Das Erdbeben in Chili.
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Das Erdbeben in Chili.
In St. Jago, der Hauptſtadt des Koͤnigreichs Chili, ſtand gerade in dem Augenblicke der großen Erderſchuͤtterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tauſend Menſchen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, Namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefaͤngniſſes, in welches man ihn eingeſperrt hatte, und wollte ſich erhenken. Don Henrico Aſteron, einer der reichſten Edelleute der Stadt, hatte ihn ungefaͤhr ein Jahr zuvor aus ſeinem Hauſe, wo er als Lehrer angeſtellt war, entfernt, weil er ſich mit Donna Joſephe, ſeiner einzigen Tochter, in einem zaͤrtlichen Einverſtaͤndniß befunden hatte.Eine geheime Beſtellung, die dem alten Don, nachdem er die Tochter nachdruͤcklich gewarnt 308hatte, durch die haͤmiſche Aufmerkſamkeit ſeines ſtolzen Sohnes verrathen worden war, entruͤſtete ihn dergeſtalt, daß er ſie in dem Karmeliter-Kloſter unſrer lieben Frauen vom Berge daſelbſt unterbrachte. Durch einen gluͤcklichen Zufall hatte Jeronimo hier die Verbindung von neuem anzuknuͤpfen gewußt, und in einer verſchwiegenen Nacht den Kloſtergarten zum Schauplatze ſeines vollen Gluͤckes gemacht. Es war am Frohnleichnamsfeſte, und die feierliche Prozeſſion der Nonnen, welchen die Novizen folgten, nahm eben ihren Anfang, als die ungluͤckliche Joſephe, bei dem Anklange der Glocken, in Mutterwehen auf den Stufen der Kathedrale niederſank. Dieſer Vorfall machte außerordentliches Aufſehn; man brachte die junge Suͤnderin, ohne Ruͤckſicht auf ihren Zuſtand, ſogleich in ein Gefaͤngniß, und kaum war ſie aus den Wochen erſtanden, als ihr ſchon, auf Befehl des Erzbischofs, der geſchaͤrfteſte Prozeß gemacht ward. Man ſprach in der Stadt mit einer ſo großen Erbitterung von dieſem Skandal, 309und die Zungen fielen ſo ſcharf uͤber das ganze Kloſter her, in welchem er ſich zugetragen hatte, daß weder die Fuͤrbitte der Familie Aſteron, noch auch ſogar der Wunſch der Aebtiſſin ſelbſt, welche das junge Maͤdchen wegen ihres ſonſt untadelhaften Betragens lieb gewonnen hatte, die Strenge, mit welcher das kloͤſterliche Geſetz ſie bedrohte, mildern konnte. Alles, was geſchehen konnte, war, daß der Feuertod, zu dem ſie verurtheilt wurde, zur großen Entruͤſtung der Matronen und Jungfrauen von St. Jago, durch einen Machtſpruch des Vicekoͤnigs, in eine Enthauptung verwandelt ward. Man vermiethete in den Straßen, durch welche der Hinrichtungſzug gehen ſollte, die Fenſter, man trug die Daͤcher der Haͤuſer ab, und die frommen Toͤchter der Stadt luden ihre Freundinnen ein, um dem Schauſpiele, das der goͤttlichen Rache gegeben wurde, an ihrer ſchweſterlichen Seite beizuwohnen. Jeronimo, der inzwiſchen auch in ein Gefaͤngniß geſetzt worden war, wollte die Beſinnung verlieren, als er dieſe ungeheure 310Wendung der Dinge erfuhr. Vergebens ſann er auf Rettung: uͤberall, wohin ihn auch der Fittig der vermeſſenſten Gedanken trug, ſtieß er auf Riegel und Mauern, und ein Verſuch, die Gitterfenſter zu durchfeilen, zog ihm, da er entdeckt ward, eine nur noch engere Einſperrung zu. Er warf ſich vor dem Bildniſſe der heiligen Mutter Gottes nieder, und betete mit unendlicher Inbrunſt zu ihr, als der Einzigen, von der ihm jetzt noch Rettung kommen koͤnnte. Doch der gefuͤrchtete Tag erſchien, und mit ihm in ſeiner Bruſt die Ueberzeugung von der voͤlligen Hoffnungsloſigkeit ſeiner Lage. Die Glocken, welche Joſephen zum Richtplatze begleiteten, ertoͤnten, und Verzweiflung bemaͤchtigte ſich ſeiner Seele. Das Leben ſchien ihm verhaßt, und er beſchloß, ſich durch einen Strick, den ihm der Zufall gelaſſen hatte, den Tod zu geben. Eben ſtand er, wie ſchon geſagt, an einem Wandpfeiler, und befeſtigte den Strick, der ihn dieſer jammervollen Welt entreißen ſollte, an eine Eiſenklammer, die an dem Geſimſe der311ſelben eingefugt war; als ploͤtzlich der groͤßte Theil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament einſtuͤrzte, verſank, und alles, was Leben athmete, unter ſeinen Truͤmmern begrub. Jeronimo Rugera war ſtarr vor Entſetzen; und gleich als ob ſein ganzes Bewußtſeyn zerſchmettert worden waͤre, hielt er ſich jetzt an dem Pfeiler, an welchem er hatte ſterben wollen, um nicht umzufallen. Der Boden wankte unter ſeinen Fuͤßen, alle Waͤnde des Gefaͤngniſſes riſſen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzuſtuͤrzen, und nur der, ſeinem langſamen Fall begegnende, Fall des gegenuͤberſtehenden Gebaͤudes verhinderte, durch eine zufaͤllige Woͤlbung, die gaͤnzliche Zubodenſtreckung desſelben. Zitternd, mit ſtraͤubenden Haaren, und Knieen, die unter ihm brechen wollten, glitt Jeronimo uͤber den ſchiefgeſenkten Fußboden hinweg, der Oeffnung zu, die der Zuſammenſchlag beider Haͤuſer in die vordere Wand des Gefaͤngniſſes eingeriſſen hatte. Kaum befand er ſich im Freien, als die ganze, ſchon erſchuͤtterte Straße auf 312eine zweite Bewegung der Erde voͤllig zuſammenfiel. Beſinnungslos, wie er ſich aus dieſem allgemeinen Verderben retten wuͤrde, eilte er, uͤber Schutt und Gebaͤlk hinweg, indeſſen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte, nach einem der naͤchſten Thore der Stadt. Hier ſtuͤrzte noch ein Haus zuſammen, und jagte ihn, die Truͤmmer weit umherſchleudernd, in eine Nebenſtraße; hier leckte die Flamme ſchon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn ſchreckenvoll in eine andere; hier waͤlzte ſich, aus ſeinem Geſtade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn bruͤllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erſchlagener, hier aͤchzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier ſchrieen Leute von brennenden Daͤchern herab, hier kaͤmpften Menſchen und Thiere mit den Wellen, hier war ein muthiger Retter bemuͤht, zu helfen; hier ſtand ein Anderer, bleich wie der Tod, und ſtreckte ſprachlos zitternde Haͤnde zum Himmel. Als Jeronimo das Thor erreicht, und einen Huͤgel jenſeits 313desſelben beſtiegen hatte, ſank er ohnmaͤchtig auf demſelben nieder. Er mochte wohl eine Viertelſtunde in der tiefſten Bewußtloſigkeit gelegen haben, als er endlich wieder erwachte, und ſich, mit nach der Stadt gekehrtem Ruͤcken, halb auf dem Erdboden erhob. Er befuͤhlte ſich Stirn und Bruſt, unwiſſend, was er aus ſeinem Zuſtande machen ſollte, und ein unſaͤgliches Wonnegefuͤhl ergriff ihn, als ein Weſtwind, vom Meere her, ſein wiederkehrendes Leben anwehte, und ſein Auge ſich nach allen Richtungen uͤber die bluͤhende Gegend von St. Jago hinwandte. Nur die verſtoͤrten Menſchenhaufen, die ſich uͤberall blicken ließen, beklemmten ſein Herz; er begriff nicht, was ihn und ſie hiehergefuͤhrt haben konnte, und erſt, da er ſich umkehrte, und die Stadt hinter ſich verſunken ſah, erinnerte er ſich des ſchrecklichen Augenblicks, den er erlebt hatte. Er ſenkte ſich ſo tief, daß ſeine Stirn den Boden beruͤhrte, Gott fuͤr ſeine wunderbare Errettung zu danken; und gleich, als ob der eine entſetzliche Eindruck, der ſich 314ſeinem Gemuͤth eingepraͤgt hatte, alle fruͤheren daraus verdraͤngt haͤtte, weinte er vor Luſt, daß er ſich des lieblichen Lebens, voll bunter Erſcheinungen, noch erfreue. Drauf, als er eines Ringes an ſeiner Hand gewahrte, erinnerte er ſich ploͤtzlich auch Joſephens; und mit ihr ſeines Gefaͤngniſſes, der Glocken, die er dort gehoͤrt hatte, und des Augenblicks, der dem Einſturze desſelben vorangegangen war. Tiefe Schwermuth erfuͤllte wieder ſeine Bruſt; ſein Gebet fing ihn zu reuen an, und fuͤrchterlich ſchien ihm das Weſen, das uͤber den Wolken waltet. Er miſchte ſich unter das Volk, das uͤberall, mit Rettung des Eigenthums beſchaͤftigt, aus den Thoren ſtuͤrzte, und wagte ſchuͤchtern nach der Tochter Aſterons, und ob die Hinrichtung an ihr vollzogen worden ſey, zu fragen; doch niemand war, der ihm umſtaͤndliche Auskunft gab. Eine Frau, die auf einem faſt zur Erde gedruͤckten Nacken eine ungeheure Laſt von Geraͤthſchaften und zwei Kinder, an der Bruſt haͤngend, trug, ſagte im Vorbeigehen, als ob 315ſie es ſelbſt angeſehen haͤtte: daß ſie enthauptet worden ſey. Jeronimo kehrte ſich um; und da er, wenn er die Zeit berechnete, ſelbſt an ihrer Vollendung nicht zweifeln konnte, ſo ſetzte er ſich in einem einſamen Walde nieder, und uͤberließ ſich ſeinem vollen Schmerz. Er wuͤnſchte, daß die zerſtoͤrende Gewalt der Natur von neuem uͤber ihn einbrechen moͤchte. Er begriff nicht, warum er dem Tode, den ſeine jammervolle Seele ſuchte, in jenen Augenblicken, da er ihm freiwillig von allen Seiten rettend erſchien, entflohen ſey. Er nahm ſich feſt vor, nicht zu wanken, wenn auch jetzt die Eichen entwurzelt werden, und ihre Wipfel uͤber ihn zuſammenſtuͤrzen ſollten. Darauf nun, da er ſich ausgeweint hatte, und ihm, mitten unter den heißeſten Thraͤnen, die Hoffnung wieder erſchienen war, ſtand er auf, und durchſtreifte nach allen Richtungen das Feld. Jeden Berggipfel, auf dem ſich die Menſchen verſammelt hatten, beſuchte er; auf allen Wegen, wo ſich der Strom der Flucht noch bewegte, begegnete er ihnen; wo 316nur irgend ein weibliches Gewand im Winde flatterte, da trug ihn ſein zitternder Fuß hin: doch keines deckte die geliebte Tochter Aſterons. Die Sonne neigte ſich, und mit ihr ſeine Hoffnung ſchon wieder zum Untergange, als er den Rand eines Felſens betrat, und ſich ihm die Ausſicht in ein weites, nur von wenig Menſchen beſuchtes Thal eroͤffnete. Er durchlief, unſchluͤſſig, was er thun ſollte, die einzelnen Gruppen derſelben, und wollte ſich ſchon wieder wenden, als er ploͤtzlich an einer Quelle, die die Schlucht bewaͤſſerte, ein junges Weib erblickte, beſchaͤftigt, ein Kind in ſeinen Fluthen zu reinigen. Und das Herz huͤpfte ihm bei dieſem Anblick: Anblick; er ſprang voll Ahndung uͤber die Geſteine herab, und rief: O Mutter Gottes, du Heilige! und erkannte Joſephen, als ſie ſich bei dem Geraͤuſche ſchuͤchtern umſah. Mit welcher Seligkeit umarmten ſie ſich, die Ungluͤcklichen, die ein Wunder des Himmels gerettet hatte! Joſephe war, auf ihrem Gang zum Tode, dem Richtplatze ſchon ganz nahe geweſen, als durch den 317krachenden Einſturz der Gebaͤude ploͤtzlich der ganze Hinrichtungszug aus einander geſprengt ward. Ihre erſten entſetzensvollen Schritte trugen ſie hierauf dem naͤchſten Thore zu; doch die Beſinnung kehrte ihr bald wieder, und ſie wandte ſich, um nach dem Kloſter zu eilen, wo ihr kleiner, huͤlfloſer Knabe zuruͤckgeblieben war. Sie fand das ganze Kloſter ſchon in Flammen, und die Aebtiſſin, die ihr in jenen Augenblicken, die ihre letzten ſeyn ſollten, Sorge fuͤr den Saͤugling angelobt hatte, ſchrie eben, vor den Pforten ſtehend, nach Huͤlfe, um ihn zu retten. Joſephe ſtuͤrzte ſich, unerſchrocken durch den Dampf, der ihr entgegenqualmte, in das von allen Seiten ſchon zuſammenfallende Gebaͤude, und gleich, als ob alle Engel des Himmels ſie umſchirmten, trat ſie mit ihm unbeſchaͤdigt wieder aus dem Portal hervor. Sie wollte der Aebtiſſin, welche die Haͤnde uͤber ihr Haupt zuſammenſchlug, eben in die Arme ſinken, als dieſe, mit faſt allen ihren Kloſterfrauen, von einem herabfallenden Giebel des Hauſes, auf eine ſchmaͤh318liche Art erſchlagen ward. Joſephe bebte bei dieſem entſetzlichen Anblicke zuruͤck; ſie druͤckte der Aebtiſſin fluͤchtig die Augen zu, und floh, ganz von Schrecken erfuͤllt, den theuern Knaben, den ihr der Himmel wieder geſchenkt hatte, dem Verderben zu entreißen. Sie hatte noch wenig Schritte gethan, als ihr auch ſchon die Leiche des Erzbiſchofs begegnete, die man ſo eben zerſchmettert aus dem Schutt der Kathedrale hervorgezogen hatte. Der Pallaſt des Vicekoͤnigs war verſunken, der Gerichtshof, in welchem ihr das Urtheil geſprochen worden war, ſtand in Flammen, und an die Stelle, wo ſich ihr vaͤterliches Haus befunden hatte, war ein See getreten, und kochte roͤthliche Daͤmpfe aus. Joſephe raffte alle ihre Kraͤfte zuſammen, ſich zu halten. Sie ſchritt, den Jammer von ihrer Bruſt entfernend, muthig mit ihrer Beute von Straße zu Straße, und war ſchon dem Thore nah, als ſie auch das Gefaͤngniß, in welchem Jeronimo geſeufzt hatte, in Truͤmmern ſah. Bei dieſem Anblicke wankte ſie, und wollte 319beſinnungslos an einer Ecke niederſinken; doch in demſelben Augenblick jagte ſie der Sturz eines Gebaͤudes hinter ihr, das die Erſchuͤtterungen ſchon ganz aufgeloͤſ’t hatten, durch das Entſetzen geſtaͤrkt, wieder auf; ſie kuͤßte das Kind, druͤckte ſich die Thraͤnen aus den Augen, und erreichte, nicht mehr auf die Graͤuel, die ſie umringten, achtend, das Thor. Als ſie ſich im Freien ſahe, ſchloß ſie bald, daß nicht jeder, der ein zertruͤmmertes Gebaͤude bewohnt hatte, unter ihm nothwendig muͤſſe zerſchmettert worden ſeyn. An dem naͤchſten Scheidewege ſtand ſie ſtill, und harrte, ob nicht Einer, der ihr, nach dem kleinen Philipp, der liebſte auf der Welt war, noch erſcheinen wuͤrde. Sie ging, weil niemand kam, und das Gewuͤhl der Menſchen anwuchs, weiter, und kehrte ſich wieder um, und harrte wieder; und ſchlich, viel Thraͤnen vergießend, in ein dunkles, von Pinien beſchattetes Thal, um ſeiner Seele, die ſie entflohen glaubte, nachzubeten; und fand ihn hier, dieſen Geliebten, im Thale, und Seligkeit, als ob es 320das Thal von Eden geweſen waͤre. Dies Alles erzaͤhlte ſie jetzt voll Ruͤhrung dem Jeronimo, und reichte ihm, da ſie vollendet hatte, den Knaben zum Kuͤſſen dar. — Jeronimo nahm ihn, und haͤtſchelte ihn in unſaͤglicher Vaterfreude, und verſchloß ihm, da er das fremde Antlitz anweinte, mit Liebkoſungen ohne Ende den Mund. Indeſſen war die ſchoͤnſte Nacht herabgeſtiegen, voll wundermilden Duftes, ſo ſilberglaͤnzend und ſtill, wie nur ein Dichter davon traͤumen mag. Ueberall, laͤngs der Thalquelle, hatten ſich, im Schimmer des Mondſcheins, Menſchen niedergelaſſen, und bereiteten ſich ſanfte Lager von Moos und Laub, um von einem ſo qualvollen Tage auszuruhen. Und weil die Armen immer noch jammerten; dieſer, daß er ſein Haus, jener, daß er Weib und Kind, und der dritte, daß er Alles verloren habe: ſo ſchlichen Jeronimo und Joſephe in ein dichteres Gebuͤſch, um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu betruͤben. Sie fanden einen prachtvollen Granatapfelbaum, der ſeine Zweige, 321voll duftender Fruͤchte, weit ausbreitete; und die Nachtigall floͤtete im Wipfel ihr wolluͤſtiges Lied. Hier ließ ſich Jeronimo am Stamme nieder, und Joſephe in ſeinem, Philipp in Joſephens Schooß, ſaßen ſie, von ſeinem Mantel bedeckt, und ruhten. Der Baumſchatten zog, mit ſeinen verſtreuten Lichtern, uͤber ſie hinweg, und der Mond erblaßte ſchon wieder vor der Morgenroͤthe, ehe ſie einſchliefen. Denn Unendliches hatten ſie zu ſchwatzen vom Kloſtergarten und den Gefaͤngniſſen, und was ſie um einander gelitten haͤtten; und waren ſehr geruͤhrt, wenn ſie dachten, wie viel Elend uͤber die Welt kommen mußte, damit ſie gluͤcklich wuͤrden! Sie beſchloſſen, ſobald die Erderſchuͤtterungen aufgehoͤrt haben wuͤrden, nach La Conception zu gehen, wo Joſephe eine vertraute Freundin hatte, ſich mit einem kleinen Vorſchuß, den ſie von ihr zu erhalten hoffte, von dort nach Spanien einzuſchiffen, wo Jeronimos muͤtterliche Verwandten wohnten, und daſelbſt 322ihr gluͤckliches Leben zu beſchließen.Hierauf, unter vielen Kuͤſſen, ſchliefen ſie ein.
Als ſie erwachten, ſtand die Sonne ſchon hoch am Himmel, und ſie bemerkten in ihrer Naͤhe mehrere Familien, beſchaͤftigt, ſich am Feuer ein kleines Morgenbrod zu bereiten. Jeronimo dachte eben auch, wie er Nahrung fuͤr die Seinigen herbeiſchaffen ſollte, als ein junger wohlgekleideter Mann, mit einem Kinde auf dem Arm, zu Joſephen trat, und ſie mit Beſcheidenheit fragte: ob ſie dieſem armen Wurme, deſſen Mutter dort unter den Baͤumen beſchaͤdigt liege, nicht auf kurze Zeit ihre Bruſt reichen wolle? Joſephe war ein wenig verwirrt, als ſie in ihm einen Bekannten erblickte; doch da er, indem er ihre Verwirrung falſch deutete, fortfuhr: es iſt nur auf wenige Augenblicke, Donna Joſephe, und dieſes Kind hat, ſeit jener Stunde, die uns alle ungluͤcklich gemacht hat, nichts genoſſen; ſo ſagte ſie: „ich ſchwieg — aus einem andern Grunde, Don Fernando; in dieſen ſchrecklichen Zeiten weigert ſich niemand, von dem, 323was er beſitzen mag, mitzutheilen:“ und nahm den kleinen Fremdling, indem ſie ihr eigenes Kind dem Vater gab, und legte ihn an ihre Bruſt. Don Fernando war ſehr dankbar fuͤr dieſe Guͤte, und fragte: ob ſie ſich nicht mit ihm zu jener Geſellſchaft verfuͤgen wollten, wo eben jetzt beim Feuer ein kleines Fruͤhſtuͤck bereitet werde? Joſephe antwortete, daß ſie dies Anerbieten mit Vergnuͤgen annehmen wuͤrde, und folgte ihm, da auch Jeronimo nichts einzuwenden hatte, zu ſeiner Familie, wo ſie auf das innigſte und zaͤrtlichſte von Don Fernandos beiden Schwaͤgerinnen, die ſie als ſehr wuͤrdige junge Damen kannte, empfangen ward. Donna Elvire, Don Fernandos Gemahlin, welche ſchwer an den Fuͤßen verwundet auf der Erde lag, zog Joſephen, da ſie ihren abgehaͤrmten Knaben an der Bruſt derſelben ſah, mit vieler Freundlichkeit zu ſich nieder. Auch Don Pedro, ſein Schwiegervater, der an der Schulter verwundet war, nickte ihr liebreich mit dem Haupte zu. — In Jeronimos und Joſephens Bruſt 324regten ſich Gedanken von ſeltſamer Art. Wenn ſie ſich mit ſo vieler Vertraulichkeit und Guͤte behandelt ſahen, ſo wußten ſie nicht, was ſie von der Vergangenheit denken ſollten, vom Richtplatze, von dem Gefaͤngniſſe, und der Glocke; und ob ſie bloß davon getraͤumt haͤtten? Es war, als ob die Gemuͤther, ſeit dem fuͤrchterlichen Schlage, der ſie durchdroͤhnt hatte, alle verſoͤhnt waͤren. Sie konnten in der Erinnerung gar nicht weiter, als bis auf ihn, zuruͤckgehen. Nur Donna Eliſabeth, welche bei einer Freundinn, auf das Schauſpiel des geſtrigen Morgens, eingeladen worden war, die Einladung aber nicht angenommen hatte, ruhte zuweilen mit traͤumeriſchem Blicke auf Joſephen; doch der Bericht, der uͤber irgend ein neues graͤßliches Ungluͤck erſtattet ward, riß ihre, der Gegenwart kaum entflohene Seele ſchon wieder in dieſelbe zuruͤck. Man erzaͤhlte, wie die Stadt gleich nach der erſten Haupterſchuͤtterung von Weibern ganz voll geweſen, die vor den Augen aller Maͤnner niedergekommen ſeyen; wie die Moͤnche dar325in, mit dem Kruzifix in der Hand, umhergelaufen waͤren, und geſchrieen haͤtten: das Ende der Welt ſey da! wie man einer Wache, die auf Befehl des Vicekoͤnigs verlangte, eine Kirche zu raͤumen, geantwortet haͤtte: es gaͤbe keinen Vicekoͤnig von Chili mehr! wie der Vicekoͤnig in den ſchrecklichſten Augenblicken haͤtte muͤſſen Galgen aufrichten laſſen, um der Dieberei Einhalt zu thun; und wie ein Unſchuldiger, der ſich von hinten durch ein brennendes Haus gerettet, von dem Beſitzer aus Uebereilung ergriffen, und ſogleich auch aufgeknuͤpft worden waͤre. Donna Elvire, bei deren Verletzungen Joſephe viel beſchaͤftigt war, hatte in einem Augenblick, da gerade die Erzaͤhlungen ſich am lebhafteſten kreuzten, Gelegenheit genommen, ſie zu fragen: wie es denn ihr an dieſem fuͤrchterlichen Tag ergangen ſey? Und da Joſephe ihr, mit beklemmtem Herzen, einige Hauptzuͤge davon angab, ſo ward ihr die Wolluſt, Thraͤnen in die Augen dieſer Dame treten zu ſehen; Donna Elvire ergriff ihre Hand, und 326druͤckte ſie, und winkte ihr, zu ſchweigen. Joſephe duͤnkte ſich unter den Seligen. Ein Gefuͤhl, das ſie nicht unterdruͤcken konnte, nannte den verfloßnen Tag, ſo viel Elend er auch uͤber die Welt gebracht hatte, eine Wohlthat, wie der Himmel noch keine uͤber ſie verhaͤngt hatte. Und in der That ſchien, mitten in dieſen graͤßlichen Augenblicken, in welchen alle irdiſchen Guͤter der Menſchen zu Grunde gingen, und die ganze Natur verſchuͤttet zu werden drohte, der menſchliche Geiſt ſelbſt, wie eine ſchoͤne Blume, aufzugehn. Auf den Feldern, ſo weit das Auge reichte, ſah man Menſchen von allen Staͤnden durcheinander liegen, Fuͤrſten und Bettler, Matronen und Baͤuerinnen, Staatsbeamte und Tageloͤhner, Kloſterherren und Kloſterfrauen: einander bemitleiden, ſich wechſelſeitig Huͤlfe reichen, von dem, was ſie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mittheilen, als ob das allgemeine Ungluͤck Alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht haͤtte. Statt der 327nichtsſagenden Unterhaltungen, zu welchen ſonſt die Welt an den Theetiſchen den Stoff hergegeben hatte, erzaͤhlte man jetzt Beiſpiele von ungeheuern Thaten: Menſchen, die man ſonſt in der Geſellſchaft wenig geachtet hatte, hatten Roͤmergroͤße gezeigt; Beiſpiele zu Haufen von Unerſchrockenheit, von freudiger Verachtung der Gefahr, von Selbſtverlaͤugnung und der goͤttlichen Aufopferung, von ungeſaͤumter Wegwerfung des Lebens, als ob es, dem nichtswuͤrdigſten Gute gleich, auf dem naͤchſten Schritte ſchon wiedergefunden wuͤrde. Ja, da nicht Einer war, fuͤr den nicht an dieſem Tage etwas Ruͤhrendes geſchehen waͤre, oder der nicht ſelbſt etwas Großmuͤthiges gethan haͤtte, ſo war der Schmerz in jeder Menſchenbruſt mit ſo viel ſuͤßer Luſt vermiſcht, daß ſich, wie ſie meinte, gar nicht angeben ließ, ob die Summe des allgemeinen Wohlſeyns nicht von der einen Seite um eben ſo viel gewachſen war, als ſie von der anderen abgenommen hatte. Jeronimo nahm Joſephen, nachdem ſich beide in dieſen Be328trachtungen ſtillſchweigend erſchoͤpft hatten, beim Arm, und fuͤhrte ſie mit unausſprechlicher Heiterkeit unter den ſchattigen Lauben des Granatwaldes auf und nieder. Er ſagte ihr, daß er, bei dieſer Stimmung der Gemuͤther und dem Umſturz aller Verhaͤltniſſe, ſeinen Entſchluß, ſich nach Europa einzuſchiffen, aufgebe; daß er vor dem Vicekoͤnig, der ſich ſeiner Sache immer guͤnſtig gezeigt, falls er noch am Leben ſey, einen Fußfall wagen wuͤrde; und daß er Hoffnung habe, (wobei er ihr einen Kuß aufdruͤckte), mit ihr in Chili zuruͤckzubleiben. Joſephe antwortete, daß aͤhnliche Gedanken in ihr aufgeſtiegen waͤren; daß auch ſie nicht mehr, falls ihr Vater nur noch am Leben ſey, ihn zu verſoͤhnen zweifle; daß ſie aber ſtatt des Fußfalles lieber nach La Conception zu gehen, und von dort aus ſchriftlich das Verſoͤhnungsgeſchaͤft mit dem Vicekoͤnig zu betreiben rathe, wo man auf jeden Fall in der Naͤhe des Hafens waͤre, und fuͤr den beſten, wenn das Geſchaͤft die erwuͤnſchte Wendung naͤhme, ja 329leicht wieder nach St. Jago zuruͤckkehren koͤnnte. Nach einer kurzen Ueberlegung gab Jeronimo der Klugheit dieſer Maßregel ſeinen Beifall, fuͤhrte ſie noch ein wenig, die heitern Momente der Zukunft uͤberfliegend, in den Gaͤngen umher, und kehrte mit ihr zur Geſellſchaft zuruͤck.
Inzwiſchen war der Nachmittag herangekommen, und die Gemuͤther der herumſchwaͤrmenden Fluͤchtlinge hatten ſich, da die Erdſtoͤße nachließen, nur kaum wieder ein wenig beruhigt, als ſich ſchon die Nachricht verbreitete, daß in der Dominikanerkirche, der einzigen, welche das Erdbeben verſchont hatte, eine feierliche Meſſe von dem Praͤlaten des Kloſters ſelbſt geleſen werden wuͤrde, den Himmel um Verhuͤtung ferneren Ungluͤcks anzuflehen. Das Volk brach ſchon aus allen Gegenden auf, und eilte in Stroͤmen zur Stadt. In Don Fernandos Geſellſchaft ward die Frage aufgeworfen, ob man nicht auch an dieſer Feierlichkeit Theil nehmen, und ſich dem allgemeinen Zuge anſchließen ſolle? Donna 330Eliſabeth erinnerte, mit einiger Beklemmung, was fuͤr ein Unheil geſtern in der Kirche vorgefallen ſey; daß ſolche Dankfeſte ja wiederholt werden wuͤrden, und daß man ſich der Empfindung alsdann, weil die Gefahr ſchon mehr voruͤber waͤre, mit deſto groͤßerer Heiterkeit und Ruhe uͤberlaſſen koͤnnte. Joſephe aͤußerte, indem ſie mit einiger Begeiſterung ſogleich aufſtand, daß ſie den Drang, ihr Antlitz vor dem Schoͤpfer in den Staub zu legen, niemals lebhafter empfunden habe, als eben jetzt, wo er ſeine unbegreifliche und erhabene Macht ſo entwickle. Donna Elvire erklaͤrte ſich mit Lebhaftigkeit fuͤr Joſephens Meinung. Sie beſtand darauf, daß man die Meſſe hoͤren ſollte, und rief Don Fernando auf, die Geſellſchaft zu fuͤhren, worauf ſich Alles, Donna Eliſabeth auch, von den Sitzen erhob. Da man jedoch letztere, mit heftig arbeitender Bruſt, die kleinen Anſtalten zum Aufbruche zaudernd betreiben ſah, und ſie, auf die Frage: was ihr fehle? antwortete: ſie wiſſe nicht, welch eine ungluͤckliche Ahn331dung in ihr ſey? ſo beruhigte ſie Donna Elvire, und foderte ſie auf, bei ihr und ihrem kranken Vater zuruͤckzubleiben. Joſephe ſagte: ſo werden ſie mir wohl, Donna Eliſabeth, dieſen kleinen Liebling abnehmen, der ſich ſchon wieder, wie Sie ſehen, bei mir eingefunden hat. Sehr gern, antwortete Donna Eliſabeth, und machte Anſtalten ihn zu ergreifen; doch da dieſer uͤber das Unrecht, das ihm geſchah, klaͤglich ſchrie, und auf keine Art darein willigte, ſo ſagte Joſephe laͤchelnd, daß ſie ihn nur behalten wolle, und kuͤßte ihn wieder ſtill. Hierauf bot Don Fernando, dem die ganze Wuͤrdigkeit und Anmuth ihres Betragens ſehr gefiel, ihr den Arm; Jeronimo, welcher den kleinen Philipp trug, fuͤhrte Donna Conſtanzen; die uͤbrigen Mitglieder, die ſich bei der Geſellſchaft eingefunden hatten, folgten; und in dieſer Ordnung ging der Zug nach der Stadt. Sie waren kaum funfzig Schritte gegangen, als man Donna Eliſabeth welche inzwiſchen heftig und heimlich mit Donna Elvire geſprochen hatte: Don Fer332nando! rufen hoͤrte, und dem Zuge mit unruhigen Tritten nacheilen ſah. Don Fernando hielt, und kehrte ſich um; harrte ihrer, ohne Joſephen loszulaſſen, und fragte, da ſie, gleich als ob ſie auf ſein Entgegenkommen wartete, in einiger Ferne ſtehen blieb: was ſie wolle? Donna Eliſabeth naͤherte ſich ihm hierauf, obſchon, wie es ſchien, mit Widerwillen, und raunte ihm, doch ſo, daß Joſephe es nicht hoͤren konnte, einige Worte ins Ohr. Nun? fragte Don Fernando: und das Ungluͤck, das daraus entſtehen kann? Donna Eliſabeth fuhr fort, ihm mit verſtoͤrtem Geſicht ins Ohr zu ziſcheln. Don Fernando ſtieg eine Roͤthe des Unwillens ins Geſicht; er antwortete: es waͤre gut! Donna Elvire moͤchte ſich beruhigen; und fuͤhrte ſeine Dame weiter. — Als ſie in der Kirche der Dominikaner ankamen, ließ ſich die Orgel ſchon mit muſikaliſcher Pracht hoͤren, und eine unermeßliche Menſchenmenge wogte darin. Das Gedraͤnge erſtreckte ſich bis weit vor den Portalen auf den Vorplatz der Kirche hinaus, und an den Waͤnden hoch, 333in den Rahmen der Gemaͤhlde, hingen Knaben, und hielten mit erwartungsvollen Blicken ihre Muͤtzen in der Hand. Von allen Kronleuchtern ſtrahlte es herab, die Pfeiler warfen, bei der einbrechenden Daͤmmerung, geheimnißvolle Schatten, die große von gefaͤrbtem Glas gearbeitete Roſe in der Kirche aͤußerſtem Hintergrunde gluͤhte, wie die Abendſonne ſelbſt, die ſie erleuchtete, und Stille herrſchte, da die Orgel jetzt ſchwieg, in der ganzen Verſammlung, als haͤtte keiner einen Laut in der Bruſt. Niemals ſchlug aus einem chriſtlichen Dom eine ſolche Flamme der Inbrunſt gen Himmel, wie heute aus dem Dominikanerdom zu St. Jago; und keine menſchliche Bruſt gab waͤrmere Glut dazu her, als Jeronimos und Joſephens! Die Feierlichkeit fing mit einer Predigt an, die der aͤlteſten Chorherren Einer, mit dem Feſtſchmuck angethan, von der Kanzel hielt. Er begann gleich mit Lob, Preis und Dank, ſeine zitternden, vom Chorhemde weit umfloſſenen Haͤnde hoch gen Himmel erhebend, daß noch 334Menſchen ſeyen, auf dieſem, in Truͤmmer zerfallenden Theile der Welt, faͤhig, zu Gott empor zu ſtammeln.Er ſchilderte, was auf den Wink des Allmaͤchtigen geſchehen war; das Weltgericht kann nicht entſetzlicher ſeyn; und als er das geſtrige Erdbeben gleichwohl, auf einen Riß, den der Dom erhalten hatte, hinzeigend, einen bloßen Vorboten davon nannte, lief ein Schauder uͤber die ganze Verſammlung. Hierauf kam er, im Fluße prieſterlicher Beredtſamkeit, auf das Sittenverderbniß der Stadt; Graͤuel, wie Sodom und Gomorrha ſie nicht ſahen, ſtraft’ er an ihr; und nur der unendlichen Langmuth Gottes ſchrieb er es zu, daß ſie noch nicht gaͤnzlich vom Erdboden vertilgt worden ſey. Aber wie dem Dolche gleich fuhr es durch die von dieſer Predigt ſchon ganz zerriſſenen Herzen unſerer beiden Ungluͤcklichen, als der Chorherr bei dieſer Gelegenheit umſtaͤndlich des Frevels erwaͤhnte, der in dem Kloſtergarten der Karmeliterinnen veruͤbt worden war; die Schonung, die er bei der Welt gefunden hat335te, gottlos nannte, und in einer von Ver wuͤnſchungen erfuͤllten Seitenwendung, die Seelen der Thaͤter, woͤrtlich genannt, allen Fuͤrſten der Hoͤlle uͤbergab! Donna Conſtanze rief, indem ſie an Jeronimos Armen zuckte: Don Fernando! Doch dieſer antwortete ſo nachdruͤcklich und doch ſo heimlich, wie ſich beides verbinden ließ: „Sie ſchweigen, Donna, Sie ruͤhren auch den Augapfel nicht, und thun, als ob Sie in eine Ohnmacht verſaͤnken; worauf wir die Kirche verlaſſen.“Doch, ehe Donna Conſtanze dieſe ſinnreiche zur Rettung erfundene Maßregel noch ausgefuͤhrt hatte, rief ſchon eine Stimme, des Chorherrn Predigt laut unterbrechend, aus: Weichet fern hinweg, ihr Buͤrger von St. Jago, hier ſtehen dieſe gottloſen Menſchen! Und als eine andere Stimme ſchreckenvoll, indeſſen ſich ein weiter Kreis des Entſetzens um ſie bildete, fragte: wo? hier! verſetzte ein Dritter, und zog, heiliger Ruchloſigkeit voll, Joſephen bei den Haaren nieder, daß ſie mit Don Fernandos Sohne zu Boden 336getaumelt waͤre, wenn dieſer ſie nicht gehalten haͤtte. Seyd ihr wahnſinnig? rief der Juͤngling, und ſchlug den Arm um Joſephen: „ich bin Don Fernando Ormez, Sohn des Commendanten der Stadt, den ihr alle kennt.“ Don Fernando Ormez? rief, dicht vor ihn hingeſtellt, ein Schuhflicker, der fuͤr Joſephen gearbeitet hatte, und dieſe wenigſtens ſo genau kannte, als ihre kleinen Fuͤße. Wer iſt der Vater zu dieſem Kinde? wandte er ſich mit frechem Trotz zur Tochter Aſterons. Don Fernando erblaßte bey dieſer Frage. Er ſah bald den Jeronimo ſchuͤchtern an, bald uͤberflog er die Verſammlung, ob nicht Einer ſey, der ihn kenne? Joſephe rief, von entſetzlichen Verhaͤltniſſen gedraͤngt: dies iſt nicht mein Kind, Meiſter Pedrillo, wie er glaubt; indem ſie, in unendlicher Angſt der Seele, auf Don Fernando blickte: dieſer junge Herr iſt Don Fernando Ormez, Sohn des Commendanten der Stadt, den ihr Alle kennt! Der Schuſter fragte: wer von euch, ihr Buͤrger, kennt dieſen jungen Mann? Und meh337rere der Umſtehenden wiederholten: wer kennt den Jeronimo Rugera? Der trete vor! Nun traf es ſich, daß in demſelben Augenblicke der kleine Juan, durch den Tumult erſchreckt, von Joſephens Bruſt weg Don Fernando in die Arme ſtrebte. Hierauf: Er iſt der Vater! ſchrie eine Stimme; und und: [emendiert] und: [emendiert] und: [emendiert] und: [emendiert] er iſt Jeronimo Rugera; Rugera! [emendiert] Rugera! [emendiert] Rugera! [emendiert] Rugera! [emendiert] eine andere; und: ſie ſind die gotteslaͤſterlichen Menſchen! eine dritte; und: ſteinigt ſie! ſteinigt ſie! die ganze im Tempel Jeſu verſammelte Chriſtenheit! Drauf jetzt Jeronimo: Halt! Ihr Unmenſchlichen! Wenn ihr den Jeronimo Rugera ſucht: hier iſt er! Befreit jenen Mann, welcher unſchuldig iſt! — Der wuͤthende Haufen, durch die Aeußerung Jeronimo’s verwirrt, ſtutzte; mehrere Haͤnde ließen Don Fernando los; und da in demſelben Augenblick ein Marine-Offizier von bedeutendem Rang herbeieilte, und, indem er ſich durch den Tumult draͤngte, fragte: Don Fernando Ormez! Was iſt euch widerfahren? ſo antwortete dieſer, nun voͤllig befreit, mit wahrer heldenmuͤthiger Beſonnenheit: 338„Ja, ſehen Sie, Don Alonzo, die Mordknechte! Ich waͤre verloren geweſen, wenn dieſer wuͤrdige Mann ſich nicht, die raſende Menge zu beruhigen, fuͤr Jeronimo Rugera ausgegeben haͤtte. Verhaften Sie ihn, wenn Sie die Guͤte haben wollen, nebſt dieſer jungen Dame, zu ihrer beiderſeitigen Sicherheit; und dieſen Nichtswuͤrdigen, indem er Meiſter Pedrillo ergriff, der den ganzen Aufruhr angezettelt hat!“ Der Schuſter rief: Don Alonzo Onoreja, ich frage euch auf euer Gewiſſen, iſt dieſes Maͤdchen nicht Joſephe Aſteron? Da nun Don Alonzo, welcher Joſephen ſehr genau kannte, mit der Antwort zauderte, und mehrere Stimmen, dadurch von neuem zur Wuth entflammt, riefen: ſie iſts, ſie iſts! und: bringt ſie zu Tode! ſo ſetzte Joſephe den kleinen Philipp, den Jeronimo bisher getragen hatte, ſammt dem kleinen Juan, auf Don Fernandos Arm, und ſprach: gehn Sie, Don Fernando, retten Sie ihre beiden Kinder, und uͤberlaſſen Sie uns unſerm Schickſale! Don Fernando nahm die beiden Kinder 339 und ſagte: er wolle eher umkommen, als zugeben, daß ſeiner Geſellſchaft etwas zu Leide geſchehe. Er bot Joſephen, nachdem er ſich den Degen des Marine-Offiziers ausgebeten hatte, den Arm, und forderte das hintere Paar auf, ihm zu folgen. Sie kamen auch wirklich, indem man ihnen, bei ſolchen Anſtalten, mit hinlaͤnglicher Ehrerbietigkeit Platz machte, aus der Kirche heraus, und glaubten ſich gerettet.Doch kaum waren ſie auf den von Menſchen gleichfalls erfuͤllten Vorplatz derſelben getreten, als eine Stimme aus dem raſenden Haufen, der ſie verfolgt hatte, rief: dies iſt Jeronimo Rugera, ihr Buͤrger, denn ich bin ſein eigner Vater! und ihn an Donna Conſtanzens Seite mit einem ungeheuren Keulenſchlage zu Boden ſtreckte.Jeſus Maria! rief Donna Conſtanze, und floh zu ihrem Schwager; doch: Kloſtermetze! erſcholl es ſchon, mit einem zweiten Keulenſchlage, von einer andern Seite, der ſie leblos neben Jeronimo niederwarf. Ungeheuer! rief ein Unbekannter: dies war Donna Conſtanze 340Xares! Warum belogen ſie uns! antwortete der Schuſter; ſucht die rechte auf, und bringt ſie um! Don Fernando, als er Conſtanzens Leichnam erblickte, gluͤhte vor Zorn; er zog und ſchwang das Schwerdt, und hieb, daß er ihn geſpalten haͤtte, den fanatiſchen Mordknecht, der dieſe Graͤuel veranlaßte, wenn derſelbe nicht, durch eine Wendung, dem wuͤthenden Schlag entwichen waͤre. Doch da er die Menge, die auf ihn eindrang, nicht uͤberwaͤltigen konnte: leben Sie wohl, Don Fernando mit den Kindern! rief Joſephe — und: hier mordet mich, ihr blutduͤrſtenden Tieger! und ſtuͤrzte ſich freiwillig unter ſie, um dem Kampf ein Ende zu machen. Meiſter Pedrillo ſchlug ſie mit der Keule nieder. Darauf ganz mit ihrem Blute beſpruͤtzt: ſchickt ihr den Baſtard zur Hoͤlle nach! rief er, und drang, mit noch ungeſaͤttigter Mordluſt, von neuem vor. Don Fernando, dieſer goͤttliche Held, ſtand jetzt, den Ruͤcken an die Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die Kinder, in der Rechten das Schwerdt. Mit 341jedem Hiebe wetterſtrahlte er Einen zu Boden; ein Loͤwe wehrt ſich nicht beſſer. Sieben Bluthunde lagen todt vor ihm, der Fuͤrſt der ſataniſchen Rotte ſelbſt war verwundet. Doch Meiſter Pedrillo ruhte nicht eher, als bis er der Kinder Eines bei den Beinen von ſeiner Bruſt geriſſen, und, hochher im Kreiſe geſchwungen, an eines Kirchpfeilers Ecke zerſchmettert hatte. Hierauf ward es ſtill, und Alles entfernte ſich. Don Fernando, als er ſeinen kleinen Juan vor ſich liegen ſah, mit aus dem Hirne vorquellenden Mark, hob, voll namenloſen Schmerzes, ſeine Augen gen Himmel. Der Marine-Offizier fand ſich wieder bei ihm ein, ſuchte ihn zu troͤſten, und verſicherte ihn, daß ſeine Unthaͤtigkeit bei dieſem Ungluͤck, obſchon durch mehrere Umſtaͤnde gerechtfertigt, ihn reue; doch Don Fernando ſagte, daß ihm nichts vorzuwerfen ſey, und bat ihn nur, die Leichname jetzt fortſchaffen zu helfen. Man trug ſie alle, bei der Finſterniß der einbrechenden Nacht, in Don Alonzos Wohnung, wohin Don Fernando 342 ihnen, viel uͤber das Antlitz des kleinen Philipp weinend, folgte. Er uͤbernachtete auch bei Don Alonzo, und ſaͤumte lange, unter falſchen Vorſpiegelungen, ſeine Gemahlin von dem ganzen Umfang des Ungluͤcks zu unterrichten; einmal, weil ſie krank war, und dann, weil er auch nicht wußte, wie ſie ſein Verhalten bei dieſer Begebenheit beurtheilen wuͤrde; doch kurze Zeit nachher, durch einen Beſuch zufaͤllig von Allem, was geſchehen war, benachrichtigt, weinte dieſe treffliche Dame im Stillen ihren muͤtterlichen Schmerz aus, und fiel ihm mit dem Reſt einer erglaͤnzenden Thraͤne eines Morgens um den Hals und kuͤßte ihn. Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegeſohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, ſo war es ihm faſt, als muͤßt er ſich freuen.