IV/1 164] dunkeln Treppe mir entgegenkom̄en, um früher den Kuß der Liebe auf
die durſtenden Lippen zu drücken?, oder werde ich ſie [SE:1993 II 517] in dieſem weiten 65
Pallaſt]Palast ſuchen und eine Reihe von Zimmern durchwandern
müſſen, um ſie endlich auf dem gepolſterten Sopha]Sofa unter geſchmück⸗
ten
u.]und geſchminkten Weibern zu finden?
Wird ſie hier in dieſem
dunkeln Zimmer nur den dünnen Vorhang zu öffnen brauchen, um mir
den Morgengruß zuzulächeln, oder wird ſie von dem weite⸗70
ſten
Flügel jenes Schloſſes her am Morgen einen Jäger zu mir
ſchicken, um ſich zu erkundigen, wie der Herr Gemahl geſchlafen
habe? — —
Ach, liebes Minchen, nein, gewiß, gewiß wirſt
Du das letzte nicht.
Was auch die Sitte der Stadt für Opfer begehrt,
die Sitte der Liebe wird Dir gewiß immer heiliger ſein, und ſo 75
mag denn das Schickſal mich hinführen, wohin es will, hier in
dieſes verſteckte Häuſchen oder dort in jenes prahlende
Schloß, Eines]eines finde ich gewiß unter jedem Dache, Ver⸗
trauen
u.]und Liebe.

Aber, unter uns geſagt, je öfter ich Berlin ſehe, je gewiſſer wird 80
es mir, daß dieſe Stadt, ſo wie alle Reſidenzen u.]und Hauptſtädte kein
eigentlich eigentlicher ]eigentlicher Aufenthalt für die Liebe iſt.
Die Menſchen ſind hier
zu zierlich, um wahr, zu gewitzigt, um offen zu ſein.
Die
Menge von Erſcheinungen ſtört das Herz in ſeinen Genüſſen,
man gewöhnt ſich endlich in ein ſo vielfaches eitles Intereſſe 85
einzugreifen, u.]und verliert am Ende ſein wahres aus den
Augen.

Carln ſprach ich gleich geſtern Morgen,]morgen, aß bei ihm zu Mittag,
er bei mir zu Abend.
Ich grüßte Kleiſten auf der Promenade, Parade, u.]und ward
durch eine Einladung zu heute Abend geſtraft, denn dies [MA II 589] iſt wider 90
meinen Plan.
Mein erſter Gang war zu Struenſee, er war, was
ich bloß fürchtete, nicht gewiß wußte, nicht zu Hauſe.
Du brauchſt
dies nicht zu verſchweigen.
Struenſee komt kommt ]kommt d.]den 26t ]26. wieder u.]und dann
werde ich ihn ſprechen.
Das iſt gewiß.
Du kannſt ſagen, daß
ich ſo lange hier bleiben werde, welches jedoch nicht wahr iſt.
Du wirſt 95
die Wahrheit erfahren.
— Mein zweiter Gang war zu Beneken,
[4] [BKA IV/1 167] den ich aber heute wiederholen muß, weil er nicht [DKV IV 71] zu Hauſe war. —
Mein
dritter war in den Buchladen, wo ich Bücher u.]und Karten für Ulriken,
den Wallenſtein von Schiller — du]Du freuſt Dich [Heimböckel:1999 (Reclam) 73] doch? — für Dich
kaufte.
Ließ]Lies ihn, liebes Mädchen, ich werde ihn auch leſen. So 100
werden ſich unſre Seelen auch in dem dritten Gegenſtande zu⸗
ſammentreffen
.
Laß ihn nach Deiner Willkühr]Willkür auf meine Koſten
binden
u.]und ſchreibe auf der innern]inneren [SE:1993 II 518] Seite des Bandes
die bekannte Formel: H. v. K. an W. v. Z.
Träume Dir ſo mit
ſchönen Vorſtellungen die Zeit unſrer Trennung hinweg.
Alles 105
was Max Piccolomini ſagt, möge, wenn es einige Ähnlichkeit
hat, für mich gelten, alles was Thekla ſagt, ſoll, wenn es eini⸗
ge
Ähnlichkeit hat, für Dich gelten.

Geſtern Abend]abend gieng]ging ich in das berühmte Panorama der
Stadt
Rom.
Es hat indeſſen, wie es ſcheint ſeinen Ruhm 110
niemandem zu danken, als ſeiner Neuheit.
Es iſt die erſte
Ahndung eines Panoramas (Panorama iſt ein griechiſches
Wort.
Für Dich iſt es wohl weiter nichts, als ein unverſtändlich unverſtändlicher ]unverständlicher Klang.
Indeſſen damit Du dir]Dir doch etwas dabei denken kannſt, ſo will
[ich] ich [nicht ergänzt] ]ich es Dir, nach Maßgabe Deiner Begreifungskraft, erklären.
Die 115
erſte Hälfte des Wortes heißt ohngefähr ſo viel wie: von allen
Seiten, ringsherum;
die andere Hälfte heißt ohngefähr: ſehen,
zuſehendes,]zu Sehendes, geſehenes.]Gesehenes.
Daraus magſt Du Dir nun nach Deiner
Willkühr]Willkür ein deutſches Hauptwort zuſammenſetzen.)
Ich ſage,
es iſt die erſte Ahndung eines Panoramas, u.]und ſelbſt die bloße 120
Idee iſt einer weit größeren Vollkommenheit fähig.
Denn da
es nun doch einmal darauf ankommt, den Zuſchauer ganz in
den Wahn zu ſetzen, er ſei in der offnen Natur, ſo daß er durch
nichts an den Betrug erinnern erinnert ]erinnert wird, ſo müßten ganz andere
Anſtalten getroffen werden.
Keine Form des Gebäudes kann 125
nach meiner Einſicht dieſen Zweck erfüllen, als allein die
kugelrunde.
Man müßte auf dem Gemälde ſelbſt ſtehen,
u.]und nach allen Seiten zu keinen Punct]Punkt finden, der [MA II 590] nicht Gemälde
wäre.
Weil aber das Licht von oben hinein fallen u.]und folglich
oben eine Öffnung ſein muß, ſo müßte um dieſe zu verdecken,130
[5] [BKA IV/1 168] etwa ein Baumſtamm aus der Mitte ſich erheben, der dick be⸗
laubte
Zweige ausbreitet u.]und unter deſſen Schatten [DKV IV 72] man gleich⸗
ſam
[Heimböckel:1999 (Reclam) 74] ſtünde.
Doch höre, wie das Alles]alles ausgeführt iſt. Zu mehrerer
Verſtändlichkeit habe ich Dir den Plan beigelegt.

Am Eingange wird man höflichſt erſucht, ſich einzubilden,135
man ſtünde auf den Ruinen des Kaiſerpallaſtes.]Kaiserpalastes.
Das kann
aber wirklich, wenn man durch einen dunkeln Gang hinaufgeſtiegen
iſt bis in die Mitte, nicht ohne große Gefälligkeit geſchehen.
Man
ſteht nämlich auf tüchtigen Fichtenbrettern, welche wie bekannt,
mit dem carariſchen]carrarischen Marmor nicht eben viele Ähnlichkeit haben.140
Aus der Mitte erhebt ſich ein vierkantiger Pfal,]Pfahl, der eine
[SE:1993 II 519] glatte hölzerne Decke trägt, um die obere Öffnung zu verdecken.

Was das eigentlich vorſtellen ſoll, ſieht man gar nicht ein; und
um die Täuſchung vollends mit dem Dolche der Wirklichkeit nie⸗
derzubohren
, hangen an jeder Seite des Pfahles vier nied⸗145
liche
Spiegel, die das Bild des Gemäldes auf eine widerliche
künſtliche Art zurückwerfen.
Der Raum für die Zuſchauer
iſt durch eine hölzerne Schranke begrenzt, die ganz an die Barrie⸗
ren
der Luftſpringer oder Kunſtreiter erinnert.
Drüber hin ſieht
man zunächſt weiß u.]und roth]rot marmorirte]marmorierte Leinwand in geſtalt⸗150
loſen
Formen aufgehängt u.]und geſtützt, u.]und und vertieft u.]und gehoben,
was denn, wie Du Dir leicht denken kannſt, nichts weniger
als die durch den Zahn der Zeit zerknirſchten Trümmer des
Kaiſerpallaſtes]Kaiserpalastes vorſtellen ſoll.
Nächſt dieſem Vordergrunde, folgt
eine ohngefähr 3 Fuß hohe im Kreiſe ſenkrecht umhergeſtellte Ta⸗155
pete
, mit Blättern, Geſteinen, u.]und Trümmern bemahlt,]bemalt, welches gleich⸗
ſam
den Mittelgrund, wie auf unſern Theatern, andeutet.
Denke
Dir dann im Hintergrunde, das eigentliche Gemälde, an einer ſenkrechten
runden Wand, denke Dir einen inwendig bemalten runden Thurm,]Turm,
u.]und du Du ]Du haſt die ganze Vorſtellung des berühmten Panoramas.
160

Der Gegenſtand des Gemäldes iſt intereſſant, denn es iſt Rom.
Aber auch dieſer iſt zuweilen ſchlecht ausgeführt. Die Natur ſelbſt,
bilde ich mir ein, hat es wenigſtens gewiß beſſer gemacht.
[6] [BKA IV/1 171] Das iſt eine Fülle von Gegenſtänden, ein Reichthum]Reichtum [MA II 591] von Schön⸗
heiten
u.]und Partien, deren jede ein[Heimböckel:1999 (Reclam) 75] zeln [DKV IV 73] einen Ort intereſſant 165
machen würde.
Da ſind Thäler,]Täler, Hügel, Alleen, heilige Haine,
Grabmäler, Villen, Ruinen, Bäder, Waſſerleitungen, ]Wasserleitungen
(nur kein Waſſer ſelbſt) ]selbst), Capellen,]Kapellen, Kirchen, Pyramiden, Triumpf⸗
bögen,]Triumphbögen,
der große ungeheure Circus]Zirkus u.]und das prächtige Rom.
Das
letzte beſonders thut]tut ſein Möglichſtes]möglichstes zum Betrug.
Der Künſtler 170
hat grade den Moment des Sonnenunterganges gut getroffen, ohne
die Sonne ſelbſt zu zeigen, die ein Felſen (Numro I)]1) verbirgt.
Dabei
hat er Rom, mit ſeinen Zinnen u.]und Kuppeln ſo geſchickt zwiſchen der
Sonne u.]und dem Zuſchauer ſituirt,]situiert, daß der melancholiſche dunkle
Azurſchleier des Abends, der über die große Antike liegt, und 175
aus welchem nur hin u.]und wieder mit heller Purpurröthe]Purpurröte die erleuch⸗
teten
Spitzen hervorblitzen, ſeine volle Wirkung thut.]tut.
Aber kein
kühler Weſtwind wehte über die Ruinen, auf welchen wir [SE:1993 II 520] ſtanden,
es war erſtickend heiß in dieſer Nähe von Rom,
u.]und ich eilte daher wieder nach Berlin, welche Reiſe diesmal nicht 180
beſchwerlich u.]und langwierig war. —

So]Soeben eben][] trit]tritt ein bewaffneter Diener der Policei]Polizei zu mir
herein, u.]und fragt mich, ob ich, der ehemalige Lieut. v. K., mich durch
Documente]Dokumente legitimiren]legitimieren könne.
Gott ſei Dank, dachte ich, daß Du]du
nicht ein franzöſiſcher oder pohlniſcher]polnischer Emigrirter]Emigrierter biſt, ſonſt würde 185
man Dich]dich wohl höflichſt unverrichteter Sache wieder zum Thore]Tore
hinaus begleiten.
Wer weiß ob er nicht dennoch nach Frankfurt
ſchreibt, um ſich näher nach mir zu erkundigen.
Denn der ſeltſame
militairiſch-akademiſche]militärisch-akademische Zwitter ſchien ihm doch immer noch ein
Anomalon (Ausnahme von der Regel) in dem Bezirk ſeiner 190
Praxis zu ſein. —

So]Soeben eben][] komme ich von Beneken zurück u.]und bringe meiner Schweſter
Wilhelmine gute Nachrichten.
Gieb]Gib ihr einliegenden Zettel. — Zu
welchen Abſcheulichkeiten ſinkt der Menſch hinab, wenn er nichts
als ſeinen eignen Vortheil]Vorteil im Auge hat.
Pfui! Lieber alles verlieren,195
als durch ſolche Mittel gewinnen.
Mein armes Minchen hatte auch
ein beſſeres Schickſal verdient.
Das ſind die Folgen eines einzig einzigen einzigen ]einzigen
[Heimböckel:1999 (Reclam) 76] [7] [BKA IV/1 172] unſeeligen]unseligen Entſchluſſes! —
Werden wir wohl noch einmal uns
[DKV IV 74] ſcheiden?
Statt dieſer zärtlichen Briefe gerichtliche Klagen und
Vorwürfe aufſchreiben?
In dieſen wohlwollenden Herzen einſt Haß 200
u.]und Rache nähren?
Mit dieſen getreuen Kräften einſt wechſelſeitig
[MA II 592] uns in Schande u.]und Elend ſtürzen? —
Werden wir uns ſcheiden? — Wir
nicht,
mein liebes Mädchen.
Aber Einer]einer wird uns freilich ſcheiden,
Einer,]einer, der auch ſchwarz ausſehen ſoll, wie man ſagt, ob er gleich
kein Prieſter iſt.
Doch der ſcheidet immer nur die Körper. 205

Als ich von Beneken zurück kam, begegnete ich Neddermann,
zierlich geputzt, in Schuhen, triefend von Schweiß.
Wo kommen
Sie her, mein Freund? —
Aus dem Examen. —

_____

Ich eile zum Schluſſe. Ließ]Lies die Inſtruction]Instruktion oft durch. Es
wäre am beßten]besten wenn Du ſie auswendig könnteſt.
Du wirſt 210
ſie brauchen.
Ich vertraue Dir ganz, u.]und darum ſollſt Du mehr
von mir erfahren als irgend einer.

Mein Plan hat eine Änderung erlitten, oder beſſer, die Mittel
[SE:1993 II 521] dazu; denn der Zweck ſteht feſt.
Ich fühle mich zu ſchwach, ſchwach schwach ]schwach ganz
allein
zu handeln, wo etwas ſo Wichtiges aufs Spiel ſteht.
Ich 215
ſuche mir daher jetzt, ehe ich handle, einen weiſen, ältern
Freund
auf, den ich Dir nennen werde, ſo]sobald bald][] ich ihn gefunden
habe.
Hier iſt er nicht, u.]und in der Gegend auch nicht. Aber er iſt —
— ſoll ich Dir den Ort nennen?
Ja, das will ich thun!]tun! Ulrike
ſoll immer nur erfahren, wo ich bin, Du aber, mein geliebtes 220
Mädchen, wo ich ſein werde.
Alſo kurz: Morgen geht es nach
— — — — Paſewalk.
Paſewalk?
Ja, Paſewalk, Paſewalk. Was in aller Welt willſt du denn
dort? —
Ja, mein Kind, ſo fragt man die Bauern aus! Begnüge Dich
mit rathen,]raten, bis es für Dich ein Glück ſein wird, zu wiſſen.
225
In 5 oder höchſtens 7 Tagen bin ich wieder hier, u.]und beſorge meine
Geſchäfte bei Struenſee.
Dann iſt die Reiſe noch nicht zu Ende
— du]Du [Heimböckel:1999 (Reclam) 77] erſchrickſt doch nicht?
Ließ]Lies du]Du nur fleißig zur Beruhigung
meine Briefe durch, wie ich deine]Deine Aufſätze.
Und ſchreibe mir nicht
[8] [BKA IV/1 175] anders, als bis ich Dir genau andeute, wohin?
Auch mußt 230
Du immer auf Deine Briefe ſchreiben: ſelbſt abzuholen.
Morgen
denke ich hier einen Brief von Dir zu finden.
Jetzt aber mußt du]Du gleich
[DKV IV 75] wieder ſchreiben, u.]und zwar ſo, daß der Brief den 22t ]22. ſpäteſtens
in Berlin eintrifft.
Sei klug u.]und verſchwiegen. Restés fidèle.

Dein Freund H. K. 235

N. S. Carl kommt mir nicht von der Seite u.]und zerbricht ſich den
Kopf, was ich vorhabe.
Ich werde ihm das Verſprechen abneh[MA II 593] men,
nicht zu erforſchen, was ich will.
Unter dieſer Bedingung will
ich ihm verſprechen, daß er immer von Dir erfahren ſoll, wo ich bin.

Das kannſt Du ihm ihn dann ſchreiben, doch weiter nichts. Du kannſt 240
auch ſagen, daß ich in Berlin bei Carln wohne.
Sollte er auf
Urlaub nach Fr. kommen, ſo bin ich ausgezogen, nach Potsdam ge⸗
gangen
, wie ihr]Ihr wollt, nur immer ihr]Ihr beide einſtimmig.
Wenn
Carl nur ſieht, daß Du Alles]alles weißt, ſo wird er ][] [] nicht erſtaunen
u.]und ſich verwundern, welches ich in alle Fälle gern vermeiden 245
möchte.
Hilf mir meinen Plan ſo ausführen, liebes Mädchen,
Dein Glück iſt ſo gut dabei intereſſirt,]interessiert, ja vielleicht mehr noch,
als das meinige.
Das Alles]alles wirſt Du einſt beſſer ver⸗
ſtehen
.
Lebe wohl. Predige nur in allen Deinen Briefen
Carln Verſchwiegenheit vor.
Er ſoll gegen niemanden viel 250
von mir [SE:1993 II 522] ſprechen, u.]und dringt einer auf ihn ein, antworten,
er wiſſe von nichts.
Adieu. Adieu. In 3 Tagen folgt ein
zweiter Brief.

(Nimm immer die Karte von Deutſchland zur Hand u.]und ſiehe
zu, wo der Ort liegt, in welchem ich mich befinde)
255

— Der][keine neue Zeile] Erſte,]erste, dem Du das Gedicht von
Schiller leihſt, muß Ulrike ſein.

12
An Wilhelmine v. Zenge, 16. August 1800

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/briefe/012, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 07.11.2025

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Textkritische Auszeichnungen

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Apparat

Textwiedergabe nach Kopie der Handschrift. Die Handschrift ist in Besitz von:
Biblioteka Jagiellońska, Kraków; Sammlung Autographa (H. v. Kleist)

Erstdruck: [Bieder:1884] 13–22

Editorische Anmerkungen

  • 10 ein Überwiegend wird in anderen Kleist-Ausgaben hier »einen« gelesen (mit Ausnahme der DKV [IV, 68[, die hier ebenfalls »ein« liest). Im Vergleich mit Schreibungen im direkten Umfeld (»eine« in Zeile 4, »einen« in Zeile 10, »ein« und »einen« in Zeile 18) hat Kleist hier die Nominativform »ein« geschrieben. Hierfür sprechen die horizontale Raumausdehnung der Graphie, ebenso wie die Anzahl der Hebungen.
 Emendationen (insges. 1)
  • 36FeuerreſſenFeuereſſen
 Erwähnte Personen
  • []Benecke, Johann Christian Friedrich (3)
  • []Breysig, Johann Adam von (1)
  • []Brockes, Ludwig von (1)
  • []Kleist, Heinrich von (2)
  • []Kleist, Otto von (1)
  • []Kleist, Ulrike von (3)
  • []Löschbrandt (geb. Kleist), Wilhelmine von (2)
  • []Massow, Valentin von (1)
  • []Neddermann, Johann Karl Wilhelm (1)
  • []Schiller, Friedrich (2)
  • []Struensee, Karl August von (3)
  • []Zenge, Karl von (5)
  • []Zenge, Wilhelmine von (8)
  • [»]Alle Personen anzeigen +/–
 Erwähnte Orte
  • []Berlin (8)
  • []Frankfurth a Oder (3)
  • []Friedrichsfelde (1)
  • []Pasewalk (4)
  • []Potsdam (1)
  • []Rom (5)
  • []Spree (1)
  • []Steinhöffel (1)
  • []Tamsel (1)
  • [»]Alle Orte anzeigen +/–
 Vergleich Editionen

Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)

Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.

[MP:1936] [12 Abw.]
  • 10ein ] einen
  • 15trennte trennte, ]trennte, ] trennte,
  • 47Thor, Thor ]Tor ] Thor
  • 47Abends Abends, ]Abends, ] Abends,
  • 82eigentlich eigentlicher ]eigentlicher ] eigentlicher
  • 93komt kommt ]kommt ] kommt
  • 113unverſtändlich unverſtändlicher ]unverständlicher ] unverſtändlicher
  • 115[ich] ich [nicht ergänzt] ]ich ] ich
  • 124erinnern erinnert ]erinnert ] erinnert
  • 160du Du ]Du ] Du
  • 197einzig einzigen einzigen ]einzigen ] einzigen
  • 214ſchwach, ſchwach schwach ]schwach ] ſchwach
[BKA:1989] [2 Abw.]
  • 10ein ] einen
  • 47aBerlin ] liest »Berlin.«47a
[MA:2010] [8 Abw.]
  • 10ein ] einen
  • 89Promenade, ] Parade,
  • 115[ich] ich [nicht ergänzt] ]ich ] [nicht ergänzt]
  • 151u.]und und ] und
  • 197einzig einzigen einzigen ]einzigen ] einzigen
  • 214ſchwach, ſchwach schwach ]schwach ] schwach
  • 240ihm ihn ] ihn
  • 244 er ][] [] ] []
Stellenkommentar

40 Chaußee von Friedrichsfelde nach Berlin, Zur Geschichte der Frankfurter Chaussee

44 unter der Linie für: am Äquator. Vgl. DWB: ›12) linie, der aequator‹

83 zierlich, eigentlich schön, nett, niedlich; hier in der Bedeutung von geziert, unnatürlich. Siehe auch Adelung-1793

256 Gedicht Die gerade erschienene Dramentrilogie "Wallenstein", die Schiller im Untertitel als "Dramatisches Gedicht" kennzeichnete.

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