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1811. No. 8.
Berliner Abendblaͤtter.
Berlin, den 10ten Januar 1811.
Unwahrſcheinliche Wahrhaftigkeiten.
„Drei Geſchichten,“ ſagte ein alter Officier in einer Geſellſchaft, „ſind von der Art, daß ich ihnen zwar ſelbſt vollkommenen Glauben beimeſſe, gleichwohl aber Gefahr liefe, fuͤr einen Windbeutel gehalten zu werden, wenn ich ſie erzaͤhlen wollte. Denn die Leute fordern, als erſte Bedingung, von der Wahrheit, daß ſie wahrſcheinlich ſei; und doch iſt die Wahrſcheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit.“
Erzaͤhlen Sie, riefen einige Mitglieder, erzaͤhlen Sie! — denn man kannte den Officier als einen heitern und ſchaͤtzenswuͤrdigen Mann, der ſich der Luͤge niemals ſchuldig machte.
Der Officier ſagte lachend, er wolle der Geſellſchaft den Gefallen thun; erklaͤrte aber noch einmal im Voraus, daß er auf den Glauben derſelben, in die ſem beſonderen Fall, keinen Anſpruch mache.
Die Geſellſchaft dagegen ſagte ihm denſelben im Voraus zu; ſie forderte ihn nur auf, zu reden, und horchte.
„Auf einem Marſch 1792 in der Rheincampagne,“ begann der Officier, „bemerkte ich, nach einem Gefecht, das wir mit dem Feinde gehabt hatten, einen Soldaten, der ſtramm, mit Gewehr und Gepaͤck, in Reih’ und Glied gieng, obſchon er einen Schuß mitten durch die Bruſt hatte; wenigſtens ſah man das Loch vorn im Riemen der Patrontaſche, wo die Kugel eingeſchlagen hatte, und hinten ein anderes im Rock, wo ſie wieder herausgegangen war. Die Officiere, die ihren Augen bei dieſem ſeltſamen Anblick nicht trauten, forderten ihn zu wiederholten Malen auf, hinter die Front zu treten und ſich verbinden zu laſſen; aber der Menſch verſicherte, daß er gar keine Schmerzen habe, und bat, ihn, um dieſes Prellſchuſſes 30 willen, wie er es nannte, nicht von dem Regiment zu entfernen. Abends, da wir ins Lager geruͤckt waren, unterſuchte der herbeigerufene Chirurgus ſeine Wunde; und fand, daß die Kugel vom Bruſtknochen, den ſie nicht Kraft genug gehabt, zu durchſchlagen, zuruͤckgeprellt, zwiſchen der Ribbe und der Haut, welche auf elaſtiſche Weiſe nachgegeben, um den ganzen Leib herumgeglitſcht, und hinten, da ſie ſich am Ende des Ruͤckgrads geſtoßen, zu ihrer erſten ſenkrechten Richtung zuruͤckgekehrt, und aus der Haut wieder hervorgebrochen war. Auch zog dieſe kleine Fleiſchwunde dem Kranken nichts als ein Wundfieber zu: und wenige Tage verfloſſen, ſo ſtand er wieder in Reih und Glied.
Wie? fragten einige Mitglieder der Geſellſchaft betroffen, und glaubten, ſie haͤtten nicht recht gehoͤrt.
Die Kugel? Um den ganzen Leib herum? Im Kreiſe? — — Die Geſellſchaft hatte Muͤhe, ein Gelaͤchter zu unterdruͤcken.
„Das war die erſte Geſchichte,“ ſagte der Officier, indem er eine Priſe Tabak nahm, und ſchwieg.
Beim Himmel! platzte ein Landedelmann los: da haben Sie recht; dieſe Geſchichte iſt von der Art, daß man ſie nicht glaubt!
„Eilf Jahre darauf,“ ſprach der Officier, „im Jahr 1803, befand ich mich, mit einem Freunde, in dem Flecken Koͤnigſtein in Sachſen, in deſſen Naͤhe, wie bekannt, etwa auf eine halbe Stunde, am Rande des aͤußerſt ſteilen, vielleicht dreihundert Fuß hohen, Elbufers, ein betraͤchtlicher Steinbruch iſt. Die Arbeiter pflegen, bei großen Bloͤcken, wenn ſie mit Werkzeugen nicht mehr hinzu kommen koͤnnen, feſte Koͤrper, beſonders Pfeifenſtiele, in den Riß zu werfen, und uͤberlaſſen der, keilfoͤrmig wirkenden, Gewalt dieſer kleinen Koͤrper das Geſchaͤft, den Block voͤllig von dem Felſen abzuloͤſen. Es traf ſich, daß, eben um dieſe Zeit, ein ungeheurer, mehrere tauſend Cubikfuß meſſender, Block zum Fall auf die Flaͤche des Elbufers, in den Steinbruch, bereit war; und da dieſer Augenblick, wegen des ſonderbar im Gebirge wiederhallenden Donners, und mancher andern, aus der Erſchuͤtterung des Erdreichs hervorgehender Erſcheinungen, die man nicht berechnen kann, merkwuͤrdig iſt: ſo begaben, unter vielen andern Einwohnern der 31 Stadt, auch wir uns, mein Freund und ich, taͤglich Abends nach dem Steinbruch hinaus, um den Moment, da der Block fallen wuͤrde, zu erhaſchen. Der Block fiel aber in der Mittagsſtunde, da wir eben, im Gaſthof zu Koͤnigſtein, an der Tafel ſaßen; und erſt um 5 Uhr gegen Abend hatten wir Zeit, hinaus zu ſpatzieren, und uns nach den Umſtaͤnden, unter denen er gefallen war, zu erkundigen. Was aber war die Wirkung dieſes ſeines Falls geweſen? Zuvoͤrderſt muß man wiſſen, daß, zwiſchen der Felswand des Steinbruchs und dem Bette der Elbe, noch ein betraͤchtlicher, etwa 50 Fuß in der Breite haltender Erdſtrich befindlich war; dergeſtalt, daß der Block (welches hier wichtig iſt) nicht unmittelbar ins Wasſer der Elbe, ſondern auf die ſandige Flaͤche dieſes Erdſtrichs gefallen war. Ein Elbkahn, meine Herren, das war die Wirkung dieſes Falls geweſen, war, durch den Druck der Luft, der dadurch verurſacht worden, auf’s Trockne geſetzt worden; ein Kahn, der, etwa 60 Fuß lang und 30 breit, ſchwer mit Holz beladen, am andern, entgegengeſetzten, Ufer der Elbe lag: dieſe Augen haben ihn im Sande — was ſag’ ich? ſie haben, am anderen Tage, noch die Arbeiter geſehen, welche, mit Hebeln und Walzen, bemuͤht waren, ihn wieder flott zu machen, und ihn, vom Ufer herab, wieder ins Waſſer zu ſchaffen. Es iſt wahrſcheinlich, daß die ganze Elbe (die Oberflaͤche derſelben) einen Augenblick ausgetreten, auf das andere flache Ufer uͤbergeſchwappt und den Kahn, als einen feſten Koͤrper, daſelbſt zuruͤckgelaſſen; etwa wie, auf dem Rande eines flachen Gefaͤßes, ein Stuͤck Holz zuruͤckbleibt, wenn das Waſſer, auf welchem es ſchwimmt, erſchuͤttert wird.“
Und der Block, fragte die Geſellſchaft, fiel nicht ins Waſſer der Elbe?
Der Officier wiederholte: nein!
Seltſam! rief die Geſellſchaft.
Der Landedelmann meinte, daß er die Geſchichten, die ſeinen Satz belegen ſollten, gut zu waͤhlen wuͤßte.
„Die dritte Geſchichte,“ fuhr der Officier fort, „trug ſich zu, im Freiheitskriege der Niederlaͤnder, bei der Belagerung von Antwerpen durch den Herzog von Parma. Der Herzog hatte die Schelde, vermit 32telſt einer Schiffsbruͤcke, geſperrt, und die Antwerpner arbeiteten ihrerſeits, unter Anleitung eines geſchickten Italieners, daran, dieſelbe durch Brander, die ſie gegen die Bruͤcke losließen, in die Luft zu ſprengen. In dem Augenblick, meine Herren, da die Fahrzeuge die Schelde herab, gegen die Bruͤcke, anſchwimmen, ſteht, das merken Sie wohl, ein Fahnenjunker, auf dem linken Ufer der Schelde, dicht neben dem Herzog von Parma; jetzt, verſtehen Sie, jetzt geſchieht die Exploſion: und der Junker, Haut und Haar, ſammt Fahne und Gepaͤck, und ohne daß ihm das Mindeſte auf dieſer Reiſe zugeſtoßen, ſteht auf dem rechten. Und die Schelde iſt hier, wie Sie wiſſen werden, einen kleinen Kanonenſchuß breit.“
„Haben Sie verſtanden?“
Himmel, Tod und Teufel! rief der Landedelmann.
Dixi! ſprach der Officier, nahm Stock und Huth und ging weg.
Herr Hauptmann! riefen die Andern lachend: Herr Hauptmann! — Sie wollten wenigſtens die Quelle dieſer abendtheuerlichen Geſchichte, die er fuͤr wahr ausgab, wiſſen.
Laſſen Sie ihn, ſprach ein Mitglied der Geſellſchaft; die Geſchichte ſteht in dem Anhang zu Schillers Geſchichte vom Abfall der vereinigten Niederlande; und der Verf. bemerkt ausdruͤcklich, daß ein Dichter von dieſem Factum keinen Gebrauch machen koͤnne, der Geſchichtſchreiber aber, wegen der Unverwerflichkeit der Quellen und der Uebereinſtimmung der Zeugniſſe, genoͤthigt ſei, daſſelbe aufzunehmen.
v x.
Im Kunſt⸗ und Induſtrie⸗Comptoir, Leipziger⸗Straße No. 36. iſt zu haben:
Ouverture aus den Dorfsängerinnen von Fioravanti fürs Pianoforte. 4 Gr.