Der Zweikampf.
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Der Zweikampf.
Herzog Wilhelm von Breysach, der,
seit
seiner heimlichen Verbindung mit einer
Grä⸗
fin, Namens Katharina von Heersbruck, aus
dem Hause Alt-Hüningen, die unter seinem 5
Range zu sein schien, mit seinem Halbbru⸗
der, dem Grafen Jacob dem Rothbart, in
Feindschaft lebte, kam gegen das Ende des
vierzehnten Jahrhunderts, da die Nacht des
heiligen Remigius zu dämmern begann, von 10
einer in Worms mit dem deutschen Kaiser
abgehaltenen Zusammenkunft zurück, worin er
sich von diesem Herrn, in Ermangelung ehe⸗
licher Kinder, die ihm gestorben waren, die
Legitimation eines, mit seiner Gemahlin vor
15
L 2
164Faksimile der Ehe erzeugten, natürlichen Sohnes, des
Grafen Philipp von Hüningen, ausgewirkt
hatte. Freudiger,
als während des ganzen
Laufs seiner Regierung
in die Zukunft blik⸗
kend, hatte
er schon den Park, der hinter 20
seinem Schlosse
lag, erreicht: als plötzlich
ein Pfeilschuß aus
dem Dunkel der Gebüsche
hervorbrach, und ihm,
dicht unter dem Brust⸗
knochen, den Leib durchbohrte.
Herr Fried⸗
rich von Trota,
sein Kämmerer, brachte ihn, 25
über diesen Vorfall
äußerst betroffen, mit Hülfe
einiger andern
Ritter, in das Schloß, wo
er nur noch, in den
Armen seiner bestürzten
Gemahlin, die Kraft
hatte, einer Versamm⸗
lung von Reichsvasallen, die
schleunigst, auf 30
Veranstaltung der letztern,
zusammenberufen
worden war, die kaiserliche
Legitimations⸗
acte vorzulesen; und
nachdem, nicht ohne
lebhaften Widerstand,
indem, in Folge des
Gesetzes, die Krone an
seinen Halbbruder, 35
den Grafen Jacob den
Rothbart, fiel, die
Vasallen seinen letzten
bestimmten Willen er⸗
füllt, und unter dem Vorbehalt,
die Geneh⸗
165Faksimilemigung des
Kaisers einzuholen, den Grafen
Philipp als
Thronerben, die Mutter aber, 40
wegen
Minderjährigkeit desselben, als Vor⸗
münderin und
Regentin anerkannt hatten:
legte er sich nieder
und starb.
Die Herzogin bestieg nun,
ohne Weiteres,
unter einer bloßen Anzeige, die
sie, durch ei⸗45
nige Abgeordnete, an ihren Schwager, den
Grafen Jacob den Rothbart, thun ließ, den
Thron; und was mehrere Ritter des Hofes,
welche die abgeschlossene Gemüthsart des
letz⸗
teren zu durchschauen meinten, vorausgesagt
50
hatten, das traf, wenigstens dem äußeren
Anschein nach, ein: Jacob der Rothbart
ver⸗
schmerzte,
in obwaltenden kluger Erwägung der
Umstände,
in kluger Erwägung der obwaltenden
Umstände,
das Unrecht, das ihm sein Bru⸗
der zugefügt hatte;
zum mindesten enthielt 55
er sich aller und jeder
Schritte, den letzten
Willen des Herzogs
umzustoßen, und wünschte
seinem jungen Neffen
zu dem Thron, den
er erlangt hatte, von Herzen
Glück. Er be⸗
schrieb den
Abgeordneten, die er sehr heiter 60
und
freudlich
freundlich
[emendiert ohne Hinweis]
Es gibt zwar hunderte Fundstellen für
die Form ›freudlich‹ (für ›freudig‹) in der
zeitgenössischen Literatur, aber keine in Verbindung mit
›heiter‹. Deshalb wird hier emendiert.
an seine Tafel zog, wie er seit
166Faksimile dem Tode seiner Gemahlin, die ihm ein
kö⸗
nigliches Vermögen hinterlassen,
frei und un⸗
abhängig auf seiner Burg lebe;
wie er die
Weiber der angränzenden Edelleute,
seinen 65
eignen Wein, und, in Gesellschaft
munterer
Freunde, die Jagd liebe, und wie ein
Kreuz⸗
zug nach Palästina, auf welchem er die
Sün⸗
den einer raschen Jugend, auch leider, wie
er
zugab, im Alter noch wachsend, abzubüßen 70
dachte, die ganze Unternehmung sei, auf die
er noch, am Schluß seines Lebens, hinaus⸗
sehe. Vergebens machten ihm seine beiden
Söhne,
welche in der bestimmten Hoffnung
der
Thronfolge erzogen worden waren, we⸗75
gen der
Unempfindlichkeit und Gleichgültigkeit
mit
welcher er, auf ganz unerwartete Weise,
in
diese unheilbare Kränkung
ihre
ihrer
Ansprüche
willigte, die bittersten
Vorwürfe: er wies sie,
die noch unbärtig waren,
mit kurzen und 80
spöttischen Machtsprüchen zur
Ruhe, nöthigte
sie, ihm am Tage des feierlichen
Leichenbe⸗
gängnisses, in die Stadt
zu folgen, und da⸗
selbst, an seiner Seite, den
alten Herzog,
167Faksimileihren Oheim,
wie es sich gebühre, zur Gruft 85
zu bestatten;
und nachdem er im Thronsaal
des herzoglichen
Pallastes, dem jungen Prin⸗
zen, seinem Neffen, in
Gegenwart der Re⸗
gentin Mutter, gleich allen
andern Großen
des Hofes, die Huldigung
geleistet hatte, 90
kehrte er unter Ablehnung
aller Aemter und
Würden, welche die letztere
ihm antrug, be⸗
gleitet von den Seegnungen des,
ihn um seine
Großmuth und Mäßigung doppelt
verehrenden
Volks, wieder auf seine Burg
zurück.95
Die Herzoginn schritt nun,
nach dieser
unverhoft glücklichen Beseitigung
der ersten
Interessen, zur Erfüllung ihrer
zweiten Re⸗
gentenpflicht, nämlich, wegen der
Mörder
ihres Gemahls, deren man im Park eine
100
ganze Schaar wahrgenommen haben wollte,
Untersuchungen anzustellen, und prüfte zu
diesem Zweck selbst, mit Herrn Godwin von
Herrthal, ihrem Kanzler, den Pfeil, der
sei⸗
nem Leben ein Ende gemacht hatte. Inzwi⸗105
schen fand man an demselben
nichts, das
den Eigenthümer hätte verrathen
können,
168Faksimile außer etwa, daß
er, auf befremdende Weise,
zierlich und
prächtig gearbeitet war. Starke,
krause und glänzende Federn steckten in einem
110
Stiel, der, schlank und kräftig, von
dun⸗
kelm Nußbaumholz, gedrechselt war; die
Be⸗
kleidung des vorderen Endes war
von glän⸗
zendem Messing, und nur die äußerste Spitze
selbst, scharf wie die Gräte eines
Fisches, 115
war von Stahl. Der Pfeil schien für die
Rüstkammer eines vornehmen und reichen
Mannes verfertigt zu sein, der entweder in
Fehden verwickelt, oder ein großer Liebhaber
von der Jagd war; und da man aus einer, 120
dem
Knopf eingegrabenen, Jahrszahl ersah,
daß dies
erst vor kurzem geschehen sein konn⸗
te: so schickte die
Herzoginn, auf Anrathen
des Kanzlers, den
Pfeil, mit dem Kronsiegel
versehen, in alle
Werkstätten von Deutschland 125
umher, um den
Meister, der ihn gedrechselt
hatte,
aufzufinden, und, falls dies gelang,
von
demselben den Namen dessen zu erfah⸗
ren, auf dessen
Bestellung er gedrechselt wor⸗
den war.130
Fünf Monden darauf lief an
Hr. God⸗
win, den Kanzler, dem die Herzogin die ganze
Untersuchung der Sache übergeben hatte,
die
Erklärung von einem Pfeilmacher aus
Straß⸗
burg ein, daß er ein Schock solcher
Pfeile, 135
sammt dem da zu gehörigen Köcher, vor
drei
Jahren für den Grafen Jacob den Rothbart
verfertigt habe. Der Kanzler, über diese Er⸗
klärung äußerst betroffen, hielt dieselbe
meh⸗
rere Wochen lang in seinem Geheimschrank 140
zurück; zum Theil kannte er, wie er meinte,
trotz
der freien und ausschweifenden
Lebensweise des
Grafen, den Edelmuth desselben
zu gut, als
daß er ihn einer so abscheulichen
That, als die
Ermordung eines Bruders war,
hätte für fä⸗145
hig halten sollen; zum Theil auch, trotz
vie⸗
ler andern guten Eigenschaften, die
Gerechtig⸗
keit der Regentin zu
wenig, als daß er, in
einer Sache, die das
Leben ihres schlimmsten
Feindes galt, nicht
mit der größten Vorsicht 150
hätte verfahren
sollen. Inzwischen stellte er,
unter der Hand, in der Richtung dieser
son⸗
derbaren Anzeige, Untersuchungen
an, und da
170Faksimileer durch die
Beamten der Stadtvoigtei zu⸗
fällig ausmittelte,
daß der Graf, der seine 155
Burg sonst nie oder
nur höchst selten zu ver⸗
lassen pflegte, in der Nacht der
Ermordung
des Herzogs daraus abwesend gewesen
war:
so hielt er es für seine Pflicht, das
Geheim⸗
niß fallen zu lassen, und die Herzogin,
in 160
einer der nächsten Sitzungen des
Staatsraths,
von dem befremdenden und
seltsamen Ver⸗
dacht, der durch diese beiden
Klagpunkte auf
ihren Schwager, den Grafen
Jacob den Rothbart
fiel, umständlich zu
unterrichten.165
Die Herzogin, die sich
glücklich pries, mit
dem Grafen
ihren
ihrem
[liest ›ihrem‹]
[liest ›ihrem‹]
Schwager, auf einem so
freundschaftlichen Fuß zu stehen, und nichts
mehr fürchtete, als seine Empfindlichkeit durch
unüberlegte Schritte zu reizen, gab
inzwischen, 170
zum Befremden des Kanzlers, bei
dieser zwei⸗
deutigen Eröffnung nicht das
mindeste Zeichen
der Freude von sich;
vielmehr, als sie die
Papiere zweimal mit
Aufmerksamkeit überle⸗
sen hatte, äußerte sie
lebhaft ihr Misfallen, 175
daß man eine Sache, die
so ungewiß und
171Faksimilebedenklich
sei, öffentlich im Staatsrath zur
Sprache
bringe. Sie war der Meinung,
daß ein Irrthum oder eine Verläumdung da⸗
bei statt finden müsse, und befahl, von der
An⸗180
zeige schlechthin bei den Gerichten keinen
Ge⸗
brauch zu machen. Ja, bei der außerordent⸗
lichen, fast
schwärmerischen Volksverehrung,
deren der
Graf, nach einer natürlichen Wen⸗
dung der Dinge, seit
seiner Ausschließung 185
vom Throne genoß, schien
ihr auch schon
dieser bloße Vortrag im
Staatsrath äußerst
gefährlich; und da sie
voraus sah, daß ein
Stadtgeschwätz darüber zu
seinen Ohren kom⸗
men würde, so schickte sie, von
einem wahr⸗190
haft edelmüthigen Schreiben begleitet, die
beiden Klagpunkte, die sie das Spiel eines
sonderbaren Misverständnisses nannte,
sammt
dem, worauf sie sich stützen sollten, zu
ihm
hinaus, mit der bestimmten Bitte, sie, die
195
im voraus von seiner Unschuld überzeugt
sei, mit aller Widerlegung derselben zu
ver⸗
schonen.
Der Graf der eben mit einer
Gesell⸗
172Faksimileschaft von
Freunden bei der Tafel saß, stand, 200
als der
Ritter mit der Bothschaft der Herzo⸗
gin, zu ihm eintrat,
verbindlich von seinem
Sessel auf; aber kaum,
während die Freunde
den feierlichen Mann, der
sich nicht nieder⸗
lassen wollte, betrachteten,
hatte er in der 205
Wölbung des Fensters den Brief
überlesen:
als er die Farbe wechselte, und die
Papiere
mit den Worten den Freunden übergab:
Brü⸗
der, seht! welch eine schändliche Anklage,
auf
den Mord meines Bruders, wider mich
zu⸗210
sammengeschmiedet worden ist!
Er nahm dem
Ritter,
mit einem funkelnden Blick, den Pfeil
aus der
Hand, und setzte, die Vernichtung sei⸗
ner Seele
verbergend, inzwischen die Freunde
sich
unruhig um ihn versammelten, hinzu: 215
daß in der
That das Geschoß sein gehöre
und auch der
Umstand, daß er in der Nacht
des heiligen
Remigius aus seinem Schloß ab⸗
wesend gewesen,
gegründet sei! Die Freunde
fluchten über diese hämische und
niederträch⸗220
tige Arglistigkeit; sie
schoben den Verdacht des
Mordes auf die
verruchten Ankläger selbst zu⸗
173Faksimilerück,
und schon waren sie im Begriff, gegen
den
Abgeordneten, der die Herzoginn, seine
Frau,
in Schutz nahm, beleidigend zu wer⸗225
den: als der Graf, der
die Papiere noch ein⸗
mal überlesen hatte, indem er
plötzlich un⸗
ter sie trat, ausrief: ruhig, meine Freunde!
— und damit nahm er sein Schwerdt, das im
Winkel stand, und übergab es dem Ritter
230
mit den Worten: daß er sein Gefangener
sei! Auf die
betroffene Frage des Ritters: ob
er recht
gehört, und ob er in der That die
beiden
Klagpunkte, die der Kanzler aufgesetzt,
anerkenne? antwortete der Graf: ja! ja! ja! 235
— Inzwischen hoffe er der
Nothwendigkeit
überhoben zu sein, den Beweis
wegen seiner
Unschuld anders, als vor den
Schranken ei⸗
nes förmlich von der Herzoginn
niedergesetz⸗
ten Gerichts zu
führen. Vergebens bewiesen 240
die Ritter, mit dieser Aeußerung höchst
un⸗
zufrieden, daß er in diesem Fall
wenigstens
keinem andern, als dem Kaiser, von
dem
Zusammenhang der Sache Rechenschaft zu
geben brauche; der Graf, der sich in einer 245
174Faksimilesonderbar plötzlichen
Wendung der Gesinnung,
auf die Gerechtigkeit
der Regentin berief, be⸗
stand darauf, sich vor dem
Landestribunal zu
stellen, und schon, indem er
sich aus ihren
Armen losriß, rief er, aus dem
Fenster hin⸗250
aus, nach seinen Pferden, willens, wie er
sagte, dem Abgeordneten unmittelbar in die
Ritterhaft zu folgen: als die
Waffengefähr⸗
ten ihm gewaltsam, mit
einem Vorschlag, den
er endlich annehmen
mußte, in den Weg tra⸗255
ten. Sie setzten in ihrer Gesammtzahl ein
Schreiben an die Herzogin auf, forderten
als
ein Recht, das jedem Ritter in solchem
Fall
zustehe, freies Geleit für ihn, und boten
ihr
zur Sicherheit, daß er sich dem von ihr 260
errichteten Tribunal stellen, auch allem, was
dasselbe über ihn verhängen mögte, unterwer⸗
fen
würde, eine Bürgschaft von 20000 Mark
Silbers
an.
Die Herzogin, auf diese
unerwartete und 265
ihr unbegreifliche Erklärung,
hielt es, bei den
abscheulichen Gerüchten, die
bereits über die
Veranlassung der Klage, im
Volk herrschten,
175Faksimilefür das
Rathsamste, mit gänzlichem Zurück⸗
treten ihrer
eignen Person, dem Kaiser die 270
ganze
Streitsache vorzulegen. Sie schickte
ihm, auf den Rath des Kanzlers, sämmtliche
über den Vorfall lautende Actenstücke zu,
und bat, in seiner Eigenschaft als
Reichs⸗
oberhaupt ihr die
Untersuchung in einer Sache 275
abzunehmen, in der
sie selber als Parthei be⸗
fangen sei. Der Kaiser, der sich wegen Ver⸗
handlungen mit der Eidgenossenschaft grade
damals in Basel aufhielt, willigte in
diesen
Wunsch; er setzte daselbst ein Gericht
von 280
drei Grafen, zwölf Rittern und zwei
Gerichts⸗
assessoren nieder; und
nachdem er dem Gra⸗
fen Jacob dem Rothbart, dem
Antrag seiner
Freunde gemäß, gegen die
dargebotene Bürg⸗
schaft von 20000 Mark Silbers
freies Ge⸗285
leit zugestanden hatte, forderte er ihn auf,
sich dem erwähnten Gericht zu stellen, und
demselben über die beiden Puncte: wie der
Pfeil, der, nach seinem eignen Geständniß
sein gehöre, in die Hände des Mörders
ge⸗290
kommen? auch: an welchem dritten Ort er
176Faksimilesich in der Nacht des
heiligen Remigius auf⸗
gehalten habe, Red’ und Antwort
zu geben.
Es war am Montag nach
Trinitatis, als
der Graf Jacob der Rothbart,
mit einem 295
glänzenden Gefolge von Rittern, der
an ihn
ergangenen Aufforderung gemäß, in Basel
vor den Schranken des Gerichts erschien,
und
sich daselbst, mit Uebergehung der ersten,
ihm,
wie er vorgab, gänzlich unauflöslichen
Frage, 300
in Bezug auf die zweite, welche für den
Streitpunct entscheidend war,
folgendermaa⸗
ßen faßte: „Edle
Herren!“ und damit stützte
er seine Hände auf
das Geländer, und schaute
aus seinen kleinen
blitzenden Augen, von röth⸗305
lichen
Augenwimpern überschattet, die Ver⸗
sammlung an.
„Ihr beschuldigt mich, der
von seiner Gleichgültigkeit gegen Krone und
Scepter Proben genug gegeben hat, der
ab⸗
scheulichsten Handlung, die
begangen werden 310
kann, der Ermordung meines,
mir in der
That wenig geneigten, aber darum
nicht min⸗
der theuren Bruders; und als Einen der
Gründe, worauf ihr eure Anklage stützt, führt
ihr177Faksimileihr an, daß ich in der Nacht des
heiligen 315
Remigius, da jener Frevel verübt
ward, ge⸗
gen eine durch viele Jahre beobachtete
Ge⸗
wohnheit, aus meinem Schlosse
abwesend war.
Nun
ist mir gar wohl bekannt, was ein Rit⸗
ter, der Ehre
solcher Damen, deren Gunst ihm 320
heimlich zu
Theil wird, schuldig ist; und wahr⸗
lich! hätte der
Himmel nicht, aus heiterer
Luft, dies
sonderbare Verhängniß über mein
Haupt
zusammengeführt: so würde das Ge⸗
heimniß, das in
meiner Brust schläft, mit mir 325
gestorben, zu
Staub verwest, und erst auf
den Posaunenruf
des Engels, der die Gräber
sprengt, vor Gott
mit mir erstanden sein.
Die Frage aber, die kaiserliche Majestät durch
euren Mund an mein Gewissen richtet,
macht, 330
wie ihr wohl selbst einseht, alle
Rücksichten
und alle Bedenklichkeiten zu
Schanden; und
weil ihr denn wissen wollt,
warum es weder
wahrscheinlich, noch auch
selbst möglich sei,
daß ich an dem Mord meines
Bruders, es 335
sei nun persönlich oder mittelbar,
Theil ge⸗
Kleists Erzähl. 2te S. M178Faksimilenommen, so vernehmt, daß ich in
der Nacht
des heiligen Remigius, also zur
Zeit, da er
verübt worden, heimlich bei der
schönen, in
Liebe mir ergebenen Tochter des
Landdrosts 340
Winfried von Breda, Frau Wittib
Littegarde
von Auerstein war.“
Nun muß man wissen, daß Frau
Wittib
Littegarde von Auerstein, so wie die
schönste,
so auch, bis auf den Augenblick
dieser schmäh⸗345
lichen Anklage, die
unbescholtenste und makel⸗
loseste Frau des
Landes war. Sie lebte, seit
dem Tode des Schloßhauptmanns von Auer⸗
stein, ihres Gemahls, den sie wenige
Mon⸗
den nach ihrer Vermählung an einem an⸗350
steckenden Fieber verloren hatte, still und
ein⸗
gezogen auf der Burg ihres
Vaters; und
nur auf den Wunsch dieses alten
Herrn, der
sie gern wieder vermählt zu sehen
wünschte,
ergab sie sich darin, dann und wann
bei den 355
Jagdfesten und Banketten zu
erscheinen, wel⸗
che von der Ritterschaft der
umliegenden Ge⸗
gend, und hauptsächlich von Hr.
Jacob dem
Rothbart, angestellt wurden. Viele Grafen
179Faksimileund Herren, aus den edelsten und begütert⸗360
sten Geschlechtern des Landes, fanden
sich
mit ihren Werbungen, bei solchen
Gelegen⸗
heiten um sie ein, und unter
diesen war ihr
Hr. Friedrich von Trota, der
Kämmerer, der
ihr einst auf der Jagd gegen den
Anlauf ei⸗365
nes verwundeten Ebers tüchtiger Weise das
Leben gerettet hatte, der Theuerste und
Lieb⸗
ste; inzwischen hatte sie sich aus
Besorgniß,
ihren beiden, auf die
Hinterlassenschaft ihres
Vermögens rechnenden
Brüdern dadurch zu 370
misfallen, aller
Ermahnungen ihres Vaters
ungeachtet, noch
nicht entschließen können,
ihm ihre Hand zu
geben. Ja, als Rudolph,
der Aeltere von beiden sich mit einem reichen
Fräulein aus der Nachbarschaft vermählte,
375
und ihm, nach einer dreijährigen
kinderlosen
Ehe, zur großen Freude der
Familie, ein
Stammhalter gebohren ward: so
nahm sie,
durch manche deutliche und
undeutliche Erklä⸗
rung bewogen, von Herrn
Friedrich, ihrem 380
Freunde, in einem unter
vielen Thränen ab⸗
gefaßten Schreiben, förmlich
Abschied, und
M 2
180Faksimilewilligte, um die Einigkeit des Hauses zu
er⸗
halten, in den Vorschlag ihres Bruders, den
Platz als Aebtissin in einem Frauenstift
ein⸗385
zunehmen, das unfern ihrer
väterlichen Burg
an den Ufern des Rheins lag.
Grade um die Zeit, da bei
dem Erzbischof
von Straßburg dieser Plan
betrieben ward,
und die Sache im Begriff war
zur Aus⸗390
führung zu kommen, war es, als der
Land⸗
drost, Hr. Winfried von Breda, durch das
von dem Kaiser eingesetzte Gericht, die
An⸗
zeige von der Schande seiner Tochter
Litte⸗
garde, und die Aufforderung
erhielt, dieselbe 395
zur Verantwortung gegen die
von dem Gra⸗
fen Jacob wider sie angebrachte
Beschuldi⸗
gung nach Basel zu
befördern. Man bezeich⸗
nete ihm, im Verlauf des Schreibens,
genau
die Stunde und den Ort, in welchem der
400
Graf, seinem Vorgeben gemäß, bei Frau
Lit⸗
tegarde seinen Besuch heimlich
abgestattet ha⸗
ben wollte, und schickte ihm sogar einen, von
ihrem verstorbenen Gemahl herrührenden
Ring
mit, den er beim Abschied, zum Andenken
an 405
181Faksimiledie verflossene Nacht,
aus ihrer Hand em⸗
pfangen zu haben versicherte.
Nun litt Hr.
Winfried eben, am Tage der Ankunft dieses
Schreibens an einer schweren und schmerz⸗
vollen
Unpäßlichkeit des Alters; er wankte, 410
in einem
äußerst gereizten Zustande, an der
Hand seiner
Tochter im Zimmer umher, das
Ziel schon ins
Auge fassend, das Allem was
Leben athmet
gesteckt ist; dergestalt, daß ihn,
bei
Ueberlesung dieser fürchterlichen Anzeige, 415
der
Schlag augenblicklich rührte, und er, in⸗
dem er das
Blatt fallen ließ, mit gelähmten
Gliedern auf
den Fußboden niederschlug. Die
Brüder, die gegenwärtig waren, hoben ihn
bestürzt vom Boden auf, und riefen einen 420
Arzt herbei, der zu seiner Pflege, in den
Nebengebäuden wohnte; aber alle Mühe, ihn
wieder ins Leben zurück zu bringen, war
um⸗
sonst: er gab, während Frau Littegarde
be⸗
sinnungslos in dem Schooß ihrer
Frauen lag, 425
seinen Geist auf, und diese, da
sie erwachte,
hatte auch nicht den letzten
bittersüßen Trost,
ihm ein Wort zur
Vertheidigung ihrer Ehre
182Faksimilein die Ewigkeit mitgegeben zu haben. Das
Schrecken der beiden Brüder über diesen
heil⸗430
losen Vorfall, und ihre Wuth über die der
Schwester angeschuldigte und leider nur zu
wahrscheinliche Schandthat, die ihn
veran⸗
laßt hatte, war unbeschreiblich. Denn sie
wußten nur zu
wohl, daß Graf Jacob der 435
Rothbart ihr in der
That, während des gan⸗
zen vergangenen Sommers,
angelegentlich den
Hof gemacht hatte; mehrere
Tourniere und
Bankette waren bloß ihr zu Ehren
von
ihm angestellt, und sie, auf eine schon
damals 440
sehr anstößige Weise, vor allen andern
Frau⸗
en, die er zur Gesellschaft zog, von ihm
aus⸗
gezeichnet worden. Ja, sie erinnerten sich,
daß Littegarde, grade um die Zeit des besag⸗
ten
Remigiustages, eben diesen von ihrem 445
Gemahl
herstammenden Ring, der sich jetzt,
auf
sonderbare Weise in den Händen des
Grafen
Jacob wieder fand, auf
einen
einem
[emendiert ohne Hinweis]
Spa⸗
ziergang verloren zu haben vorgegeben hatte;
dergestalt, daß sie nicht einen Augenblick
an 450
der Wahrhaftigkeit der Aussage, die der
Graf
183Faksimilevor Gericht gegen
sie abgeleistet hatte, zwei⸗
felten. Vergebens — inzwischen unter den Kla⸗
gen des Hofgesindes die väterliche Leiche
weg⸗
getragen ward — umklammerte sie,
nur um 455
einen Augenblick Gehör bittend, die
Kniee
ihrer Brüder; Rudolph, vor Entrüstung
flam⸗
mend, fragte sie, indem er sich zu ihr
wandte:
ob sie einen Zeugen für die
Nichtigkeit der
Beschuldigung für sich
aufstellen könne? und 460
da sie unter Zittern und
Beben erwiederte:
daß sie sich leider auf
nichts, als die Unsträf⸗
lichkeit
ihres Lebenswandels berufen könne,
indem ihre
Zofe grade wegen eines Besuchs,
den sie in der
bewußten Nacht bei ihren El⸗465
tern abgestattet, aus
ihrem Schlafzimmer
abwesend gewesen sei: so
stieß Rudolph sie
mit Füßen von sich, riß ein
Schwerdt
das an der Wand hing, aus der
Schei⸗
de, und befahl ihr, in misgeschaffner
Lei⸗470
denschaft tobend, indem er Hunde
und
Knechte herbeirief, augenblicklich das
Haus
und die Burg zu verlassen. Littegarde stand
bleich
wie Kreide, vom Boden auf; sie bat,
184Faksimileindem sie seinen Mishandlungen schweigend 475
auswich, ihr wenigstens zur Anordnung der
erforderten Abreise die nöthige Zeit zu
lassen;
doch Rudolph antwortete weiter nichts,
als,
vor Wuth schäumend: hinaus, aus dem
Schloß! dergestalt, daß da er auf seine eigne
480
Frau, die ihm mit der Bitte um Schonung
und Menschlichkeit, in den Weg trat, nicht
hörte, und sie, durch einen Stoß mit dem
Griff des Schwerdts, der ihr das Blut
flie⸗
ßen machte, rasend auf die Seite warf, die
485
unglückliche Littegarde, mehr todt als
leben⸗
dig, das Zimmer verließ: sie wankte, von
den Blicken der gemeinen Menge umstellt,
über den Hofraum der Schloßpforte zu, wo
Rudolph ihr ein Bündel mit Wäsche, wozu
490
er einiges Geld legte, hinausreichen ließ,
und
selbst hinter ihr, unter Flüchen und
Verwün⸗
schungen, die Thorflügel
verschloß.
Dieser plötzliche Sturz, von
der Höhe
eines heiteren und fast ungetrübten
Glücks, 495
in die Tiefe eines unabsehbaren und
gänzlich
hülflosen Elends, war mehr als das
arme
185FaksimileWeib ertragen
konnte. Unwissend, wohin
sie sich wenden
solle, wankte sie, gestützt am
Geländer, den
Felsenpfad hinab, um sich we⸗500
nigstens für die
einbrechende Nacht ein Un⸗
terkommen zu
verschaffen; doch ehe sie noch
den Eingang des
Dörfchens, das verstreut
im Thale lag,
erreicht hatte, sank sie schon
ihrer Kräfte
beraubt, auf den Fußboden nie⸗505
der. Sie mogte, allen Erdenleiden entrückt,
wohl eine Stunde so gelegen haben, und
völlige Finsterniß deckte schon die Gegend,
als sie, umringt von mehreren mitleidigen
Ein⸗
wohnern des Orts, erwachte.
Denn ein Kna⸗510
be, der am
Felsenabhang spielte, hatte sie da⸗
selbst bemerkt, und
in dem Hause seiner El⸗
tern von einer so sonderbaren und
auffallen⸗
den Erscheinung Bericht
abgestattet; worauf
diese, die von Littegarden
mancherlei Wohl⸗515
thaten empfangen hatten,
äußerst bestürzt sie
in einer so trostlosen
Lage zu wissen, sogleich
aufbrachen, um ihr
mit Hülfe, so gut es in
ihren Kräften stand,
beizuspringen. Sie er⸗
holte sich durch die Bemühungen dieser Leute
520
186Faksimilegar bald, und gewann
auch, bei dem Anblick
der Burg, die hinter ihr
verschlossen war,
ihre Besinnung wieder; sie
weigerte sich aber
das Anerbieten zweier
Weiber, sie wieder auf
das Schloß hinauf zu
führen, anzunehmen, 525
und bat nur um die
Gefälligkeit, ihr sogleich
einen Führer herbei
zu schaffen, um ihre
Wanderung fortzusetzen.
Vergebens stellten
ihr die Leute vor, daß sie in ihrem Zustande
keine Reise antreten könne; Littegarde bestand 530
unter dem Vorwand, daß ihr Leben in Ge⸗
fahr sei, darauf, augenblicklich die Gränzen
des Burggebiets zu verlassen; ja, sie
machte,
da sich der Haufen um sie, ohne ihr zu
hel⸗
fen, immer vergrößerte, Anstalten, sich mit
535
Gewalt los zu reißen, und sich allein,
trotz
der Dunkelheit der hereinbrechenden
Nacht,
auf den Weg zu begeben; dergestalt daß
die
Leute nothgedrungen, aus Furcht, von der
Herrschaft, falls ihr ein Unglück
zustieße, da⸗540
für in Anspruch genommen zu werden, in
ihren Wunsch willigten, und ihr ein Fuhr⸗
werk herbeischafften, das mit ihr, auf die
187Faksimilewiederholt an sie
gerichtete Frage, wohin sie
sich denn
eigentlich wenden wolle, nach Basel 545
abfuhr.
Aber schon vor dem Dorfe
änderte sie,
nach einer aufmerksamern Erwägung
der Um⸗
stände, ihren Entschluß, und befahl ihrem
Führer umzukehren, und sie nach der, nur 550
wenige Meilen entfernten Trotenburg zu
fah⸗
ren. Denn sie
fühlte wohl, daß sie ohne
Beistand, gegen
einen solchen Gegner, als
der Graf Jacob der
Rothbart war, vor dem
Gericht zu Basel nichts
ausrichten würde; 555
und niemand schien ihr des
Vertrauens, zur
Vertheidigung ihrer Ehre
aufgerufen zu wer⸗
den, würdiger, als ihr wackerer,
ihr in Liebe,
wie sie wohl wußte, immer noch
ergebener
Freund, der treffliche Kämmerer Hr.
Fried⸗560
rich von Trota. Es mogte ohngefähr Mit⸗
ternacht sein,
und die Lichter im Schlosse
schimmerten noch,
als sie äußerst ermüdet
von der Reise, mit
ihrem Fuhrwerk daselbst
ankam. Sie schickte einen Diener des Hau⸗565
ses, der ihr entgegen kam, hinauf, um der
188FaksimileFamilie ihre Ankunft
anmelden zu lassen; doch
ehe dieser noch
seinen Auftrag vollführt hatte,
traten auch
schon Fräulein Bertha und Ku⸗
nigunde, Hrn.
Friedrichs Schwestern, vor 570
die Thür hinaus,
die zufällig, in Geschäften
des Haushalts, im
untern Vorsaal waren.
Die Freundinnen hoben Littegarden, die ihnen
gar wohl bekannt war, unter freudigen
Be⸗
grüßungen vom Wagen, und führten
sie, ob⸗575
schon nicht ohne einige Beklemmung, zu ihrem
Bruder hinauf, der in Acten, womit ihn ein
Prozeß überschüttete, versenkt, an einem
Ti⸗
sche saß. Aber wer
beschreibt das Erstaunen
Hrn. Friedrichs, als
er auf das Geräusch, 580
das sich hinter ihm
erhob, sein Antlitz wandte,
und Frau
Littegarden, bleich und entstellt, ein
wahres
Bild der Verzweiflung, vor ihm auf
Knieen
nieder sinken sah. „Meine theuerste
Littegarde!“ rief er, indem er aufstand, und
585
sie vom Fußboden erhob: „was ist euch
wi⸗
derfahren?“ Littegarde, nachdem
sie sich auf
einen Sessel niedergelassen
hatte, erzählte ihm,
was vorgefallen; welch’
eine verruchte An⸗
189Faksimilezeige der Graf
Jacob der Rothbart, um sich 590
von dem Verdacht,
wegen Ermordung des
Herzogs, zu reinigen, vor
dem Gericht zu
Basel in Bezug auf sie,
vorgebracht habe;
wie die Nachricht davon
ihrem alten, eben
an einer Unpäßlichkeit
leidenden Vater augen⸗595
blicklich den Nervenschlag
zugezogen, an wel⸗
chem er auch, wenige Minuten
darauf, in
den Armen seiner Söhne verschieden
sei; und
wie diese in Entrüstung darüber
rasend, ohne
auf das, was sie zu ihrer
Vertheidigung vor⸗600
bringen könne, zu hören, sie mit
den ent⸗
setzlichsten Mishandlungen
überhäuft, und zu⸗
letzt, gleich einer
Verbrecherinn, aus dem Hause
gejagt hatten.
Sie bat Hrn. Friedrich, sie
unter einer schicklichen Begleitung nach
Ba⸗605
sel zu befördern, und ihr daselbst einen
Rechts⸗
gehülfen anzuweisen, der ihr,
bei ihrer Er⸗
scheinung vor dem von dem Kaiser
einge⸗
setzten Gericht, mit klugem
und
besonnenen
besonnenem
[emendiert nicht]
[emendiert nicht]
Rath, gegen jene schändliche Beschuldigung,
610
zur Seite stehen könne. Sie versicherte, daß
ihr
aus dem Munde eines Parthers oder
190FaksimilePersers, den sie nie mit Augen gesehen, eine
solche Behauptung nicht hätte unerwarteter
kommen können, als aus dem Munde des 615
Grafen Jacobs des Rothbarts, indem ihr
derselbe seines schlechten Rufs sowohl, als
seiner äußeren Bildung wegen, immer in der
tiefsten Seele verhaßt gewesen sei, und
sie
die Artigkeiten, die er sich, bei den
Festgelagen 620
des vergangenen Sommers, zuweilen
die Frei⸗
heit genommen ihr zu sagen, stets mit der
größten Kälte und Verachtung abgewiesen
habe. „Genug,
meine theuerste Littegarde!“
rief Hr.
Friedrich, indem er mit edlem Ei⸗625
fer ihre Hand nahm, und
an seine Lippen
drückte: „verliert kein Wort
zur Vertheidi⸗
gung und Rechtfertigung eurer
Unschuld! In
meiner
Brust spricht
ein
eine
[emendiert ohne Hinweis]
Stimme für euch,
weit lebhafter und
überzeugender, als alle 630
Versicherungen, ja
selbst als alle Rechtsgründe
und Beweise, die
ihr vielleicht aus der Ver⸗
bindung der
Umstände und Begebenheiten, vor
dem Gericht zu
Basel für euch aufzubringen
vermögt. Nehmt mich, weil eure ungerechten 635
191Faksimileund ungroßmüthigen Brüder
euch verlassen,
als euren Freund und Bruder
an, und gönnt
mir den Ruhm, euer Anwald in
dieser Sache
zu sein; ich will den Glanz eurer
Ehre vor
dem Gericht zu Basel und vor dem
Urtheil 640
der ganzen Welt wiederherstellen!“
Damit
führte er
Littegarden, deren Thränen vor
Dankbarkeit und
Rührung, bei so edelmü⸗
thigen Aeußerungen heftig
flossen, zu Frau
Helenen, seiner Mutter
hinauf, die sich be⸗645
reits in ihr Schlafzimmer
zurückgezogen hatte;
er stellte
sie
sie
Vor ›sie‹ findet sich ein Spieß
(unbeabsichtigt mitdruckendes Blindmaterial).
dieser würdigen alten Dame,
die ihr mit
besonderer Liebe zugethan war,
als eine
Gastfreundinn vor, die sich, wegen
eines
Zwistes, der in ihrer Familie ausgebro⸗650
chen,
entschlossen habe, ihren Aufenthalt wäh⸗
rend einiger
Zeit auf seiner Burg zu nehmen;
man räumte ihr
noch in derselben Nacht ei⸗
nen ganzen Flügel des
weitläufigen Schlosses
ein, erfüllte, aus dem
Vorrath der Schwe⸗655
stern, die Schränke, die sich
darin befanden,
reichlich mit Kleidern und
Wäsche für sie,
wies ihr auch, ganz ihrem
Range gemäß,
192Faksimileeine
anständige ja prächtige Dienerschaft an:
und
schon am dritten Tage befand sich Hr. 660
Friedrich von Trota, ohne sich über die Art
und Weise, wie er seinen Beweis vor Ge⸗
richt zu
führen gedachte, auszulassen, mit ei⸗
nem zahlreichen Gefolge
von Reisigen und
Knappen auf der Straße nach
Basel. 665
Inzwischen war, von den
Herren von
Breda, Littegardens Brüdern, ein
Schrei⸗
ben, den auf der Burg statt gehabten
Vor⸗
fall anbetreffend, bei dem Gericht zu Basel
eingelaufen, worin sie das arme Weib, sei
670
es nun, daß sie dieselbe wirklich für
schuldig
hielten, oder daß sie sonst Gründe
haben
mogten, sie zu verderben, ganz und gar,
als
eine überwiesene Verbrecherinn, der
Verfol⸗
gung der Gesetze Preis
gaben.
Wenigstens 675
nannten sie die
Verstoßung derselben aus der
Burg,
unedelmüthiger und unwahrhaftiger
Weise, eine
freiwillige Entweichung; sie be⸗
schrieben, wie
sie sogleich, ohne irgend etwas
zur
Vertheidigung ihrer Unschuld aufbringen 680
zu
können, auf einige entrüstete Aeußerungen,
die193Faksimiledie ihnen entfahren wären, das Schloß ver⸗
lassen
habe; und waren, bei der Vergeblich⸗
keit aller
Nachforschungen, die sie betheuer⸗
ten, ihrethalb
angestellt zu haben, der Mei⸗685
nung, daß sie jetzt
wahrscheinlich, an der
Seite eines dritten
Abentheurers, in der
Welt umirre, um das Maaß
ihrer Schande
zu erfüllen. Dabei trugen sie, zur Ehren⸗
rettung der durch sie beleidigten Familie,
da⸗690
rauf an, ihren Namen aus der
Geschlechts⸗
tafel des Bredaschen
Hauses auszustreichen,
und begehrten, unter
weitläufigen Rechtsde⸗
ductionen, sie, zur Strafe
wegen so unerhör⸗
ter Vergehungen, aller
Ansprüche auf die 695
Verlassenschaft des edlen
Vaters, den ihre
Schande ins Grab gestürzt,
für verlustig zu
erklären. Nun waren die Richter zu Basel
zwar weit entfernt, diesem Antrag, der
ohne⸗
hin gar nicht vor ihr Forum gehörte, zu 700
willfahren; da inzwischen der Graf Jacob,
beim Empfang dieser Nachricht, von seiner
Theilnahme an dem Schicksal Littegardens
die unzweideutigsten und entscheidendsten
Be⸗
Kleists Erzähl. 2te S. N
194Faksimileweise
gab, und heimlich, wie man erfuhr, 705
Reuter
ausschickte, um sie aufzusuchen und
ihr einen
Aufenthalt auf seiner Burg anzu⸗
bieten: so setzte
das Gericht in die Wahrhaf⸗
tigkeit seiner
Aussage keinen Zweifel mehr, und
beschloß die
Klage die wegen Ermordung des 710
Herzogs über
ihn
schwebte, sofort aufzuheben.
Ja, diese Theilnahme, die er der
Unglückli⸗
chen in diesem Augenblick
der Noth schenkte,
wirkte selbst höchst
vortheilhaft auf die Mei⸗
nung des in seinem Wohlwollen
für ihn sehr 715
wankenden Volks; man
entschuldigte jetzt,
was man früherhin schwer
gemißbilligt hatte,
die Preisgebung einer ihm
in Liebe ergebenen
Frau, vor der Verachtung
aller Welt, und
fand, daß ihm unter so
außerordentlichen 720
und ungeheuren Umständen, da
es ihm nichts
Geringeres, als Leben und Ehre
galt, nichts
übrig geblieben sei, als
rücksichtslose Aufdek⸗
kung des
Abentheuers, das sich in der Nacht
des
heiligen Remigius zugetragen hatte. Dem⸗725
nach ward, auf ausdrücklichen Befehl des
Kaisers, der Graf Jacob der Rothbart von
195Faksimileneuem vor Gericht
geladen, um feierlich,
bei offnen Thüren, von
dem Verdacht, zur
Ermordung des Herzogs
mitgewirkt zu ha⸗730
ben, freigesprochen zu werden.
Eben hatte
der
Herold, unter den Hallen des weitläufi⸗
gen
Gerichtssaals, das Schreiben der Herren
von
Breda abgelesen, und das Gericht machte
sich
bereit, dem Schluß des Kaisers gemäß, 735
in Bezug
auf den ihm zur Seite stehenden
Angeklagten,
zu einer förmlichen Ehrener⸗
klärung zu
schreiten: als Hr. Friedrich von
Trota vor die
Schranken trat, und sich, auf
das allgemeine
Recht jedes unpartheiischen 740
Zuschauers
gestützt, den Brief auf einen Au⸗
genblick zur
Durchsicht ausbat. Man wil⸗
ligte, während die Augen alles Volks auf
ihn gerichtet waren, in seinen Wunsch; aber
kaum hatte Hr. Friedrich aus den Händen
745
des Herolds das Schreiben erhalten, als er
es, nach einem flüchtig hinein geworfenen
Blick, von oben bis unten zerriß, und die
Stücken, sammt seinem Handschuh, die er
zusammen wickelte, mit der Erklärung dem
750
N 2
196Faksimile Grafen Jacob dem Rothbart ins Gesicht
warf: daß er ein schändlicher und nieder⸗
trächtiger Verläumder, und er
entschlossen
sei, die Schuldlosigkeit Frau
Littegardens an
dem Frevel, den er ihr
vorgeworfen, auf 755
Tod und Leben, vor aller
Welt, im Gottes⸗
urtheil zu beweisen! — Graf Jacob der Roth⸗
bart,
nachdem er, blaß im Gesicht, den Hand⸗
schuh
aufgenommen, sagte: „so gewiß als
Gott
gerecht, im Urtheil der Waffen, ent⸗760
scheidet, so
gewiß werde ich dir die Wahr⸗
haftigkeit
dessen, was ich, Frau Littegarden
betreffend,
nothgedrungen verlautbart, im ehr⸗
lichen ritterlichen
Zweikampf beweisen! Er⸗
stattet, edle Herren,“ sprach er, indem er
765
sich zu den Richtern wandte, „kaiserlicher
Majestät Bericht von dem Einspruch,
welchen
Hr. Friedrich gethan, und ersucht sie,
uns
Stunde und Ort zu bestimmen, wo wir uns,
mit dem Schwerdt in der Hand, zur
Entschei⸗770
dung dieser Streitsache
begegnen können!“
Dem gemäß schickten die Richter, unter Auf⸗
hebung der
Session, eine Deputation, mit
197Faksimiledem Bericht über
diesem
diesen
[emendiert ohne Hinweis]
Vorfall an den Kai⸗
ser ab; und da dieser durch das
Auftreten 775
Hrn. Friedrichs, als Vertheidiger
Littegar⸗
dens, nicht wenig in seinem
Glauben an die
Unschuld des Grafen irre
geworden war:
so rief er, wie es die
Ehrengesetze erforderten,
Frau Littegarden,
zur Beiwohnung des Zwei⸗780
kampfs, nach Basel, und setzte
zur Aufklä⸗
rung des sonderbaren Geheimnisses, das
über
dieser Sache schwebte, den Tag der
heiligen
Margarethe als die Zeit, und den
Schloß⸗
platz zu Basel als den Ort
an, wo beide, 785
Hr. Friedrich von Trota und der
Graf Ja⸗
cob der Rothbart, in Gegenwart Frau
Litte⸗
gardens einander treffen
sollten.
Eben ging, diesem Schluß
gemäß, die Mit⸗
tagssonne des Margarethentages
über die 790
Thürme der Stadt Basel, und eine
unermeßli⸗
che Menschenmenge, für
welche man Bänke und
Gerüste zusammen
gezimmert hatte, war auf
dem Schloßplatz
versammelt, als auf den drei⸗
fachen Ruf des vor
dem Altan der Kampf⸗795
richter stehenden Herolds,
beide, von Kopf
198Faksimilezu Fuß in
schimmerndes Erz gerüstet, Hr.
Friedrich und
der Graf Jacob, zur Ausfech⸗
tung ihrer Sache,
in die Schranken traten.
Fast die ganze Ritterschaft von Schwaben 800
und der Schweiz war auf der Rampe des
im Hintergrund befindlichen Schlosses
gegen⸗
wärtig; und auf dem Balkon
desselben saß,
von seinem Hofgesinde umgeben,
der Kaiser
selbst, nebst seiner Gemahlin, und
den Prin⸗805
zen und Prinzessinnen, seinen Söhnen und
Töchtern. Kurz
vor Beginn des Kampfes,
während die Richter
Licht und Schatten zwi⸗
schen den Kämpfern theilten,
traten Frau He⸗
lena und ihre beiden Töchter
Bertha und Ku⸗810
nigunde, welche Littegarden nach
Basel beglei⸗
tet hatten, noch einmal an die Pforten
des
Platzes, und baten die Wächter, die
daselbst
standen, um die Erlaubniß, eintreten,
und
mit Frau Littegarden, welche, einem
uralten 815
Gebrauch gemäß, auf einem Gerüst
inner⸗
halb der Schranken saß, ein Wort sprechen
zu dürfen. Denn
obschon der Lebenswandel
dieser Dame die
vollkommenste Achtung und
199Faksimileein ganz uneingeschränktes Vertrauen in die 820
Wahrhaftigkeit ihrer Versicherungen zu erfor⸗
dern schien, so stürzte doch der Ring, den
der Graf Jacob aufzuweisen hatte, und noch
mehr der Umstand, daß Littegarde ihre
Kam⸗
merzofe, die Einzige, die ihr
hätte zum Zeug⸗825
niß dienen können, in der Nacht des
heiligen
Remigius beurlaubt hatte, ihre
Gemüther in
die lebhafteste Besorgniß; sie
beschlossen die
Sicherheit des Bewußtseins,
das der Ange⸗
klagten inwohnte, im Drang
dieses entschei⸗830
denden Augenblicks, noch
einmal zu prüfen,
und ihr die Vergeblichkeit,
ja Gottesläster⸗
lichkeit des
Unternehmens, falls wirklich eine
Schuld ihre
Seele drückte, aus einander zu
setzen, sich
durch den heiligen Ausspruch der 835
Waffen, der
die Wahrheit unfehlbar ans Licht
bringen
würde, davon reinigen zu wollen.
Und in der That hatte Littegarde alle
Ursa⸗
che, den Schritt, den Hr. Friedrich jetzt
für
sie that, wohl zu überlegen; der
Scheiterhau⸗840
fen wartete ihrer
sowohl, als ihres Freundes,
des Ritters von
Trota, falls Gott sich im
200Faksimileeisernen Urtheil nicht für ihn, sondern für
den Grafen Jacob den Rothbart, und für
die
Wahrheit der Aussage entschied, die der⸗845
selbe vor
Gericht gegen sie abgeleistet hatte.
Frau Littegarde, als sie Hr. Friedrichs
Mut⸗
ter und Schwestern zur Seite eintreten sah,
stand, mit dem ihr eigenen Ausdruck von
Würde, der durch den Schmerz, welcher über
850
ihr Wesen verbreitet war, noch rührender
ward, von ihrem Sessel auf, und fragte
sie,
indem sie ihnen entgegen ging: was sie in
einem so verhängnißvollen Augenblick zu
ihr
führe? „Mein
liebes Töchterchen,“ sprach 855
Frau Helena, indem
sie dieselbe auf die Seite
führte: „wollt ihr
einer Mutter, die keinen
Trost im öden Alter,
als den Besitz ihres
Sohnes hat, den Kummer
ersparen, ihn
an seinem Grabe beweinen zu
müssen; euch, 860
ehe noch der Zweikampf beginnt,
reichlich be⸗
schenkt und ausgestattet, auf
einen Wagen
setzen, und eins von unsern
Gütern, das jen⸗
seits des Rheins liegt, und euch
anständig
und freundlich empfangen wird, von
uns zum 865
201FaksimileGeschenk
annehmen?“ Littegarde, nachdem
sie ihr, mit einer Blässe, die ihr über das
Antlitz flog, einen Augenblick starr ins
Ge⸗
sicht gesehen hatte, bog, sobald sie die
Be⸗
deutung dieser Worte in ihrem ganzen Um⸗870
fang verstanden hatte, ein Knie vor
ihr.
Verehrungswürdigste und vortreffliche Frau!
sprach sie; kommt die Besorgniß, daß Gott
sich, in dieser entscheidenden Stunde, gegen
die Unschuld meiner Brust erklären werde,
875
aus dem Herzen eures edlen Sohnes? —
„Weshalb?“ fragte
Frau Helena. — Weil ich
ihn in diesem Falle beschwöre das Schwerdt,
das keine vertrauensvolle Hand führt,
lieber
nicht zu zücken, und die Schranken,
unter 880
welchem schicklichen Vorwand es sei,
seinem
Gegner zu räumen: mich aber, ohne dem
Gefühl des Mitleids, von dem ich nichts
annehmen kann, ein unzeitiges Gehör zu
geben, meinem Schicksal, das ich in Gottes 885
Hand stelle, zu überlassen! — „Nein!“ sagte
Frau Helena
verwirrt; „mein Sohn weiß
von nichts! Es würde ihm, der vor Gericht
202Faksimilesein Wort gegeben hat,
eure Sache zu ver⸗
fechten, wenig anstehen, euch
jetzt, da die 890
Stunde der Entscheidung schlägt,
einen sol⸗
chen Antrag zu machen. Im festen Glauben
an eure
Unschuld steht er, wie ihr seht, be⸗
reits zum Kampf
gerüstet, dem Grafen eu⸗
rem Gegner gegenüber; es war ein
Vor⸗895
schlag, den wir uns, meine
Tochter
Töchter
und ich,
in der Bedrängniß des
Augenblicks, zur Be⸗
rücksichtigung aller Vortheile und Vermei⸗
dung alles Unglücks ausgedacht haben.“ —
Nun, sagte Frau
Littegarde, indem sie die 900
Hand der alten Dame,
unter einem heißen
Kuß, mit ihren Thränen
befeuchtete: so laßt
ihn sein Wort lösen!
Keine Schuld befleckt
mein Gewissen; und ginge er ohne Helm
und Harnisch in den Kampf, Gott und alle 905
seine Engel beschirmen ihn! Und damit stand
sie vom Boden auf, und führte Frau Helena
und ihre Töchter auf einige, innerhalb des
Gerüstes befindliche Sitze, die hinter
dem,
mit
rothen
[emendiert in ›rothem‹] [In der
zeitgenössischen Literatur war auch die Akkusativform noch
möglich.]
[emendiert ohne Hinweis in ›rothem‹]
Tuch beschlagenen Sessel, auf dem 910
sie
sich selbst niederließ, aufgestellt waren.
Hierauf blies der Herold,
auf den Wink
des Kaisers, zum Kampf, und beide
Ritter,
Schild und Schwerdt in der Hand,
gingen
auf einander los.
Hr. Friedrich verwundete 915
gleich auf den ersten Hieb den Grafen; er
verletzte ihn mit der Spitze seines, nicht eben
langen Schwerdtes da, wo zwischen Arm
und Hand die Gelenke der Rüstung in ein⸗
ander griffen; aber der Graf, der, durch die
920
Empfindung geschreckt, zurücksprang, und
die Wunde untersuchte, fand, daß, obschon
das Blut heftig floß, doch nur die Haut
obenhin geritzt war: dergestalt, daß er
auf
das Murren der auf der Rampe befindlichen
925
Ritter, über die Unschicklichkeit dieser
Auf⸗
führung, wieder vordrang, und
den Kampf,
mit erneuerten Kräften, einem
völlig Gesun⸗
den gleich, wieder fortsetzte. Jetzt wogte
zwischen
beiden Kämpfern der Streit, wie 930
zwei
Sturmwinde einander begegnen, wie
zwei
Gewitterwolken, ihre Blitze einander
zusendend, sich treffen, und, ohne sich zu ver⸗
mischen, unter dem Gekrach häufiger
Don⸗
204Faksimilener, gethürmt um
einander herumschweben. 935
Hr. Friedrich stand, Schild und Schwerdt
vorstreckend, auf dem Boden, als ob er darin
Wurzel fassen wollte, da; bis an die
Sporen
grub er sich, bis an die Knöchel und
Waden,
in
den,
dem,
[emendiert ohne Hinweis]
von seinem Pflaster befreiten, ab⸗940
sichtlich
aufgelockerten, Erdreich ein, die tük⸗
kischen Stöße des Grafen, der,
klein und
behend, gleichsam von allen Seiten
zugleich
angriff, von seiner Brust und seinem
Haupt
abwehrend. Schon hatte der Kampf, die 945
Augenblicke der
Ruhe, zu welcher Entath⸗
mung beide Partheien zwang,
mitgerechnet,
fast eine Stunde gedauert: als
sich von neuem
ein Murren unter den auf dem
Gerüst befind⸗
lichen Zuschauern erhob.
Es schien, es galt 950
diesmal nicht den Grafen Jacob, der es an
Eifer, den Kampf zu Ende zu bringen, nicht
fehlen ließ, sondern Hrn. Friedrichs Ein⸗
pfählung
auf einem und demselben Fleck, und
seine
seltsame, dem Anschein nach fast ein⸗955
geschüchterte, wenigstens starrsinnige
Enthal⸗
tung alles eignen Angriffs.
Hr. Friedrich, ob⸗
205Faksimileschon sein Verfahren auf guten Gründen
be⸗
ruhen mogte, fühlte dennoch zu leise, als
daß er es nicht sogleich gegen die Forderung
960
derer, die in diesem Augenblick über seine
Ehre entschieden, hätte aufopfern sollen;
er
trat mit einem muthigen Schritt aus dem,
sich von Anfang herein gewählten
Stand⸗
punkt, und
die
der
[emendiert ohne Hinweis]
Art natürlicher Verschanzung, 965
die sich
um seinen Fußtritt gebildet hatte, her⸗
vor, über das
Haupt seines Gegners, dessen
Kräfte schon zu
sinken anfingen, mehrere derbe
und
ungeschwächte Streiche, die derselbe je⸗
doch unter
geschickten Seitenbewegungen mit 970
seinem Schild
aufzufangen wußte, danieder
schmetternd.
Aber schon in den ersten Mo⸗
menten dieses dergestalt veränderten Kampfs,
hatte Hr. Friedrich ein Unglück, das die
An⸗
wesenheit höherer, über den Kampf
waltender 975
Mächte nicht eben anzudeuten schien;
er stürz⸗
te, den Fußtritt in seinen Sporen
verwickelnd,
stolpernd abwärts, und während
er, unter der
Last des Helms und des
Harnisches, die
seine oberen Theile
beschwerten, mit in dem 980
206FaksimileStaub vorgestützter Hand, in die Kniee sank,
stieß ihm Graf Jacob der Rothbart, nicht
eben auf die edelmüthigste und ritterlichste
Weise, das Schwerdt in die dadurch bloßge⸗
gebene
Seite.
Hr. Friedrich sprang, mit ei⸗985
nem Laut des augenblicklichen Schmerzes, von
der Erde empor. Er
drückte sich zwar den
Helm in die Augen, und
machte, das Ant⸗
litz rasch seinem Gegner wieder
zuwendend,
Anstalten, den Kampf fortzusetzen:
aber wäh⸗990
rend er sich, mit vor Schmerz
krummgebeug⸗
tem Leibe auf seinen
Degen stützte, und Dun⸗
kelheit seine Augen umfloß:
stieß ihm der
Graf seinen Flammberg noch
zweimal, dicht
unter dem Herzen, in die Brust;
worauf er, 995
von seiner Rüstung umrasselt, zu
Boden
schmetterte, und Schwerdt und Schild
neben
sich niederfallen ließ. Der Graf setzte ihm,
nachdem er die Waffen über die Seite ge⸗
schleudert, unter einem dreifachen Tusch der 1000
Trompeten, den Fuß auf die Brust; und
inzwischen alle Zuschauer, der Kaiser selbst
an der Spitze, unter dumpfen Ausrufungen
207Faksimiledes Schreckens und
Mitleidens, von ihren
Sitzen aufstanden:
stürzte sich Frau Helena, 1005
im Gefolge ihrer
beiden Töchter, über ihren
theuern, sich in
Staub und Blut wälzenden
Sohn. „O mein Friedrich!“ rief sie, an
seinem Haupt jammernd niederknieend;
wäh⸗
rend Frau Littegarde ohnmächtig und
besin⸗1010
nungslos, durch zwei Häscher,
von dem Bo⸗
den des Gerüstes, auf welchen sie herab
ge⸗
sunken war, aufgehoben und in ein
Gefäng⸗
niß getragen ward. „Und o die Verruchte,“
setzte sie hinzu, „die Verworfene, die, das 1015
Bewußtsein der Schuld im Busen, hierher
zu
treten, und den Arm des treusten und
edelmüthigsten Freundes zu bewaffnen wagt,
um ihr ein Gottesurtheil, in einem ungerech⸗
ten Zweikampf zu erstreiten!“ Und damit 1020
hob sie den
geliebten Sohn, inzwischen die
Töchter ihn
von seinem Harnisch befreiten,
wehklagend vom
Boden auf, und suchte ihm
das Blut, das aus
seiner edlen Brust vor⸗
drang, zu stillen. Aber Häscher traten auf 1025
Befehl des Kaisers herbei, die auch ihn, als
208Faksimileeinen dem Gesetz Verfallenen, in
Verwahr⸗
sam nahmen; man legte ihn,
unter Beihülfe
einiger Aerzte, auf eine
Bahre, und trug ihn,
unter der Begleitung
einer großen Volks-⸗1030
Menge gleichfalls in ein
Gefängniß, wohin
Frau Helena jedoch und ihre
Töchter, die
Erlaubniß bekamen, ihm, bis an
seinen Tod,
an
den
niemand zweifelte, folgen zu dürfen.
Es zeigte sich aber gar
bald, daß Hr. Frie⸗1035
drichs Wunden, so
lebensgefährliche und zarte
Theile sie auch
berührten, durch eine beson⸗
dere Fügung des
Himmels nicht tödtlich wa⸗
ren; vielmehr konnten die Aerzte,
die man
ihm zugeordnet hatte, schon wenige
Tage da⸗1040
rauf die bestimmte Versicherung an die
Fa⸗
milie geben, daß er am Leben erhalten
wer⸗
den würde, ja, daß er, bei der Stärke
sei⸗
ner Natur, binnen wenigen Wochen, ohne
irgend eine Verstümmlung an seinem Körper 1045
zu erleiden, wieder hergestellt sein würde.
Sobald ihm seine
Besinnung, deren ihn der
Schmerz während
langer Zeit beraubte, wie⸗
derkehrte, war
seine an die Mutter gerichtete
Frage209FaksimileFrage unaufhörlich: was Frau Littegarde 1050
mache? Er konnte sich der Thränen
nicht
enthalten, wenn er sich dieselbe in der
Oede
des Gefängnisses, der entsetzlichsten
Verzweif⸗
lung zum Raube hingegeben
dachte, und for⸗
derte die Schwestern, indem er
ihnen liebko⸗1055
send das Kinn streichelte, auf, sie zu
besu⸗
chen und sie zu trösten. Frau Helena, über
diese
Außerung
Aeußerung
betroffen, bat ihn, diese
Schändliche
und Niederträchtige zu vergessen;
sie meinte,
daß das Verbrechen, dessen der 1060
Graf Jacob vor
Gericht
Erwähnung,
Erwähnung
gethan,
und das nun durch den Ausgang
des Zwei⸗
kampfs ans Tageslicht gekommen, verziehen
werden könne, nicht aber die
Schaamlosig⸗
keit und Frechheit, mit
dem Bewußtsein die⸗1065
ser Schuld, ohne Rücksicht auf
den edelsten
Freund, den sie dadurch ins
Verderben stürze,
das geheiligte Urtheil
Gottes, gleich einer Un⸗
schuldigen, für
sich aufzurufen. „Ach, meine
Mutter,“ sprach der Kämmerer, „wo ist der 1070
Sterbliche, und wäre die Weisheit aller
Zei⸗
ten sein, der es wagen darf, den
geheimniß⸗
Kleists Erzähl. 2te S. O
210Faksimilevollen Spruch, den Gott in diesem
Zwei⸗
kampf gethan hat,
auszulegen?
„Wie?“ rief
Frau
Helena: „blieb der Sinn dieses göttli⸗1075
chen
Spruchs dir dunkel? Hast du nicht, auf
eine
nur leider zu bestimmte und unzweideu⸗
tige
Weise, dem Schwerdt deines Gegners im
Kampf
unterlegen?“ — Sei es! versetzte Hr.
Friedrich: auf einen Augenblick unterlag
ich 1080
ihm. Aber ward
ich durch den Grafen über⸗
wunden? Leb’ ich nicht? Blühe ich nicht, wie
unter dem Hauch des
Himmels, wunderbar
wieder empor, vielleicht
in wenig Tagen schon
mit der Kraft doppelt
und dreifach ausgerü⸗1085
stet, den Kampf, in dem ich
durch einen nich⸗
tigen Zufall gestört ward, von
neuem wieder
aufzunehmen? — „Thörichter Mensch!“ rief
die Mutter. „Und weißt du nicht, daß ein
Gesetz besteht, nach welchem ein Kampf, der 1090
einmal nach dem Ausspruch der Kampfrich⸗
ter
abgeschlossen ist, nicht wieder zur Aus⸗
fechtung
derselben Sache vor den Schranken
des
göttlichen Gerichts aufgenommen werden
darf?“
— Gleichviel! versetzte der Kämmerer
1095
211Faksimileunwillig. Was kümmern mich diese willkürli⸗
chen Gesetze der Menschen? Kann ein Kampf,
der nicht
bis an den Tod eines der beiden
Kämpfer
fortgeführt worden ist, nach jeder
vernünftigeu
vernünftigen
[emendiert ohne Hinweis]
Schätzung der Verhältnisse für 1100
abgeschlossen gehalten werden? und dürfte ich
nicht, falls mir ihn wieder aufzunehmen
ge⸗
stattet wäre, hoffen, den Unfall,
der mich
betroffen, wieder herzustellen, und
mir mit
dem Schwerdt einen ganz andern Spruch
1105
Gottes zu erkämpfen, als den, der jetzt
be⸗
schränkter und kurzsichtiger
Weise dafür an⸗
genommen wird?
„Gleichwohl,“ entgeg⸗
nete die
Mutter bedenklich, „sind diese Ge⸗
setze, um welche du
dich nicht zu beküm⸗1110
mern vorgiebst, die waltenden
und herrschen⸗
den; sie üben, verständig oder nicht,
die
Kraft göttlicher Satzungen aus, und
über⸗
liefern dich und sie, wie ein
verabscheuungs⸗
würdiges Frevelpaar, der ganzen
Strenge 1115
der peinlichen Gerichtsbarkeit.“
—
Ach, rief
Hr. Friedrich;
das eben ist es, was mich
Jammervollen in
Verzweiflung stürzt! Der
O 2
212FaksimileStab ist, einer Ueberwiesenen gleich, über
sie
gebrochen; und ich, der ihre Tugend und
Un⸗1120
schuld vor der Welt erweisen wollte, bin
es, der dies Elend über sie gebracht: ein
heil⸗
loser Fehltritt in die Riemen
meiner Spo⸗
ren, durch den Gott mich vielleicht, ganz
unabhängig von ihrer Sache, der Sünden
1125
meiner eignen Brust wegen, strafen
wollte,
giebt ihre blühenden Glieder der
Flamme und
ihr Andenken ewiger Schande Preis!
— —
Bei diesen
Worten stieg ihm die Thräne hei⸗
ßen männlichen
Schmerzes ins Auge; er 1130
kehrte sich, indem er
sein Tuch ergriff, der
Wand zu, und Frau
Helena und ihre Töch⸗
ter knieten in stiller Rührung
an seinem
Bett nieder, und mischten, indem
sie seine
Hand küßten, ihre Thränen mit den
seini⸗1135
gen. Inzwischen
war der Thurmwächter, mit
Speisen für ihn und
die Seinigen, in sein
Zimmer getreten, und da
Hr. Friedrich ihn
fragte, wie sich Frau
Littegarde befinde: ver⸗
nahm er in abgerissenen und
nachlässigen Wor⸗1140
ten desselben, daß sie auf einem
Bündel Stroh
213Faksimileliege, und
noch seit dem Tage, da sie einge⸗
setzt worden, kein
Wort von sich gegeben
habe. Hr. Friedrich ward durch diese Nach⸗
richt in die äußerste Besorgniß gestürzt;
er 1145
trug ihm auf, der Dame, zu ihrer
Beruhi⸗
gung zu sagen, daß er, durch
eine sonderbare
Schickung des Himmels, in
seiner völligen
Besserung begriffen sei, und
bat sich von ihr
die Erlaubniß aus, sie nach
Wiederherstellung 1150
seiner Gesundheit, mit
Genehmigung des
Schloßvoigts, einmal in ihrem
Gefängniß be⸗
suchen zu dürfen. Doch die
Antwort die,
Antwort, die
der
Thurmwächter von ihr, nach
mehrmaligem
Rütteln derselben am Arm, da sie
wie eine 1155
Wahnsinnige, ohne zu hören und zu
sehen,
auf dem Stroh lag, empfangen zu haben,
vor⸗
gab, war: nein, sie wolle, so lange sie auf
Er⸗
den sei, keinen Menschen mehr sehen; — ja,
man erfuhr, daß sie noch an demselben
Tage 1160
dem Schloßvoigt, in einer eigenhändigen
Zu⸗
schrift, befohlen hatte,
niemanden, wer es
auch sei, den Kämmerer von
Trota aber am
allerwenigsten, zu ihr zu
lassen; dergestalt,
214Faksimiledaß
Hr. Friedrich, von der heftigsten Be⸗1165
kümmerniß
über ihren Zustand getrieben, an
einem Tage,
an welchem er seine Kraft be⸗
sonders lebhaft
wiederkehren fühlte, mit Er⸗
laubniß des
Schloßvoigts aufbrach, und sich,
ihrer
Verzeihung gewiß, ohne bei ihr ange⸗1170
meldet worden zu
sein, in Begleitung seiner
Mutter und beiden
Schwestern, nach ihrem
Zimmer verfügte.
Aber wer beschreibt das
Entsetzen der un⸗
glücklichen Littegarde, als sie
sich, bei dem 1175
an der Thür entstehenden
Geräusch, mit halb
offner Brust und
aufgelöstem Haar, von
dem Stroh, das ihr
untergeschüttet war,
erhob und statt des
Thurmwächters, den sie
erwartete, den
Kämmerer, ihren edlen und 1180
vortrefflichen
Freund, mit manchen Spuren
der ausgestandenen
Leiden, eine
wehmüthige
[liest ›wehmütige‹]
[liest ›wehmütige‹]
und rührende Erscheinung, an Berthas und
Kunigundens Arm bei sich eintreten sah.
„Hinweg!“ rief
sie, indem sie sich mit dem 1185
Ausdruck der
Verzweiflung rückwärts auf
die Decken ihres
Lagers zurückwarf, und die
215FaksimileHände vor ihr Antlitz drückte: „wenn dir
ein Funken von Mitleid im Busen glimmt,
hinweg!“ — Wie,
meine theuerste Littegarde? 1190
versetzte Herr
Friedrich. Er stellte sich ihr,
gestützt auf seine Mutter, zur Seite und
neigte sich in unaussprechlicher Rührung
über sie, um ihre Hand zu ergreifen. „Hin⸗
weg!“ rief sie, mehrere Schritt
weit auf 1195
Knien vor ihm auf dem Stroh
zurückbebend:
„wenn ich nicht wahnsinnig
werden soll, so
berühre mich nicht! Du bist mir ein Gräuel;
loderndes Feuer ist mir minder schrecklich,
als du!“ — Ich dir ein Gräuel?
versetzte 1200
Herr Friedrich betroffen. Womit,
meine
edelmüthige Littegarde, hat dein
Friedrich
diesen Empfang verdient? — Bei diesen Worten
setzte
ihm Kunigunde, auf den Wink
der Mutter, einen
Stuhl hin, und lud 1205
ihn, schwach wie er war,
ein, sich darauf zu
setzen. „O Jesus!“ rief jene, indem sie
sich, in der entsetzlichsten Angst, das
Antlitz
ganz auf den Boden gestreckt, vor ihm
nie⸗
derwarf: „räume das Zimmer, mein
Geliebter, 1210
216Faksimileund verlaß
mich! Ich umfasse in heißer In⸗
brunst deine Kniee, ich wasche deine Füße mit
meinen Thränen, ich flehe dich, wie ein
Wurm
vor dir im Staube gekrümmt, um die
einzige
Erbarmung an: räume, mein Herr und
Ge⸗1215
bieter, räume mir das Zimmer, räume es
augenblicklich und verlaß mich!“ —
Hr
[emendiert in ›Hr.‹]
[emendiert ohne Hinweis in ›Hr.‹]
Frie⸗
drich stand durch und durch erschüttert vor
ihr da. Ist
dir mein Anblick so unerfreulich
Littegarde?
fragte er, indem er ernst auf sie 1220
niederschaute. „Entsetzlich,
unerträglich, ver⸗
nichtend!“ antwortete
Littegarde, ihr Gesicht
mit verzweiflungsvoll
vorgestützten Händen,
ganz zwischen die
Sohlen seiner Füße ber⸗
gend. „Die Hölle, mit allen Schauern und 1225
Schrecknissen, ist süßer mir und anzuschauen
lieblicher, als der Frühling deines mir in
Huld und Liebe zugekehrten Angesichts!“ —
Gott im Himmel! rief der
Kämmerer; was
soll ich von dieser
Zerknirschung deiner Seele 1230
denken? Sprach das
Gottesurtheil, Unglück⸗
liche, die Wahrheit, und
bist du des Ver⸗
brechens, dessen dich der Graf
vor Gericht ge⸗
217Faksimileziehen hat, bist du
dessen schuldig? —
„Schul⸗
dig, überwiesen, verworfen, in
Zeitlichkeit 1235
und Ewigkeit verdammt und
verurtheilt!“
rief Littegarde, indem sie sich
den Busen, wie
eine Rasende zerschlug: „Gott
ist
wahrhaf⸗
haftig
wahrhaf
tig
[liest ›wahrhaftig‹]
[liest ›wahrhaftig‹]
und untrüglich;
geh, meine Sinne
reißen, und meine Kraft
bricht. Laß mich 1240
mit meinem Jammer und meiner Verzweif⸗
lung
allein!“ — Bei diesen Worten fiel Herr
Friedrich in Ohnmacht; und während
Litte⸗
garde sich mit einem Schleier
das Haupt ver⸗
hüllte, und sich, wie in
gänzlicher Verab⸗1245
schiedung von der Welt, auf
ihr Lager zu⸗
rücklegte, stürzten Bertha und
Kunigunde
jammernd über ihren entseelten
Bruder, um
ihn wieder ins Leben zurück zu
rufen.
„O
sei verflucht!“ rief
Frau Helena, da der 1250
Kämmerer wieder die Augen
aufschlug: „ver⸗
flucht zu ewiger Reue diesseits
des Grabes,
und jenseits desselben zu ewiger
Verdammniß:
nicht wegen der Schuld, die du
jetzt einge⸗
stehst, sondern wegen der
Unbarmherzigkeit 1255
und Unmenschlichkeit, sie
eher nicht, als bis
218Faksimiledu
meinen schuldlosen Sohn mit dir ins
Verderben
herabgerissen, einzugestehn! Ich
Thörinn!“ fuhr sie fort, indem sie sich
ver⸗
achtungsvoll von ihr abwandte,
„hätte ich doch 1260
einem Wort, das mir, noch
kurz vor Eröff⸗
nung des Gottesgerichts, der
Prior des hie⸗
sigen Augustinerklosters
anvertraut, bei dem
der Graf, in frommer
Vorbereitung zu der
entscheidenden Stunde,
die ihm bevorstand, 1265
zur
zur
[emendiert ohne Hinweis]
Beichte gewesen, Glauben geschenkt!
Ihm hat er, auf die heilige Hostie, die
Wahrhaftigkeit der Angabe, die er vor
Ge⸗
richt in Bezug auf die Elende, niedergelegt,
beschworen; die Gartenpforte hat er ihm
be⸗1270
zeichnet, an welcher sie ihn, der
Verabre⸗
dung gemäß, beim Einbruch
der Nacht er⸗
wartet und empfangen, das Zimmer
ihm,
ein Seitengemach des unbewohnten
Schloß⸗
thurms, beschrieben, worin
sie ihn, von 1275
den Wächtern unbemerkt,
eingeführt, das Lager,
von Polstern bequem
und prächtig unter ei⸗
nem Thronhimmel aufgestapelt,
worauf sie
sich, in schamloser Schwelgerei,
heimlich mit
219Faksimileihm
gebettet! Ein Eidschwur in einer
solchen 1280
Stunde gethan, enthält keine Lüge:
und
hätte ich, Verblendete,
meinen
meinem
[emendiert ohne Hinweis]
Sohn, auch
nur noch in dem Augenblick
des ausbrechen⸗
den Zweikampfs, eine
Anzeige davon gemacht:
so würde ich ihm die
Augen geöffnet haben, 1285
und er vor dem Abgrund
an welchem er
stand, zurückgebebt
sein.
— „Aber komm!“
rief Frau Helena, indem sie Hrn. Friedrich
sanft umschloß, und ihm einen Kuß auf die
Stirne drückte: „Entrüstung, die sie der
Worte 1290
würdigt, ehrt sie; unsern Rücken mag
sie er⸗
schaun, und vernichtet durch die Vorwürfe,
womit wir sie verschonen, verzweifeln!“ —
Der Elende!
versetzte Littegarde, indem sie
sich gereizt
durch diese Worte emporrichtete. 1295
Sie stützte ihr Haupt schmerzvoll auf ihre
Kniee, und indem sie heiße Thränen auf ihr
Tuch niederweinte, sprach sie: Ich
erinnere
mich, daß meine Brüder und ich, drei
Tage
vor jener Nacht des heiligen Remigius,
auf 1300
seinem Schlosse waren; er hatte, wie er
oft
zu thun pflegte, ein Fest mir zu Ehren
ver⸗
220Faksimileanstaltet, und
mein Vater, der den Reiz
meiner aufblühenden
Jugend gern gefeiert
sah, mich bewogen, die
Einladung, in Be⸗1305
gleitung meiner Brüder,
anzunehmen. Spät,
nach Beendigung des Tanzes, da ich mein
Schlafzimmer besteige, finde ich einen Zettel
auf meinem Tisch liegen, der, von
unbekann⸗
ter Hand geschrieben und
ohne Namensun⸗1310
terschrift, eine förmliche
Liebeserklärung ent⸗
hielt. Es traf sich, daß meine beiden Brü⸗
der grade wegen Verabredung unserer Ab⸗
reise, die auf den kommenden Tag festgesetzt
war, in dem Zimmer gegenwärtig waren; 1315
und da ich keine Art des Geheimnisses vor
ihnen zu haben gewohnt war, so zeigte ich
ihnen, von sprachlosem Erstaunen ergriffen,
den sonderbaren Fund, den ich so eben
ge⸗
macht hatte. Diese, welche sogleich des Gra⸗1320
fen Hand erkannten,
schäumten vor Wuth,
und der ältere war
willens, sich augenblicks
mit dem Papier in
sein Gemach zu verfügen;
doch der jüngere
stellte ihm vor, wie bedenk⸗
lich dieser
Schritt sei, da der Graf die Klug⸗1325
221Faksimileheit gehabt, den Zettel nicht zu
unterschrei⸗
ben; worauf beide in der
tiefsten Entwürdi⸗
gung über eine so
beleidigende Aufführung,
sich noch in
derselben Nacht mit mir in den
Wagen setzten,
und mit dem Entschluß, seine 1330
Burg nie wieder
mit ihrer Gegenwart zu
beehren, auf das
Schloß ihres Vaters zu⸗
rück kehrten. — Dies ist die einzige Gemein⸗
schaft, setzte sie hinzu, die ich jemals
mit
diesem Nichtswürdigen und
Niederträchtigen 1335
gehabt! — „Wie?“ sagte der Kämmerer,
indem er ihr sein thränenvolles Gesicht zu⸗
kehrte:
„diese Worte waren Musik meinem
Ohr! — Wiederhole sie mir!“ sprach er nach
einer Pause, indem er sich auf Knieen vor 1340
ihr niederließ, und seine Hände faltete:
„Hast
du mich, um jenes Elenden willen, nicht
ver⸗
rathen, und bist du rein von der
Schuld,
deren er dich vor Gericht
geziehen?“
Lieber!
flüsterte
Littegarde, indem sie seine Hand an 1345
ihre
Lippen drückte — „Bist dus?“ rief der
Kämmerer: „bist dus?“ —
Wie die Brust
eines
neugebohrnen Kindes, wie das Gewis⸗
222Faksimilesen eines aus der Beichte kommenden Men⸗
schen, wie die Leiche einer, in der
Sakristei, 1350
unter der Einkleidung,
verschiedenen Nonne!
— „O Gott, der Allmächtige!“ rief Hr.
Friedrich, ihre Kniee umfassend: „habe
Dank! Deine Worte
geben mir das Leben
wieder; der Tod schreckt
mich nicht mehr, 1355
und die Ewigkeit, so eben
noch wie ein
Meer unabsehbaren Elends vor mir
ausge⸗
breitet, geht wieder, wie ein
Reich voll tau⸗
send glänziger Sonnen, vor mir
auf!“ —
Du
Unglücklicher, sagte Littegarde, indem 1360
sie
sich zurück zog: wie kannst du dem, was
dir
mein Mund sagt, Glauben schenken? —
„Warum nicht?“ fragte Hr. Friedrich glü⸗
hend. — Wahnsinniger! Rasender! rief Lit⸗
tegarde; hat das
geheiligte Urtheil Gottes 1365
nicht gegen mich
entschieden? Hast du dem
Grafen nicht in jenem verhängnißvollen
Zwei⸗
kampf unterlegen, und er nicht
die Wahrhaftig⸗
keit dessen, was er vor
Gericht gegen mich an⸗
gebracht, ausgekämpft? — „O meine theu⸗1370
erste Littegarde,“
rief der Kämmerer: „be⸗
223Faksimilewahre deine
Sinne vor Verzweiflung! thürme
das Gefühl,
das in deiner Brust lebt, wie
einen Felsen
empor: halte dich daran und
wanke nicht, und
wenn Erd’ und Him⸗1375
mel unter dir und über dir zu
Grunde gin⸗
gen! Laß uns, von
zwei Gedanken, die die
Sinne verwirren, den
verständlicheren und
begreiflicheren denken,
und ehe du dich schul⸗
dig glaubst, lieber glauben,
daß ich in dem 1380
Zweikampf, den ich für dich
gefochten, siegte!
— Gott, Herr meines Lebens,“ setzte er
in
diesem Augenblick hinzu, indem er seine
Hände
vor sein Antlitz legte, „bewahre meine
Seele
selbst vor Verwirrung! Ich meine, 1385
so wahr ich seelig werden will, vom Schwerdt
meines Gegners nicht überwunden worden zu
sein, da ich schon unter den Staub seines
Fußtritts hingeworfen, wieder ins Dasein
erstanden bin. Wo liegt die Verpflichtung der 1390
höchsten
göttlichen Weisheit, die Wahrheit
im
Augenblick der glaubensvollen Anrufung
selbst, anzuzeigen und auszusprechen? O Lit⸗
tegarde,“ beschloß er, indem er ihre Hand
224Faksimilezwischen die
seinigen drückte: „im Leben laß 1395
uns auf den
Tod, und im Tode auf die Ewig⸗
keit hinaus sehen,
und des festen, unerschüt⸗
terlichen
Glaubens sein: deine Unschuld wird,
und wird
durch den Zweikampf, den ich für
dich
gefochten, zum heitern, hellen Licht der 1400
Sonne gebracht werden!“ — Bei diesen
Worten trat der Schloßvoigt ein; und da
er Frau Helena, welche weinend an einen
Tisch saß, erinnerte, daß so viele
Gemüthsbe⸗
wegungen ihrem Sohne
schädlich werden könn⸗1405
ten: so kehrte Herr Friedrich,
auf das Zu⸗
reden der Seinigen, nicht ohne das
Bewußt⸗
sein, einigen Trost gegeben
und empfangen zu
haben, wieder in sein
Gefängniß zurück.
Inzwischen war, vor dem zu
Basel von 1410
dem Kaiser eingesetzten Tribunal,
gegen Herrn
Friedrich von Trota sowohl, als
seine Freun⸗
din, Frau Littegarde von Auerstein, die
Klage
wegen sündhaft angerufenen göttlichen
Schieds⸗
urtheils eingeleitet, und
beide, dem bestehen⸗1415
den Gesetz gemäß,
verurtheilt worden, auf
dem Platz des
Zweikampfs selbst, den schmäh⸗
lichen
225Faksimilelichen Tod der Flammen zu erleiden.
Man
schickte eine
Deputation von Räthen ab, um
es den
Gefangenen anzukündigen, und das 1420
Urtheil
würde auch, gleich nach Wiederher⸗
stellung
des Kämmerers an ihnen vollstreckt
worden
sein, wenn es des Kaisers geheime
Absicht
nicht gewesen wäre, den Grafen Ja⸗
cob den Rothbart, gegen
den er eine Art 1425
von Mißtrauen nicht
unterdrücken konnte,
dabei gegenwärtig zu
sehen. Aber dieser lag,
auf eine in der That sonderbare und
merk⸗
würdige Weise, an der kleinen,
dem Anschein
nach unbedeutenden Wunde, die
er, zu An⸗1430
fang des Zweikampfs von Herrn Friedrich
erhalten hatte, noch immer krank; ein
äu⸗
ßerst verderbter Zustand seiner Säfte
verhin⸗
derte, von Tage zu Tage, und
von Woche
zu Woche, die Heilung derselben,
und die 1435
ganze Kunst der
Aertze,
Aerzte,
[emendiert ohne Hinweis]
die man nach und
nach aus Schwaben und
der Schweiz her⸗
beirief, vermogte nicht, sie zu
schließen.
Ja, ein
ätzender der ganzen damaligen Heil⸗
kunst unbekannter
Eiter, fraß auf eine krebs⸗1440
Kleists Erzähl. 2te S. P226Faksimileartige Weise, bis
auf den Knochen herab
im ganzen System seiner
Hand um sich, der⸗
gestalt, daß man zum Entsetzen
aller seiner
Freunde genöthigt gewesen war,
ihm die ganze
schadhafte Hand, und späterhin,
da auch hier⸗1445
durch dem Eiterfraß kein Ziel
gesetzt ward,
den Arm selbst abzunehmen.
Aber auch dies,
als eine Radicalcur gepriesene Heilmittel ver⸗
größerte nur, wie man heut zu Tage leicht
eingesehen haben würde, statt ihm
abzuhel⸗1450
fen, das Uebel; und die
Aerzte, da sich sein
ganzer Körper nach und
nach in Eiterung
und Fäulniß auflöste,
erklärten, daß keine
Rettung für ihn sei, und
er noch, vor Ab⸗
schluß der laufenden Woche,
sterben müsse. 1455
Vergebens forderte ihn der Prior des Augusti⸗
nerklosters, der in dieser unerwarteten
Wen⸗
dung der Dinge die furchtbare Hand Gottes
zu erblicken glaubte, auf, im Bezug auf
den
zwischen ihm und der Herzogin Regentin
be⸗1460
stehenden Streit, die Wahrheit
einzugestehen;
der Graf nahm, durch und durch
erschüttert,
noch einmal das heilige
Sakrament auf die
227Faksimile
Wahrhaftigkeit seiner Aussage, und gab, un⸗
ter allen
Zeichen der entsetzlichsten Angst, falls 1465
er
Frau Littegarden verläumderischer Weise
angeklagt hätte, seine Seele der ewigen Ver⸗
dammniß Preis. Nun hatte man, trotz der
Sittenlosigkeit
seines Lebenswandels, doppelte
Gründe, an die
innerliche Redlichkeit dieser 1470
Versicherung zu
glauben: einmal, weil der
Kranke in der That
von einer gewissen Fröm⸗
migkeit war, die
einen falschen Eidschwur,
in solchem
Augenblick gethan, nicht zu ge⸗
statten schien, und
dann, weil sich aus ei⸗1475
nem Verhör, das über den
Thurmwächter
des Schlosses derer von Breda
angestellt wor⸗
den war, welchen er, behufs
eines heimli⸗
chen Eintritts in die Burg, bestochen zu
ha⸗
ben vorgegeben hatte, bestimmt ergab, daß 1480
dieser Umstand gegründet, und der Graf
wirk⸗
lich in der Nacht des heiligen Remigius, im
Innern des Bredaschen Schlosses gewesen
war.
Demnach blieb dem Prior fast nichts
übrig, als an eine Täuschung des Grafen 1485
selbst, durch eine dritte ihm unbekannte
Per⸗
228Faksimileson zu glauben; und
noch hatte der Unglück⸗
liche, der, bei der
Nachricht von der wun⸗
derbaren Wiederherstellung des
Kämmerers,
selbst auf diesen schrecklichen
Gedanken gerieth, 1490
das Ende seines Lebens
nicht erreicht, als
sich dieser Glaube schon
zu seiner Verzweif⸗
lung vollkommen bestätigte.
Man muß näm⸗
lich wissen,
daß der Graf schon lange, ehe
seine Begierde
sich auf Frau Littegarden stellte, 1495
mit
Rosalien, ihrer Kammerzofe, auf einen
nichtswürdigen Fuß lebte; fast bei jedem Be⸗
such, den ihre Herrschaft auf seinem Schlosse
abstattete, pflegte er dies Mädchen,
welches
ein leichtfertiges und sittenloses
Geschöpf war, 1500
zur Nachtzeit auf sein Zimmer
zu ziehen. Da
nun
Littegarde, bei dem letzten Aufenthalt,
den
sie mit ihren Brüdern auf seiner Burg
nahm,
jenen zärtlichen Brief, worin er ihr
seine
Leidenschaft erklärte, von ihm empfing: 1505
so
erweckte dies die Empfindlichkeit und Ei⸗
fersucht
dieses seit mehreren Monden schon
von ihm
vernachlässigten Mädchens; sie ließ,
bei der
bald darauf erfolgten Abreise Litte⸗
229Faksimilegardens, welche sie begleiten mußte, im
Na⸗1510
men derselben einen Zettel an den Grafen
zurück, worin sie ihm meldete, daß die
Ent⸗
rüstung ihrer Brüder über den
Schritt, den
er gethan, ihr zwar keine
unmittelbare Zu⸗
sammenkunft gestattete: ihn aber
einlud, sie 1515
zu diesem Zweck, in der Nacht des
heiligen
Remigius, in den Gemächern ihrer
väterli⸗
chen Burg zu besuchen.
Jener, voll Freude
über das Glück seiner Unternehmung, fer⸗
tigte
sogleich einen zweiten Brief an Litte⸗1520
garden
ab, worin er ihr seine bestimmte An⸗
kunft in der besagten
Nacht meldete, und
sie nur bat, ihm, zur
Vermeidung aller Ir⸗
rung, einen treuen Führer, der
ihn nach
ihren Zimmern geleiten könne,
entgegen zu 1525
schicken; und da die Zofe, in
jeder Art der
Ränke geübt, auf eine solche
Anzeige rechnete,
so glückte es ihr, dies
Schreiben aufzufan⸗
gen, und ihm in einer
zweiten falschen Ant⸗
wort zu sagen, daß sie ihn
selbst an der Gar⸗1530
tenpforte erwarten würde. Darauf, am Abend
vor der
verabredeten Nacht, bat sie sich unter
230Faksimiledem Vorwand, daß ihre Schwester krank
sei, und daß sie dieselbe besuchen wolle, von
Littegarden einen Urlaub aufs Land aus;
sie 1535
verließ auch, da sie denselben erhielt,
wirklich,
spät am Nachmittag, mit einem
Bündel Wä⸗
sche den sie unter dem Arm trug, das Schloß,
und begab sich, vor aller Augen nach der
Gegend, wo jene Frau wohnte, auf den 1540
Weg.
Statt aber diese Reise zu vollenden,
fand sie sich bei Einbruch der Nacht, unter
dem Vorgeben, daß ein Gewitter
heranziehe,
wieder auf der Burg ein, und
mittelte sich,
um ihre Herrschaft, wie sie
sagte, nicht zu 1545
stören, indem es ihre Absicht
sei in der Frühe
des kommenden Morgens ihre
Wanderung an⸗
zutreten, ein Nachtlager in einem
der leer⸗
stehenden Zimmer des verödeten
und wenig
besuchten Schloßthurms aus. Der Graf, der 1550
sich bei
dem Thurmwächter durch Geld den
Eingang in
die Burg zu verschaffen wußte,
und in der
Stunde der Mitternacht, der
Verabredung
gemäß, von einer verschleierten
Person an der
Gartenpforte empfangen ward, 1555
231Faksimileahndete, wie man leicht begreift, nichts von
dem ihm gespielten Betrug; das Mädchen
drückte ihm flüchtig einen Kuß auf den Mund,
und führte ihn, über mehrere Treppen und
Gänge des verödeten Seitenflügels, in
eines 1560
der prächtigsten Gemächer des Schlosses
selbst,
dessen Fenster vorher sorgsam von ihr
ver⸗
schlossen worden waren. Hier, nachdem sie
seine
Hand haltend, auf geheimnißvolle Weise
an den
Thüren umhergehorcht, und ihm, mit 1565
flüsternder Stimme, unter dem Vorgeben,
daß
das Schlafzimmer des Bruders ganz in
der Nähe
sei, Schweigen geboten hatte, ließ
sie sich
mit ihm auf dem zur Seite stehenden
Ruhebette
nieder; der Graf, durch ihre Ge⸗1570
stalt und Bildung
getäuscht, schwamm im
Taumel des Vergnügens,
im
in
[emendiert ohne Hinweis]
seinem Alter
noch eine solche
Eroberung gemacht zu haben;
und als sie ihn
beim ersten Dämmerlicht
des Morgens entließ,
und ihm zum Andenken 1575
an die verflossene Nacht
einen Ring, den Litte⸗
garde von ihrem Gemahl
empfangen und den
sie ihr am Abend zuvor zu
diesem Zweck ent⸗
232Faksimilewendet
hatte, an den Finger steckte, versprach
er
ihr, sobald er zu Hause angelangt sein 1580
würde,
zum Gegengeschenk einen anderen, der
ihm am
Hochzeitstage von seiner verstorbe⸗
nen Gemahlin
verehrt worden war. Drei
Tage darauf hielt er auch Wort, und schickte
diesen Ring, den Rosalie wieder geschickt
ge⸗1585
nug war aufzufangen, heimlich auf die Burg;
ließ aber, wahrscheinlich aus Furcht, daß
dies
Abentheuer ihn zu weit führen könne,
wei⸗
ter nichts von sich hören, und wich, unter
mancherlei Vorwänden, einer zweiten
Zusam⸗1590
menkunft aus. Späterhin war das Mädchen
eines Diebstahls wegen, wovon der Verdacht
mit ziemlicher Gewißheit auf ihr ruhte, ver⸗
abschiedet und in das Haus ihrer Eltern,
welche am Rhein wohnten, zurückgeschickt 1595
worden, und da, nach Verlauf von neun
Monaten, die Folgen ihres ausschweifenden
Lebens sichtbar wurden, und die Mutter sie
mit großer Strenge verhörte, gab sie den
Grafen Jacob den Rothbart, unter
Entdek⸗1600
kung der
ganzen geheimen Geschichte, die sie
233Faksimilemit ihm gespielt hatte, als den Vater ihres
Kindes an. Glücklicherweise hatte sie den
Ring, der ihr
von dem Grafen übersendet
worden war, aus
Furcht, für eine Diebinn 1605
gehalten zu werden,
nur sehr schüchtern zum
Verkauf ausbieten
können, auch in der That,
seines großen
Werths wegen, niemand gefun⸗
den, der ihn zu
erstehen Lust gezeigt hätte:
dergestalt, daß
die Wahrhaftigkeit ihrer Aus⸗1610
sage nicht in Zweifel
gezogen werden konnte,
und die Eltern, auf
dies augenscheinliche
Zeugniß gestützt,
klagbar, wegen Unterhal⸗
tung des Kindes, bei den
Gerichten gegen
den Grafen Jacob einkamen.
Die Gerichte, 1615
welche von dem sonderbaren Rechtsstreit, der
in Basel anhängig gemacht worden war,
schon
gehört hatten, beeilten sich, diese Ent⸗
deckung,
die für den Ausgang desselben von
der größten
Wichtigkeit war, zur Kenntniß 1620
des Tribunals
zu bringen; und da eben ein
Rathsherr in
öffentlichen Geschäften nach
dieser Stadt
abging, so gaben sie ihm, zur
Auflösung des
fürchterlichen Räthsels, das
234Faksimileganz Schwaben und die Schweiz beschäftigte, 1625
einen Brief mit der gerichtlichen Aussage des
Mädchens, dem sie den Ring beifügten, für
den Grafen Jacob den Rothbart mit.
Es war eben an dem zur
Hinrichtung
Hrn. Friedrichs und Littegardens
bestimmten 1630
Tage, welche der Kaiser, unbekannt
mit den
Zweifeln, die sich in der Brust des
Grafen
selbst erhoben hatten, nicht mehr
aufschieben
zu dürfen glaubte, als der
Rathsherr zu dem
Kranken, der sich in
jammervoller Verzweif⸗1635
lung auf seinem Lager
wälzte, mit diesem
Schreiben ins Zimmer trat.
„Es ist ge⸗
nug!“ rief
dieser, da er den Brief überle⸗
sen, und den Ring
empfangen hatte: „ich
bin das Licht der Sonne
zu schauen, müde! 1640
Verschafft mir,“ wandte er sich zum Prior,
„eine Bahre, und führt mich Elenden, des⸗
sen Kraft zu
Staub versinkt, auf den Richt⸗
platz hinaus: ich
will nicht, ohne eine That
der Gerechtigkeit
verübt zu haben, sterben!“ 1645
Der Prior, durch diesen Vorfall tief
erschüt⸗
tert, ließ ihn sogleich, wie
er begehrte, durch
235Faksimilevier
Knechte auf ein Traggestell heben; und
zugleich mit einer unermeßlichen Menschen⸗
menge,
welche das Glockengeläut um den 1650
Scheiterhaufen, auf welchen Hr. Friedrich
und Littegarde bereits festgebunden waren,
versammelte, kam er, mit dem Unglücklichen,
der ein Kruzifix in der Hand hielt, daselbst
an, „Halt!“ rief der Prior, indem er die 1655
Bahre, dem Altan des Kaisers gegenüber,
niedersetzen ließ: „bevor ihr das Feuer an
jenen Scheiterhaufen legt, vernehmt ein Wort,
das euch der Mund dieses Sünders zu er⸗
öffnen hat!“ — Wie? rief der Kaiser, in⸗1660
dem er sich leichenblaß von
seinem Sitz er⸗
hob, hat das geheiligte Urtheil
Gottes nicht
für die Gerechtigkeit seiner
Sache entschie⸗
den, und ist es, nach dem
was vorgefallen,
auch nur zu denken erlaubt,
daß Littegarde 1665
an dem Frevel, dessen er sie
geziehen, un⸗
schuldig sei? — Bei diesen Worten stieg er
betroffen vom Altan herab; und mehr denn
tausend Ritter, denen alles Volk, über Bänke
und Schranken herab, folgte, drängten sich 1670
236Faksimileum das Lager des Kranken zusammen.
„Un⸗
schuldig,“
versetzte dieser, indem er sich ge⸗
stützt auf den
Prior, halb darauf emporrich⸗
tete: „wie es
der Spruch des höchsten Got⸗
tes, an jenem
verhängnißvollen Tage, vor 1675
den Augen aller
versammelten Bürger von
Basel entschieden
hat! Denn er, von drei
Wunden, jede tödtlich, getroffen, blüht, wie
ihr seht, in Kraft und Lebensfülle;
indessen
ein Hieb von seiner Hand, der kaum
die 1680
äußerste Hülle meines Lebens zu berühren
schien, in langsam fürchterlicher
Fortwir⸗
kung den Kern desselben
selbst getroffen, und
meine Kraft, wie der
Sturmwind eine Eiche,
gefällt hat. Aber hier, falls ein Ungläubi⸗1685
ger noch Zweifel nähren sollte, sind
die Be⸗
weise: Rosalie, ihre Kammerzofe, war es,
die mich in jener Nacht des heiligen
Remi⸗
gius empfing,
währerd
während
[emendiert ohne Hinweis]
ich Elender in der
Verblendung meiner
Sinne, sie selbst, die 1690
meine Anträge stets
mit Verachtung zurück⸗
gewiesen hat, in meinen Armen
zu halten
meinte!“ Der Kaiser stand erstarrt wie zu
237FaksimileStein, bei diesen Worten
da. Er schickte,
indem er sich nach dem Scheiterhaufen um⸗1695
kehrte,
einen Ritter ab, mit dem Befehl,
selbst die
Leiter zu besteigen, und den Käm⸗
merer sowohl als die
Dame, welche letztere
bereits in den Armen
ihrer Mutter in Ohn⸗
macht lag, loszubinden und zu
ihm heran⸗1700
zuführen. „Nun, jedes Haar auf eurem
Haupt bewacht ein Engel!“ rief er, da Litte⸗
garde, mit halb offner Brust und
entfessel⸗
ten Haaren, an der Hand
Hrn. Friedrichs,
ihres Freundes, dessen Kniee
selbst, unter 1705
dem Gefühl dieser wunderbaren
Rettung,
wankten, durch den Kreis des in
Ehrfurcht
und Erstaunen ausweichenden Volks,
zu ihm
herantrat. Er küßte beiden, die vor ihm
niederknieten,
die Stirn; und nachdem er 1710
sich den Hermelin,
den seine Gemahlinn trug,
erbeten, und ihn
Littegarden um die Schul⸗
tern gehängt hatte, nahm er,
vor den Augen
aller versammelten Ritter,
ihren Arm, in
der Absicht, sie selbst in die
Gemächer sei⸗1715
nes kaiserlichen Schlosses zu führen. Er
238Faksimilewandte sich, während der Kämmerer gleich⸗
falls
statt des Sünderkleids, das ihn deckte,
mit
Federhut und ritterlichem Mantel ge⸗
schmückt ward,
gegen den auf der Bahre jam⸗1720
mervoll sich
wälzenden Grafen zurück, und
von einem Gefühl
des Mitleidens bewegt,
da derselbe sich doch
in den Zweikampf, der
ihn zu Grunde
gerichtet, nicht eben auf fre⸗
velhafte und
gotteslästerliche Weise einge⸗1725
lassen hatte,
fragte er den ihm zur Seite
stehenden Arzt:
ob keine Rettung für den
Unglücklichen sei? —
„Vergebens!“ antwor⸗
tete Jacob der Rothbart, indem er sich,
un⸗
ter schrecklichen Zuckungen, auf den Schooß
1730
seines Arztes stützte: „und ich habe den
Tod,
den ich erleide, verdient. Denn wißt, weil
mich doch
der Arm der weltlichen Gerechtig⸗
keit nicht mehr
ereilen wird, ich bin der Mör⸗
der meines Bruders,
des edeln Herzogs Wil⸗1735
helm von Breysach: der
Bösewicht, der ihn
mit dem Pfeil aus meiner
Rüstkammer nie⸗
der warf, war sechs Wochen
vorher, zu die⸗
ser That, die mir die Krone
verschaffen sollte,
239Faksimilevon
mir gedungen!“ — Bei dieser Erklä⸗1740
rung sank er auf die Bahre zurück und
hauchte
seine schwarze Seele aus. „Ha, die Ahn⸗
dung meines Gemahls,
des Herzogs, selbst!“
rief die an der Seite
des Kaisers stehende
Regentin, die sich
gleichfalls vom Altan des 1745
Schlosses herab, im
Gefolge der Kaiserin,
auf den Schloßplatz
begeben hatte: „mir noch
im Augenblick des
Todes, mit gebrochenen
Worten, die ich
gleichwohl damals nur un⸗
vollkommen
verstand, kund gethan!“ — Der 1750
Kaiser versetzte in Entrüstung: so soll der
Arm der Gerechtigkeit noch deine Leiche
er⸗
eilen! nehmt ihn, rief er, indem er sich
um⸗
kehrte, den Häschern zu, und übergebt ihn
gleich, gerichtet wie er ist, den Henkern: er
1755
möge, zur Brandmarkung seines Andenkens,
auf jenem Scheiterhaufen verderben, auf
wel⸗
chem wir eben, um seinetwillen, im Begriff
waren, zwei Unschuldige zu opfern! Und
da⸗
mit, während die Leiche des Elenden in
röth⸗1760
lichen Flammen aufprasselnd,
vom Hauche
des Nordwindes in alle Lüfte
verstreut und
verweht ward, führte er Frau
Littegarden, im
240FaksimileGefolge
aller seiner Ritter, auf das Schloß.
Er setzte sie, durch einen kaiserlichen
Schluß, 1765
wieder in ihr väterliches Erbe ein,
von wel⸗
chem die Brüder in ihrer unedelmüthigen
Habsucht schon Besitz genommen hatten;
und schon nach drei Wochen ward, auf dem
Schlosse zu Breysach, die Hochzeit der
bei⸗1770
den trefflichen Brautleute gefeiert, bei
welcher
die Herzogin Regentin, über die ganze
Wen⸗
dung, die die Sache genommen hatte, sehr
erfreut, Littegarden einen großen Theil der
Besitzungen des Grafen, die dem Gesetz
ver⸗1775
fielen, zum Brautgeschenk
machte. Der Kai⸗
ser aber hing
Herrn Friedrich, nach der Trau⸗
ung, eine Gnadenkette
um den Hals; und
sobald er, nach Vollendung
seiner Geschäfte
mit der Schweiz, wieder in
Worms angekom⸗1780
men war, ließ er in die Statuten des
gehei⸗
ligten göttlichen Zweikampfs,
überall wo vor⸗
ausgesetzt wird, daß die Schuld
dadurch un⸗
mittelbar ans Tageslicht komme,
die Worte
einrücken: „wenn es Gottes Wille
ist.“1785