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Unwahrſcheinliche Wahrhaftigkeiten.
„Drei Geſchichten,“ ſagte ein
alter Officier in
einer Geſellſchaft, „ſind von der Art,
daß ich ihnen
zwar ſelbſt vollkommenen Glauben beimeſſe,
gleich⸗
wohl aber Gefahr liefe, fuͤr einen
Windbeutel gehal⸗5
ten zu werden, wenn ich ſie
erzaͤhlen wollte. Denn
die
Leute fordern, als erſte Bedingung, von der Wahr⸗
heit, daß ſie wahrſcheinlich ſei; und doch iſt die Wahr⸗
ſcheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer
auf Seiten der Wahrheit.“10
Erzaͤhlen Sie, riefen einige
Mitglieder, erzaͤhlen
Sie! — denn man kannte den
Officier als einen hei⸗
tern und
ſchaͤtzenswuͤrdigen Mann, der ſich der Luͤge
niemals
ſchuldig machte.
Der Officier ſagte lachend, er
wolle der Geſell⸗15
ſchaft den Gefallen thun;
erklaͤrte aber noch einmal
im Voraus, daß er auf den
Glauben derſelben, in die⸗
ſem beſonderen Fall,
keinen Anſpruch mache.
Die Geſellſchaft dagegen ſagte
ihm denſelben im
Voraus zu; ſie forderte ihn nur auf, zu
reden, und 20
horchte.
„Auf einem Marſch 1792 in der
Rheincampagne,“
begann der Officier, „bemerkte ich, nach
einem Ge⸗
fecht, das wir mit dem Feinde gehabt
hatten, einen
Soldaten, der ſtramm, mit Gewehr und
Gepaͤck, in 25
Reih’ und Glied gieng, obſchon er einen
Schuß mit⸗
ten durch die Bruſt hatte; wenigſtens
ſah man das
Loch vorn im Riemen der Patrontaſche, wo die
Ku⸗
gel eingeſchlagen hatte, und hinten ein
anderes im
Rock, wo ſie wieder herausgegangen war.
Die Offi⸗30
ciere, die
ihren Augen bei dieſem ſeltſamen Anblick
nicht trauten,
forderten ihn zu wiederholten Malen
auf, hinter die
Front zu treten und ſich verbinden zu
laſſen; aber der
Menſch verſicherte, daß er gar keine
Schmerzen habe, und
bat, ihn, um dieſes Prellſchuſſes 35
30 willen, wie er es nannte, nicht
von dem Regiment
zu entfernen. Abends, da wir ins Lager geruͤckt wa⸗
ren, unterſuchte der herbeigerufene Chirurgus ſeine
Wunde; und fand, daß die Kugel vom Bruſtknochen,
den ſie nicht Kraft genug gehabt, zu durchſchlagen, 40
zuruͤckgeprellt, zwiſchen der Ribbe und der Haut,
welche auf elaſtiſche Weiſe nachgegeben, um den gan⸗
zen Leib herumgeglitſcht, und hinten, da ſie
ſich am
Ende des Ruͤckgrads geſtoßen, zu ihrer erſten
ſenk⸗
rechten Richtung zuruͤckgekehrt, und aus
der Haut 45
wieder hervorgebrochen war. Auch zog dieſe kleine
Fleiſchwunde dem Kranken nichts als ein Wundfieber
zu:
und wenige Tage verfloſſen, ſo ſtand er wieder in
Reih
und Glied.
Wie? fragten einige Mitglieder
der Geſellſchaft 50
betroffen, und glaubten, ſie haͤtten
nicht recht gehoͤrt.
Die Kugel? Um den ganzen Leib
herum? Im
Kreiſe? — — Die
Geſellſchaft hatte Muͤhe, ein Ge⸗
laͤchter zu
unterdruͤcken.
„Das war die erſte Geſchichte,“
ſagte der Offi⸗55
cier, indem er eine Priſe Tabak
nahm, und ſchwieg.
Beim Himmel! platzte ein
Landedelmann los: da
haben Sie recht; dieſe Geſchichte
iſt von der Art, daß
man ſie nicht glaubt!
„Eilf Jahre darauf,“ ſprach der
Officier, „im 60
Jahr 1803, befand ich mich, mit einem
Freunde, in
dem Flecken Koͤnigſtein in Sachſen, in
deſſen Naͤhe,
wie bekannt, etwa
anf
auf
eine halbe Stunde, am Rande
des aͤußerſt ſteilen,
vielleicht dreihundert Fuß hohen,
Elbufers, ein
betraͤchtlicher Steinbruch iſt. Die Ar⸗65
beiter pflegen, bei großen Bloͤcken, wenn ſie
mit Werk⸗
zeugen nicht mehr hinzu kommen koͤnnen,
feſte Koͤr⸗
per, beſonders Pfeifenſtiele, in den
Riß zu werfen,
und uͤberlaſſen der, keilfoͤrmig
wirkenden, Gewalt dieſer
kleinen Koͤrper das Geſchaͤft,
den Block voͤllig von 70
dem Felſen abzuloͤſen. Es traf ſich, daß, eben um
dieſe
Zeit, ein ungeheurer, mehrere tauſend Cubikfuß
meſſender, Block zum Fall auf die Flaͤche des Elb⸗
ufers, in den Steinbruch, bereit war; und da dieſer
Augenblick, wegen des ſonderbar im Gebirge wieder⸗75
hallenden Donners, und mancher andern, aus der Er⸗
ſchuͤtterung des Erdreichs hervorgehender Erſcheinun⸗
gen, die man nicht berechnen kann, merkwuͤrdig
iſt:
ſo begaben, unter vielen andern Einwohnern der
31 Stadt, auch wir uns, mein
Freund und ich, taͤglich 80
Abends nach dem Steinbruch
hinaus, um den Mo⸗
ment, da der Block fallen
wuͤrde, zu erhaſchen. Der
Block fiel aber in der Mittagsſtunde, da wir eben,
im
Gaſthof zu Koͤnigſtein, an der Tafel ſaßen; und
erſt um
5 Uhr gegen Abend hatten wir Zeit, hinaus 85
zu ſpatzieren,
und uns nach den Umſtaͤnden, unter de⸗
nen er
gefallen war, zu erkundigen. Was aber war
die Wirkung
dieſes ſeines Falls geweſen? Zuvoͤrderſt
muß man wiſſen, daß, zwiſchen der Felswand des
Steinbruchs und dem Bette der Elbe, noch ein be⸗90
traͤchtlicher, etwa 50 Fuß in der Breite
haltender
Erdſtrich befindlich war; dergeſtalt, daß der
Block
(welches hier wichtig iſt) nicht unmittelbar ins
Was⸗
ſer der Elbe, ſondern auf die ſandige
Flaͤche dieſes
Erdſtrichs gefallen war. Ein Elbkahn, meine Her⸗95
ren, das war die Wirkung dieſes Falls geweſen, war,
durch den Druck der Luft, der dadurch verurſacht wor⸗
den, auf’s Trockne geſetzt worden; ein Kahn, der, et⸗
wa 60 Fuß lang und 30 breit, ſchwer mit Holz
bela⸗
den, am andern,
entgegenſetzten,
entgegengeſetzten,
Ufer der Elbe lag: 100
dieſe Augen haben ihn im
Sande — was ſag’ ich?
ſie haben, am anderen Tage, noch
die Arbeiter geſe⸗
hen, welche, mit Hebeln und
Walzen, bemuͤht waren,
ihn wieder flott zu machen, und
ihn, vom Ufer her⸗
ab, wieder ins Waſſer zu
ſchaffen. Es iſt wahr⸗105
ſcheinlich, daß die ganze Elbe (die Oberflaͤche derſel⸗
ben) einen Augenblick ausgetreten, auf das
andere
flache Ufer uͤbergeſchwappt und den Kahn, als
einen
feſten Koͤrper, daſelbſt zuruͤckgelaſſen; etwa
wie, auf
dem Rande eines flachen Gefaͤßes, ein Stuͤck
Holz zu⸗110
ruͤckbleibt, wenn das Waſſer, auf
welchem es ſchwimmt,
erſchuͤttert wird.“
Und der Block, fragte die
Geſellſchaft, fiel nicht
ins Waſſer der Elbe?
Der Officier wiederholte:
nein!115
Seltſam! rief die
Geſellſchaft.
Der Landedelmann meinte, daß er
die Geſchich⸗
ten, die ſeinen Satz belegen
ſollten, gut zu waͤhlen
wuͤßte.
„Die dritte Geſchichte,“ fuhr
der Officier fort, 120
„trug ſich zu, im Freiheitskriege
der Niederlaͤnder,
bei der Belagerung von Antwerpen
durch den Herzog
von Parma. Der Herzog hatte die Schelde, vermit⸗
32telſt einer Schiffsbruͤcke,
geſperrt, und die Antwerpner
arbeiteten ihrerſeits,
unter Anleitung eines geſchickten 125
Italieners, daran,
dieſelbe durch Brander, die ſie ge⸗
gen die
Bruͤcke losließen, in die Luft zu ſprengen. In
dem Augenblick, meine Herren, da die Fahrzeuge die
Schelde herab, gegen die Bruͤcke, anſchwimmen,
ſteht,
das merken Sie wohl, ein Fahnenjunker, auf dem
130
linken Ufer der Schelde, dicht neben dem Herzog von
Parma; jetzt, verſtehen Sie, jetzt geſchieht die
Ex⸗
ploſion: und der Junker, Haut und Haar,
ſammt
Fahne und Gepaͤck, und ohne daß ihm das Mindeſte
auf dieſer Reiſe zugeſtoßen, ſteht auf dem rechten.
135
Und die Schelde iſt hier, wie Sie wiſſen werden, ei⸗
nen kleinen Kanonenſchuß breit.“
„Haben Sie verſtanden?“
Himmel, Tod und Teufel! rief der
Landedel⸗
mann.140
Dixi! ſprach der Officier, nahm Stock und Huth
und ging weg.
Herr Hauptmann! riefen die
Andern lachend:
Herr Hauptmann! — Sie wollten wenigſtens die
Quelle dieſer abendtheuerlichen Geſchichte, die er fuͤr 145
wahr ausgab, wiſſen.
Laſſen Sie ihn, ſprach ein
Mitglied der Geſell⸗
ſchaft; die Geſchichte ſteht
in dem Anhang zu Schil⸗
lers Geſchichte vom
Abfall der vereinigten Nieder⸗
lande; und der
Verf. bemerkt ausdruͤcklich, daß ein 150
Dichter von dieſem
Factum keinen Gebrauch machen
koͤnne, der
Geſchichtſchreiber aber, wegen der
Unver⸗
werftichkeit
Unver⸗
werflichkeit
der Quellen und der Uebereinſtimmung
der
Zeugniſſe, genoͤthigt ſei, daſſelbe aufzunehmen.
v x.155
Im Kunſt⸗ und
Induſtrie⸗Comptoir, Leipziger⸗
Straße No. 36. iſt zu
haben:
Ouverture aus den Dorfsängerinnen von Fioravanti fürs
Pianoforte. 4 Gr.