[008] An Wilhelmine von Zenge, [April/Mai (?)] 1800
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[BKA IV/1 108]
[DKV IV 52]
[SE:1993 II 501]
[Heimböckel:1999 (Reclam) 53]
[MA II 572]
[Frankfurt
a. d. Oder, Anfang
18s
]
[... ] ſichtbar die Zuverſicht von Ihnen geliebt zu werden? / Athmet]Atmet nicht in jeder Zeile das frohe Selbſtbewußtſein / der erhörten u.]und beglückten Liebe? — Und doch — wer / hat es mir geſagt? Und wo ſteht es geſchrieben? /
Zwar — was ſoll ich aus dem Frohſinn, der auch Sie / ſeit geſtern belebt, was ſoll ich aus den Freudenthränen]Freudentränen, / die Sie bei der Erklärung Ihres Vaters vergoſſen haben, / was ſoll ich aus der Güte, mit welcher Sie mich in dieſen / Tagen zuweilen angeblickt haben, was ſoll ich aus dem / innigen Vertrauen, mit welchem Sie in einigen der / 10 verfloſſenen [DKV IV 53] Abende, beſonders geſtern am Fortepiano, / zu mir ſprachen, [Heimböckel:1999 (Reclam) 54] was ſoll ich aus der Kühnheit, mit welcher / Sie ſich jetzt, weil Sie es dürfen, ſelbſt in Gegenwart Andrer]andrer / mir nähern, da Sie ſonſt immer ſchüchtern von mir ent/fernt blieben — ich frage, was ſoll ich aus allen dieſen / faſt unzweifelhaften Zügen anderes ſchließen, was / anderes, Wilhelmine, als daß ich geliebt werde? /
Aber darf ich meinen Augen und meinen Ohren, darf / ich meinem Witze u.]und meinem Scharfſinn, darf ich dem / Gefühle meines leichtgläubigen Herzens, das ſich ſchon / 20 einmal von ähnlichen Zügen täuſchen ließ, wohl trauen? / Muß ich nicht mißtrauiſch werden auf meine Schlüſſe, / da Sie mir ſelbſt ſchon einmal gezeigt haben, wie falſch / ſie zuweilen ſind? Was kann ich im Grunde, reiflich / überlegt, mehr glauben, als was ich vor einem halben / [2] [BKA IV/1 111] Jahre auch ſchon wußte, ich frage, was kann ich mehr glauben, / als daß Sie mich ſchätzen u.]und daß Sie mich wie einen Freund / lieben? /
[MA II 573]Und doch wünſche ich mehr, und doch mögte]möchte ich nun gern / [SE:1993 II 502] wiſſen, was Ihr Herz für mich fühlt. Wilhelmine! Laſſen / 30 Sie mich einen Blick in Ihr Herz thun]tun. Öffnen Sie mir es / einmal mit Vertrauen u.]und Offenherzigkeit. So viel / Vertrauen, ſo viel unbegränztes]unbegrenztes Vertrauen von meiner / Seite verdient doch wohl einige Erwiederung]Erwiderung von der Ihri/gen. Ich will nicht ſagen, daß Sie mich lieben müßten, weil / ich Sie liebe; aber vertrauen müſſen Sie ſich mir, weil ich mich Ihnen / unbegränzt]unbegrenzt vertraut habe. — Wilhelmine! Schreiben / Sie mir einmal recht innig u.]und herzlich. Führen Sie / mich einmal in das Heiligthum]Heiligtum Ihres Herzens Herzens, Herzens, das ich noch / nicht mit Gewißheit kenne. Wenn der Glaube Glaube, Glaube, Glaube, ]Glaube, den / 40 ich aus der Innigkeit Ihres Betragens gegen mich ſchöpfte, / zu kühn u.]und noch zu übereilt war,war, ſo ſcheuen Sie ſich / nicht es mir zu ſagen. Ich werde mit den Hoffnungen, die / Sie mir gewiß nicht entziehen werden, zufrieden ſein. / Aber auch dann, Wilhelmine, wenn mein Glaube gegrün/det wäre, auch dann ſcheuen Sie ſich nicht, ſich mir ganz / zu vertrauen. Sagen Sie es mir, wenn Sie mich lieben / — denn warum wollten Sie ſich [Heimböckel:1999 (Reclam) 55] deſſen ſchämen? Bin ich / nicht ein edler Menſch, Wilhelmine? /
[DKV IV 54]Zwar eigentlich — — ich will es Ihnen nur offenherzig / 50 [3] [BKA IV/1 112] geſtehen, Wilhelmine, was Sie auch immerhin von meiner / Eitelkeit denken mögen — eigentlich bin ich es feſt überzeugt, / daß Sie mich lieben. Aber, Gott weiß, welche ſeltſame / Reihe von Gedanken mich wünſchen lehrt, daß Sie es mir / ſagen mögten]möchten . Ich glaube, daß ich entzückt ſein werde, und / daß Sie mir einen Augenblick, voll der üppigſten und / innigſten Freude bereiten werden, wenn Ihre Hand / ſich entſchließen könnte, dieſe drei Worte niederzu/ſchreiben: ich liebe Dich. /
Ja, Wilhelmine, ſagen Sie mir dieſe drei herrlichen Worte; / 60 ſie ſollen für die ganze Dauer meines künftigen Le/bens gelten. Sagen Sie ſie mir einmal u.]und laſſen Sie / uns dann bald dahin kommen, daß wir nicht mehr nöthig nötig ]nötig / haben, ſie uns zu widerholen]wiederholen . Denn nicht durch Worte / aber durch Handlungen zeigt ſich wahre Treue u.]und wahre / Liebe. Laſſen Sie uns bald recht innig vertraut werden, / damit wir uns ganz kennen lernen. Ich weiß nichts, / Wilhelmine, in meiner Seele regt ſich kein Gedanke, / kein Gefühl in meinem Buſen, das ich mich ſcheuen / dürfte Ihnen mitzutheilen]mitzuteilen . Und was könnten Sie / 70 mir wohl zu ver[MA II 574] heimlichen haben? Und was könnte / Sie wohl bewegen, die erſte Bedingung der Liebe, [SE:1993 II 503] das / Vertrauen zu verletzen? — Alſo offenherzig, Wilhelmine, / immer offenherzig. Was wir auch denken u.]und fühlen u.]und wünſchen / — etwas Unedles kann es nicht ſein, u.]und darum wollen / wir es uns freimüthig]freimütig mittheilen]mitteilen . Vertrauen u.]und Achtung, das ſind / [4] [BKA IV/1 115] die beiden unzertrennlichen Grundpfeiler der Liebe, ohne / welche ſie nicht beſtehen kann; denn ohne Achtung / hat die Liebe keinen Werth]Wert u.]und ohne Vertrauen keine / Freude. / 80
Ja, Wilhelmine, auch die Achtung iſt eine unwiderrufliche / Bedingung der Liebe. Laſſen Sie uns daher unaufhörlich / uns bemühen, nicht nur die Achtung, die wir gegenſeitig / für einander tragen, zu erhalten, ſondern auch zu er/höhen. [Heimböckel:1999 (Reclam) 56] Denn dieſer Zweck iſt es erſt, welcher der / Liebe ihren höchſten Werth]Wert giebt]gibt . Edler u.]und beſſer ſollen / wir durch die Liebe werden, u.]und wenn wir dieſen Zweck / nicht erreichen, Wilhelmine, ſo mißverſtehen wir uns. / Laſſen Sie uns daher [DKV IV 55] immer mit ſanfter menſchenfreund/licher Strenge über unſer gegenſeitiges Betragen wachen. / 90 Von Ihnen wenigſtens wünſche ich es, daß Sie mir offen/herzig alles ſagen, was Ihnen vielleicht an mir mißfallen / könnte. Ich darf mich getrauen alle Ihre Forderungen / zu erfüllen, weil ich nicht fürchte, daß Sie überſpannte / Forderungen machen werden. Fahren Sie wenigſtens fort, / ſich immer ſo zu betragen, daß ich mein höchſtes Glück in Ihre Ihr / Liebe u.]und in Ihre Achtung ſetze; dann werden ſich alle die / guten Eindrücke, von denen Sie vielleicht nichts ahnden, / u.]und die ich Ihnen dennoch innig u.]und herzlich danke, verdoppeln / u.]und verdreifachen. — Dafür will ich denn dann auch an Ihre Ihrer Ihrer Ihrer Ihrer ]Ihrer / 100 Bildung arbeiten, Wilhelmine, und den Werth]Wert des / Mädchens, das ich liebe, immer noch mehr veredlen und / erhöhen. /
[5] [BKA IV/1 116]Und nun noch eine Hauptſache, Wilhelmine. Sie wiſſen, / daß ich bereits entſchloſſen bin, mich für ein Amt zu / bilden; aber noch bin ich nicht entſchieden, für welches / Amt ich mich bilden ſoll. Ich wende jede müßige Stunde / zum Behufe der Überlegung über dieſen Gegenſtand an. / Ich wäge die Wünſche meines Herzens gegen die Forde/rungen meiner Vernunft ab; aber die Schalen der / 110 Wage]Waage ſchwanken unter den unbeſtimmten Gewichten. / Soll ich die Rechte ſtudieren? — Ach, Wilhelmine, ich / hörte letzthin in dem Naturrechte die Frage [MA II 575] aufwer/fen, ob die Verträge der Liebenden gelten könten]könnten , weil / ſie in der Leidenſchaft geſchehen — und was ſoll ich von / einer Wiſſenſchaft halten, die ſich den [SE:1993 II 504] Kopf darüber zer/bricht ob es ein Eigenthum]Eigentum in der Welt giebt]gibt , u.]und die / mir daher nur zweifeln lehren würde, ob ich Sie / auch wohl jemals mit Recht die Meine nennen darf? / Nein, nein, Wilhelmine, nicht die Rechte will ich / 120 ſtudieren, nicht die ſchwankenden ungewiſſen, zwei/deutigen Rechte der Vernunft will ich ſtudieren, an / die [Heimböckel:1999 (Reclam) 57] Rechte meines Herzens will ich mich halten, u.]und / ausüben will ich ſie, was auch alle Syſteme der Phi/loſophen dagegen einwenden mögen. — Oder ſoll / ich mich für das diplomatiſche Fach beſtimmen? — Ach, Wil/helmine, ich erkenne nur ein höchſtes Geſetz an, / die Rechtſchaffenheit, u.]und die Politik kennt nur ihren / [6] [BKA IV/1 119] Vortheil]Vorteil . [DKV IV 56] Auch wäre der Aufenthalt an fremden / Höfen kein Schauplatz für das Glück der Liebe. An / 130 den Höfen herrſcht die Mode]Mode, u.]und die Liebe flieht vor / der unbeſcheidnen unbescheidenen Spötterinn]Spötterin . — Oder ſoll ich mich / für das Finanzfach beſtimmen? — Das wäre etwas. / Wenn mir auch gleich der Klang rollender Münzen / eben nicht lieb u.]und angenehm iſt, ſo ſei es dennoch. / Der Einklang unſrer Herzen möge mich entſchädigen, / u.]und ich verwerfe dieſen Lebensweg nicht, wenn er zu / unſerm Ziele führen kann. — Auch noch ein Amt / ſteht mir offen, ein ehrenvolles Amt, das mir zugleich / alle wiſſenſchaftlichen Genüſſe gewähren würde, aber / 140 freilich kein glänzendes Amt, ein Amt, von dem man / freilich als Bürger des Staates nicht, wohl aber / als Weltbürger weiter]weiterſchreiten ſchreiten][] kann — ich meine / ein academiſches]akademiſches Amt. — Endlich bleibt es mir / noch übrig die Öconomie]Ökonomie zu ſtudieren, um die wichtige / Kunſt zu lernen, mit geringen Kräften große Wirkungen / hervorzubringen. Wenn ich mir dieſe große Kunſt / aneignen könnte, dann Wilhelmine, könnte ich ganz / glücklich ſein, dann könnte ich, ein freier Menſch, mein / ganzes Leben Ihnen u.]und meinem höchſten Zwecke — / 150 oder vielmehr, weil es die Rangordnung ſo will — mei/nem höchſten Zwecke u.]und Ihnen widmen. /
So ſtehe ich jetzt, wie Herkules, am fünffachen / [7] [BKA IV/1 120] Scheidewege u.]und ſinne, welchen Weg ich wählen ſoll. / Das Gewicht des Zweckes, den ich beabſichte, macht mich / ſchüchtern bei der Wahl. Glücklich, glücklich, Wilhelmine, / mögte]möchte ich gern werden]werden, u.]und darf man da nicht ſchüchtern / ſein, den rechten Weg zu verfeh[MA II 576] len? Zwar ich glaube, / daß ich auf jedem dieſer Lebenswege glücklich ſein / würde, wenn ich ihn nur an Ihrer Seite zurücklegen / 160 kann. Aber, wer weiß, Wilhelmine, [Heimböckel:1999 (Reclam) 58] ob Sie nicht / viel[SE:1993 II 505] leicht beſondere Wünſche haben, die es werth]wert / ſind, auch in Erwägung gezogen zu werden. Daher / fordere ich Sie auf, mir Ihre Gedanken über alle / dieſe Pläne, u.]und Ihre Wünſche, in dieſer Hinſicht, mitzu/theilen]mitzuteilen . Auch wäre es mir lieb von Ihnen zu erfahren, / was Sie ſich wohl eigentlich von einer Zukunft an / meiner Seite verſprechen? Ich verſpreche nicht un/bedingt den Wunſch zu [DKV IV 57] erfüllen, den Sie mir mittheilen]mitteilen / werden; aber ich verſpreche bei gleich vortheilhaften]vorteilhaften / 170 Ausſichten denjenigen Lebensweg einzuſchlagen, / der Ihren Wünſchen am meiſten entſpricht. Sei es dann / auch der mühſamſte mühſamſte, ]mühsamste, der beſchwerdevollste beſchwerdenvollſte beschwerdenvollste beschwerdenvollste beschwerdenvollste ]beschwerdenvollste Weg Weg. ]Weg. / Wilhelmine, ich fühle mich mit Muth]Mut u.]und Kraft ausgerü/ſtet, um alle Hinderniſſe zu überſteigen; und wenn / mir der Schweiß über die Schläfe rollt u.]und meine / Kräfte von der ewigen Anſtrengung ermatten, ſo ſoll / mich tröſtend das Bild der Zukunft anlächeln u.]und der Ge/danke mir neuen Muth]Mut u.]und neue Kraft geben: ich arbeite / ja für Wilhelmine. Heinrich Heinrich [in neuer Zeile] Kleiſt. / 180