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Michael Kohlhaas.

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[BKA II/1 63–291] [DKV III 12–142] [SE:1993 II 9–103] [MA II 9–106] [ 7–121] 1Faks

Michael Kohlhaas.

An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte
des ſechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhaͤndler,
Namens Michael Kohlhaas, Sohn eines
Schulmeiſters, einer der rechtſchaffenſten zugleich 5
und entſetzlichſten Menſchen ſeiner Zeit. —
Die⸗
ſer
außerordentliche Mann wuͤrde, bis in ſein
dreißigſtes Jahr fuͤr das Muſter eines guten
Staatsbuͤrgers haben gelten koͤnnen.
Er beſaß
in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen 10
fuͤhrt, einen Meierhof, auf welchem er ſich durch
ſein Gewerbe ruhig ernaͤhrte; die Kinder, die
ihm ſein Weib ſchenkte, erzog er, in der Furcht
Gottes, zur Arbeitſamkeit und Treue; nicht
Einer war unter ſeinen Nachbarn, der ſich nicht 15
ſeiner Wohlthaͤtigkeit, oder ſeiner Gerechtigkeit
Kleiſts Erzaͤhl. A2Faksimileerfreut haͤtte; kurz, die Welt wuͤrde ſein An⸗
denken
haben ſegnen muͤſſen, wenn er in einer
Tugend nicht ausgeſchweift haͤtte.
Das Recht⸗
gefuͤhl
aber machte ihn zum Raͤuber und 20
Moͤrder.

Er ritt einſt, mit einer Koppel junger Pfer⸗
de
, wohlgenaͤhrt alle und glaͤnzend, ins Aus⸗
land
, und uͤberſchlug eben, wie er den Gewinnſt,
den er auf den Maͤrkten damit zu machen hoffte, 25
anlegen wolle: theils, nach Art guter Wirthe,
auf neuen Gewinnſt, theils aber auch auf den
Genuß der Gegenwart: als er an die Elbe kam,
und bei einer ſtattlichen Ritterburg, auf ſaͤchſi⸗
ſchem
Gebiete, einen Schlagbaum traf, den er30
ſonſt auf dieſem Wege nicht gefunden hatte.
Er
hielt, in einem Augenblick, da eben der Regen
heftig ſtuͤrmte, mit den Pferden ſtill, und rief
den Schlagwaͤrter, der auch bald darauf, mit
einem graͤmlichen Geſicht, aus dem Fenſter ſah. 35
Der Roßhaͤndler ſagte, daß er ihm oͤffnen ſolle.
Was giebt’s hier Neues? fragte er, da der Zoͤll⸗
ner
, nach einer geraumen Zeit, aus dem Hauſe
trat.
Landesherrliches Privilegium, antwortete
3Faksimiledieſer, indem er aufſchloß: dem Junker Wenzel 40
von Tronka verliehen. —
So, ſagte Kohlhaas.
Wenzel heißt der Junker? und ſah ſich das
Schloß an, das mit glaͤnzenden Zinnen uͤber das
Feld blickte.
Iſt der alte Herr todt? — Am
Schlagfluß geſtorben, erwiederte der Zoͤllner, 45
indem er den Baum in die Hoͤhe ließ. —
Hm!
Schade! verſetzte Kohlhaas.
Ein wuͤrdiger alter
Herr, der ſeine Freude am Verkehr der Men⸗
ſchen
hatte, Handel und Wandel, wo er nur
vermogte, forthalf, und einen Steindamm einſt 50
bauen ließ, weil mir eine Stute, draußen, wo
der Weg ins Dorf geht, das Bein gebrochen.

Nun! Was bin ich ſchuldig? — fragte er; und
holte die Groſchen, die der Zollwaͤrter verlangte,
muͤhſelig unter dem im Winde flatternden Man⸗55
tel
hervor.
„Ja, Alter,“ ſetzte er noch hinzu,
da dieſer: hurtig! hurtig! murmelte, und uͤber
die Witterung fluchte: „wenn der Baum im
Walde ſtehen geblieben waͤre, waͤrs beſſer ge⸗
weſen
, fuͤr mich und euch;“ und damit gab er 60
ihm das Geld und wollte reiten.
Er war aber
noch kaum unter den Schlagbaum gekommen,
A 24Faksimileals eine neue Stimme ſchon: halt dort, der Roß⸗
kamm
! hinter ihm vom Thurm erſcholl, und er
den Burgvoigt ein Fenſter zuwerfen und zu ihm 65
herabeilen ſah.
Nun, was giebt’s Neues?
fragte Kohlhaas bei ſich ſelbſt, und hielt mit den
Pferden an.
Der Burgvoigt, indem er ſich
noch eine Weſte uͤber ſeinen weitlaͤufigen Leib
zuknuͤpfte, kam, und fragte, ſchief gegen die 70
Witterung geſtellt, nach dem Paßſchein. —

Kohlhaas fragte: der Paßſchein? Er ſagte, ein
wenig betreten, daß er, ſo viel er wiſſe, keinen
habe; daß man ihm aber nur beſchreiben moͤgte,
was dies fuͤr ein Ding des Herrn ſey: ſo werde 75
er vielleicht zufaͤlligerweiſe damit verſehen ſeyn.

Der Schloßvoigt, indem er ihn von der Seite
anſah, verſetzte, daß ohne einen landesherrli⸗
chen
Erlaubnißſchein, kein Roßkamm mit Pfer⸗
den
uͤber die Graͤnze gelaſſen wuͤrde.
Der Roß⸗80
kamm
verſicherte, daß er ſiebzehn Mal in ſei⸗
nem
Leben, ohne einen ſolchen Schein, uͤber die
Graͤnze gezogen ſey; daß er alle landesherrlichen
Verfuͤgungen, die ſein Gewerbe angingen, genau
kennte; daß dies wohl nur ein Irrthum ſeyn 85
5Faksimilewuͤrde, wegen deſſen er ſich zu bedenken bitte,
und daß man ihn, da ſeine Tagereiſe lang ſey,
nicht laͤnger unnuͤtzer Weiſe hier aufhalten moͤge.

Doch der Voigt erwiederte, daß er das achtzehnte
Mal nicht durchſchluͤpfen wuͤrde, daß die Ver⸗90
ordnung
deshalb erſt neuerlich erſchienen waͤre,
und daß er entweder den Paßſchein noch hier
loͤſen, oder zuruͤckkehren muͤſſe, wo er hergekom⸗
men
ſey.
Der Roßhaͤndler, den dieſe ungeſetz⸗
lichen
Erpreſſungen zu erbittern anfingen, ſtieg, 95
nach einer kurzen Beſinnung, vom Pferde, gab
es einem Knecht, und ſagte, daß er den Jun⸗
ker
von Tronka ſelbſt daruͤber ſprechen wuͤrde.

Er ging auch auf die Burg; der Voigt folgte
ihm, indem er von filzigen Geldraffern und nuͤtz⸗100
lichen
Aderlaͤſſen derſelben murmelte; und beide
traten, mit ihren Blicken einander meſſend, in
den Saal.
Es traf ſich, daß der Junker eben,
mit einigen muntern Freunden, beim Becher ſaß,
und, um eines Schwanks willen, ein unendli⸗105
ches
Gelaͤchter unter ihnen erſcholl, als Kohl⸗
haas
, um ſeine Beſchwerde anzubringen, ſich
ihm naͤherte.
Der Junker fragte, was er wolle;
6Faksimile die Ritter, als ſie den fremden Mann erblick⸗
ten
, wurden ſtill; doch kaum hatte dieſer ſein 110
Geſuch, die Pferde betreffend, angefangen, als
der ganze Troß ſchon: Pferde? Wo ſind ſie?
ausrief, und an die Fenſter eilte, um ſie zu be⸗
trachten
.
Sie flogen, da ſie die glaͤnzende Kop⸗
pel
ſahen, auf den Vorſchlag des Junkers, in 115
den Hof hinab; der Regen hatte aufgehoͤrt;
Schloßvoigt und Verwalter und Knechte ver⸗
ſammelten
ſich um ſie, und alle muſterten die
Thiere.
Der Eine lobte den Schweißfuchs mit
der Bleſſe, dem Andern gefiel der Kaſtanien⸗120
braune
, der Dritte ſtreichelte den Schecken mit
ſchwarzgelben Flecken; und Alle meinten, daß
die Pferde wie Hirſche waͤren, und im Lande
keine beſſern gezogen wuͤrden.
Kohlhaas erwie⸗
derte
munter, daß die Pferde nicht beſſer waͤren, 125
als die Ritter, die ſie reiten ſollten; und forderte
ſie auf, zu kaufen.
Der Junker, den der maͤch⸗
tige
Schweißhengſt ſehr reizte, befragte ihn auch
um den Preis; der Verwalter lag ihm an, ein
Paar Rappen zu kaufen, die er, wegen Pferde⸗130
mangels
, in der Wirthſchaft gebrauchen zu koͤn⸗
7Faksimilenen
glaubte; doch als der Roßkamm ſich erklaͤrt
hatte, fanden die Ritter ihn zu theuer, und der
Junker ſagte, daß er nach der Tafelrunde reiten
und ſich den Koͤnig Arthur aufſuchen muͤſſe, 135
wenn er die Pferde ſo anſchlage.
Kohlhaas, der
den Schloßvoigt und den Verwalter, indem ſie
ſprechende Blicke auf die Rappen warfen, mit
einander fluͤſtern ſah, ließ es, aus einer dun⸗
keln
Vorahndung, an nichts fehlen, die Pferde 140
an ſie los zu werden.
Er ſagte zum Junker:
„Herr, die Rappen habe ich vor ſechs Monaten
fuͤr 25 Goldguͤlden gekauft; gebt mir 30, ſo ſollt
ihr ſie haben.“
Zwei Ritter, die neben dem Jun⸗
ker
ſtanden, aͤußerten nicht undeutlich, daß die 145
Pferde wohl ſo viel werth waͤren; doch der Jun⸗
ker
meinte, daß er fuͤr den Schweißfuchs wohl,
aber nicht eben fuͤr die Rappen, Geld ausgeben
moͤgte, und machte Anſtalten, aufzubrechen;
worauf Kohlhaas ſagte, er wuͤrde vielleicht das 150
naͤchſte Mal, wenn er wieder mit ſeinen Gaulen
durchzoͤge, einen Handel mit ihm machen; ſich
dem Junker empfahl, und die Zuͤgel ſeines Pfer⸗
des
ergriff, um abzureiten.
In dieſem Augen⸗
8Faksimileblick
trat der Schloßvoigt aus dem Haufen vor, 155
und ſagte, er hoͤre, daß er ohne einen Paßſchein
nicht reiſen duͤrfe.
Kohlhaas wandte ſich und
fragte den Junker, ob es denn mit dieſem Um⸗
ſtand
, der ſein ganzes Gewerbe zerſtoͤre, in der
That ſeine Richtigkeit habe?
Der Junker ant⸗160
wortete
, mit einem verlegnen Geſicht, indem
er abging: ja, Kohlhaas, den Paß mußt du
loͤſen.
Sprich mit dem Schloßvoigt, und zieh
deiner Wege. Kohlhaas verſicherte ihn, daß es
gar nicht ſeine Abſicht ſey, die Verordnungen, 165
die wegen Ausfuͤhrung der Pferde beſtehen moͤg⸗
ten
, zu umgehen; verſprach, bei ſeinem Durch⸗
zug
durch Dresden, den Paß in der Geheim⸗
ſchreiberei
zu loͤſen, und bat, ihn nur diesmal,
da er von dieſer Forderung durchaus nichts ge⸗170
wußt
, ziehen zu laſſen.
Nun! ſprach der Jun⸗
ker
, da eben das Wetter wieder zu ſtuͤrmen an⸗
fing
, und ſeine duͤrren Glieder durchſauſte: laßt
den Schlucker laufen.
Kommt! ſagte er zu den
Rittern, kehrte ſich um, und wollte nach dem 175
Schloſſe gehen.
Der Schloßvoigt ſagte, zum
Junker gewandt, daß er wenigſtens ein Pfand,
9Faksimile zur Sicherheit, daß er den Schein loͤſen wuͤrde,
zuruͤcklaſſen muͤſſe.
Der Junker blieb wieder
unter dem Schloßthor ſtehen. Kohlhaas fragte, 180
welchen Werth er denn, an Geld oder an Sa⸗
chen
, zum Pfande, wegen der Rappen, zuruͤck⸗
laſſen
ſolle?
Der Verwalter meinte, in den
Bart murmelnd, er koͤnne ja die Rappen ſelbſt
zuruͤcklaſſen.
Allerdings, ſagte der Schloßvoigt, 185
das iſt das Zweckmaͤßigſte; iſt der Paß geloͤſ’t,
ſo kann er ſie zu jeder Zeit wieder abholen.
Kohl⸗
haas
, uͤber eine ſo unverſchaͤmte Forderung be⸗
treten
, ſagte dem Junker, der ſich die Wams⸗
ſchoͤße
frierend vor den Leib hielt, daß er die 190
Rappen ja verkaufen wolle; doch dieſer, da in
demſelben Augenblick ein Windſtoß eine ganze
Laſt von Regen und Hagel durch’s Thor jagte,
rief, um der Sache ein Ende zu machen: wenn
er die Pferde nicht loslaſſen will, ſo ſchmeißt ihn 195
wieder uͤber den Schlagbaum zuruͤck; und ging
ab.
Der Roßkamm, der wohl ſah, daß er hier
der Gewaltthaͤtigkeit weichen mußte, entſchloß
ſich, die Forderung, weil doch nichts anders uͤbrig
blieb, zu erfuͤllen; ſpannte die Rappen aus, und 200
10Faksimilefuͤhrte ſie in einen Stall, den ihm der Schloß⸗
voigt
anwies.
Er ließ einen Knecht bei ihnen
zuruͤck, verſah ihn mit Geld, ermahnte ihn, die
Pferde, bis zu ſeiner Zuruͤckkunft, wohl in Acht
zu nehmen, und ſetzte ſeine Reiſe, mit dem Reſt 205
der Koppel, halb und halb ungewiß, ob nicht
doch wohl, wegen aufkeimender Pferdezucht, ein
ſolches Gebot, im Saͤchſiſchen, erſchienen ſeyn
koͤnne, nach Leipzig, wo er auf die Meſſe woll⸗
te
, fort.
210

In Dresden, wo er, in einer der Vorſtaͤdte
der Stadt, ein Haus mit einigen Staͤllen beſaß,
weil er von hier aus ſeinen Handel auf den klei⸗
neren
Maͤrkten des Landes zu beſtreiten pflegte,
begab er ſich, gleich nach ſeiner Ankunft, auf215
die Geheimſchreiberei, wo er von den Raͤthen, Rathen
deren er einige kannte, erfuhr, was ihm aller⸗
dings
ſein erſter Glaube ſchon geſagt hatte, daß
die Geſchichte von dem Paßſchein ein Maͤhr⸗
chen
ſey. Kohlhaas, dem die mißvergnuͤgten 220
Raͤthe, auf ſein Anſuchen, einen ſchriftlichen
Schein uͤber den Ungrund derſelben gaben, laͤ⸗
chelte
uͤber den Witz des duͤrren Junkers, obſchon
11Faksimileer noch nicht recht einſah, was er damit bezwek⸗
kenbezwecken
mogte; und die Koppel der Pferde, die er 225
bei ſich fuͤhrte, einige Wochen darauf, zu ſeiner
Zufriedenheit, verkauft, kehrte er, ohne irgend
weiter ein bitteres Gefuͤhl, als das der allgemei⸗
nen
Noth der Welt, zur Tronkenburg zuruͤck.

Der Schloßvoigt, dem er den Schein zeigte, 230
ließ ſich nicht weiter daruͤber aus, und ſagte, auf
die Frage des Roßkamms, ob er die Pferde jetzt
wieder bekommen koͤnne: er moͤgte nur hinunter
gehen und ſie holen.
Kohlhaas hatte aber ſchon,
da er uͤber den Hof ging, den unangenehmen235
Auftritt, zu erfahren, daß ſein Knecht, ungebuͤhr⸗
lichen
Betragens halber, wie es hieß, wenige
Tage nach deſſen Zuruͤcklaſſung in der Tronken⸗
burg
, zerpruͤgelt und weggejagt worden ſey.

Er fragte den Jungen, der ihm dieſe Nachricht 240
gab, was denn derſelbe gethan? und wer waͤh⸗
rend
deſſen die Pferde beſorgt haͤtte? worauf dieſer
aber erwiederte, er wiſſe es nicht, und darauf dem
Roßkamm, dem das Herz ſchon von Ahnungen
ſchwoll, den Stall, in welchem ſie ſtanden, oͤff⸗245
nete
.
Wie groß war aber ſein Erſtaunen, als
12Faksimileer, ſtatt ſeiner zwei glatten und wohlgenaͤhrten
Rappen, ein Paar duͤrre, abgehaͤrmte Maͤhren
erblickte; Knochen, denen man, wie Riegeln,
haͤtte Sachen aufhaͤngen koͤnnen; Maͤhnen und 250
Haare, ohne Wartung und Pflege, zuſammen⸗
geknetet
: das wahre Bild des Elends im Thier⸗
reiche
!
Kohlhaas, den die Pferde, mit einer
ſchwachen Bewegung, anwieherten, war auf
das Aeußerſte entruͤſtet, und fragte, was ſeinen 255
Gaulen widerfahren waͤre? Der Junge, der
bei ihm ſtand, antwortete, daß ihnen weiter
kein Ungluͤck zugeſtoßen waͤre, daß ſie auch das
gehoͤrige Futter bekommen haͤtten, daß ſie aber,
da gerade Ernte geweſen ſey, wegen Mangels 260
an Zugvieh, ein wenig auf den Feldern gebraucht
worden waͤren.
Kohlhaas fluchte uͤber dieſe
ſchaͤndliche und abgekartete Gewaltthaͤtigkeit,
verbiß jedoch, im Gefuͤhl ſeiner Ohnmacht, ſei⸗
nen
Ingrimm, und machte ſchon, da doch nichts 265
anders uͤbrig blieb, Anſtalten, das Raubneſt mit
den Pferden nur wieder zu verlaſſen, als der
Schloßvoigt, von dem Wortwechſel herbeigerufen,
erſchien, und fragte, was es hier gaͤbe?
Was es
13Faksimilegiebt? antwortete Kohlhaas.
Wer hat dem Jun⸗270
ker
von Tronka und deſſen Leuten die Erlaubniß
gegeben, ſich meiner bei ihm zuruͤckgelaſſenen
Rappen zur Feldarbeit zu bedienen?
Er ſetzte
hinzu, ob das wohl menſchlich waͤre? verſuchte,
die erſchoͤpften Gaule durch einen Gertenſtreich 275
zu erregen, und zeigte ihm, daß ſie ſich nicht
ruͤhrten.
Der Schloßvoigt, nachdem er ihn eine
Weile trotzig angeſehen hatte, verſetzte: ſeht den
Grobian!
Ob der Flegel nicht Gott danken
ſollte, daß die Maͤhren uͤberhaupt noch leben?
280
Er fragte, wer ſie, da der Knecht weggelaufen,
haͤtte pflegen ſollen?
Ob es nicht billig geweſen
waͤre, daß die Pferde das Futter, das man ih⸗
nen
gereicht habe, auf den Feldern abverdient
haͤtten?
Er ſchloß, daß er hier keine Flauſen 285
machen moͤgte, oder daß er die Hunde rufen,
und ſich durch ſie Ruhe im Hofe zu verſchaffen
wiſſen wuͤrde. —
Dem Roßhaͤndler ſchlug das
Herz gegen den Wams.
Es draͤngte ihn, den
nichtswuͤrdigen Dickwanſt in den Koth zu wer⸗290
fen
, und den Fuß auf ſein kupfernes Antlitz
zu ſetzen.
Doch ſein Rechtgefuͤhl, das einer
14FaksimileGoldwaage glich, wankte noch; er war, vor
der Schranke ſeiner eigenen Bruſt, noch nicht
gewiß, ob eine Schuld ſeinen Gegner druͤcke; 295
und waͤhrend er, die Schimpfreden niederſchluk⸗
kendniederſchluckend
, zu den Pferden trat, und ihnen, in ſtil⸗
ler
Erwaͤgung der Umſtaͤnde, die Maͤhnen zurecht
legte, fragte er mit geſenkter Stimme: um wel⸗
chen
Verſehens halber der Knecht denn aus der 300
Burg entfernt worden ſey?
Der Schloßvoigt
erwiederte: weil der Schlingel trotzig im Hofe
geweſen iſt!
Weil er ſich gegen einen nothwen⸗
digen
Stallwechſel geſtraͤubt, und verlangt hat,
daß die Pferde zweier Jungherren, die auf die 305
Tronkenburg kamen, um ſeiner Maͤhren willen,
auf der freien Straße uͤbernachten ſollten! —

Kohlhaas haͤtte den Werth der Pferde darum
gegeben, wenn er den Knecht zur Hand gehabt,
und deſſen Ausſage mit der Ausſage dieſes dick⸗310
maͤuligen
Burgvoigts haͤtte vergleichen koͤnnen.

Er ſtand noch, und ſtreifte den Rappen die Zod⸗
deln
aus, und ſann, was in ſeiner Lage zu thun
ſey, als ſich die Scene ploͤtzlich aͤnderte, und der
Junker Wenzel von Tronka, mit einem Schwarm 315
15Faksimilevon Rittern, Knechten und Hunden, von der
Haſenhetze kommend, in den Schloßplatz ſprengte.

Der Schloßvoigt, als er fragte, was vorgefal⸗
len
ſey, nahm ſogleich das Wort, und waͤhrend
die Hunde, beim Anblick des Fremden, von der 320
einen Seite, ein Mordgeheul gegen ihn anſtimm⸗
ten
, und die Ritter ihnen, von der andern, zu
ſchweigen geboten, zeigte er ihm, unter der ge⸗
haͤſſigſten
Entſtellung der Sache, an, was die⸗
ſer
Roßkamm, weil ſeine Rappen ein wenig ge⸗325
braucht
worden waͤren, fuͤr eine Rebellion ver⸗
fuͤhre
.
Er ſagte, mit Hohngelaͤchter, daß er
ſich weigere, die Pferde als die ſeinigen anzuer⸗
kennen
.
Kohlhaas rief: „das ſind nicht meine
Pferde, geſtrenger Herr!
Das ſind die Pferde 330
nicht, die dreißig Goldguͤlden werth waren!
Ich
will meine wohlgenaͤhrten und geſunden Pferde
wieder haben!“ —
Der Junker, indem ihm
eine fluͤchtige Blaͤſſe in’s Geſicht trat, ſtieg vom
Pferde, und ſagte: wenn der H... A... die 335
Pferde nicht wiedernehmen will, ſo mag er es
bleiben laſſen.
Komm, Guͤnther! rief er —
Hans! Kommt! indem er ſich den Staub mit
16Faksimileder Hand von den Beinkleidern ſchuͤttelte; und:
ſchafft Wein! rief er noch, da er mit den Rittern 340
unter der Thuͤr war; und ging in’s Haus.

Kohlhaas ſagte, daß er eher den Abdecker rufen,
und die Pferde auf den Schindanger ſchmeißen
laſſen, als ſie ſo, wie ſie waͤren, in ſeinen Stall
zu Kohlhaaſenbruͤck fuͤhren wolle.
Er ließ die 345
Gaule, ohne ſich um ſie zu bekuͤmmern, auf dem
Platz ſtehen, ſchwang ſich, indem er verſicherte,
daß er ſich Recht zu verſchaffen wiſſen wuͤrde, auf
ſeinen Braunen, und ritt davon.

Spornſtreichs auf dem Wege nach Dresden 350
war er ſchon, als er, bei dem Gedanken an den
Knecht, und an die Klage, die man auf der
Burg gegen ihn fuͤhrte, ſchrittweis zu reiten an⸗
fieng
, ſein Pferd, ehe er noch tauſend Schritt
gemacht hatte, wieder wandte, und zur vorgaͤn⸗355
gigen
Vernehmung des Knechts, wie es ihm klug
und gerecht ſchien, nach Kohlhaaſenbruͤck ein⸗
bog
.
Denn ein richtiges, mit der gebrechlichen Ein⸗
richtung
der Welt ſchon bekanntes Gefuͤhl machte
ihn, trotz der erlittenen Beleidigungen, geneigt, 360
falls nur wirklich dem Knecht, wie der Schloß⸗
voigt17FaksimileSchloßvoigtvoigt
behauptete, eine Art von Schuld beizumeſ⸗
ſen
ſey, den Verluſt der Pferde, als eine gerechte
Folge davon, zu verſchmerzen.
Dagegen ſagte
ihm ein eben ſo vortreffliches Gefuͤhl, und dies 365
Gefuͤhl faßte tiefere und tiefere Wurzeln, in dem
Maaße, als er weiter ritt, und uͤberall, wo er
einkehrte, von den Ungerechtigkeiten hoͤrte, die
taͤglich auf der Tronkenburg gegen die Reiſenden
veruͤbt wurden: daß wenn der ganze Vorfall, 370
wie es allen Anſchein habe, bloß abgekartet ſeyn
ſollte, er mit ſeinen Kraͤften der Welt in der
Pflicht verfallen ſey, ſich Genugthuung fuͤr die
erlittene Kraͤnkung, und Sicherheit fuͤr zukuͤnf⸗
tige
ſeinen Mitbuͤrgern zu verſchaffen.
375

Sobald er, bei ſeiner Ankunft in Kohlhaa⸗
ſenbruͤck
, Lisbeth, ſein treues Weib, umarmt,
und ſeine Kinder, die um ſeine Kniee frohlockten,
gekuͤßt hatte, fragte er gleich nach Herſe, dem
Großknecht: und ob man nichts von ihm gehoͤrt 380
habe?
Lisbeth ſagte: ja liebſter Michael, dieſer
Herſe!
Denke dir, daß dieſer unſeelige Menſch,
vor etwa vierzehn Tagen, auf das jaͤmmerlichſte
zerſchlagen, hier eintrifft; nein, ſo zerſchlagen,
Kleiſts Erzaͤhl. B18Faksimiledaß er auch nicht frei athmen kann.
Wir brin⸗385
gen
ihn zu Bett, wo er heftig Blut ſpeit, und
vernehmen, auf unſre wiederholten Fragen, eine
Geſchichte, die keiner verſteht.
Wie er von dir
mit Pferden, denen man den Durchgang nicht
verſtattet, auf der Tronkenburg zuruͤckgelaſſen 390
worden ſey, wie man ihn, durch die ſchaͤndlich⸗
ſten
Mißhandlungen, gezwungen habe, die Burg
zu verlaſſen, und wie es ihm unmoͤglich geweſen
waͤre, die Pferde mitzunehmen.
So? ſagte
Kohlhaas, indem er den Mantel ablegte. Iſt 395
er denn ſchon wieder hergeſtellt? —
Bis auf
das Blutſpeien, antwortete ſie, halb und halb.

Ich wollte ſogleich einen Knecht nach der Tron⸗
kenburg
ſchicken, um die Pflege der Roſſe, bis
zu deiner Ankunft daſelbſt, beſorgen zu laſſen.
400
Denn da ſich der Herſe immer wahrhaftig ge⸗
zeigt
hat, und ſo getreu uns, in der That wie kein
Anderer, ſo kam es mir nicht zu, in ſeine Aus⸗
ſage
, von ſo viel Merkmalen unterſtuͤtzt, einen
Zweifel zu ſetzen, und etwa zu glauben, daß er 405
der Pferde auf eine andere Art verluſtig gegan⸗
gen
waͤre.
Doch er beſchwoͤrt mich, Nieman⸗
19Faksimileden
zuzumuthen, ſich in dieſem Raubneſte zu zei⸗
gen
, und die Thiere aufzugeben, wenn ich keinen
Menſchen dafuͤr aufopfern wolle. —
Liegt er denn 410
noch im Bette? fragte Kohlhaas, indem er ſich
von der Halsbinde befreite. —
Er geht, erwie⸗
derte
ſie, ſeit einigen Tagen ſchon wieder im
Hofe umher.
Kurz, du wirſt ſehen, fuhr ſie
fort, daß Alles ſeine Richtigkeit hat, und daß 415
dieſe Begebenheit einer von den Freveln iſt, die
man ſich ſeit Kurzem auf der Tronkenburg gegen
die Fremden erlaubt. —
Das muß ich doch erſt
unterſuchen, erwiederte Kohlhaas.
Ruf’ ihn
mir, Lisbeth, wenn er auf iſt, doch her!
Mit 420
dieſen Worten ſetzte er ſich in den Lehnſtuhl;
und die Hausfrau, die ſich uͤber ſeine Gelaſſen⸗
heit
ſehr freute, ging, und holte den Knecht.

Was haſt du in der Tronkenburg gemacht?
fragte Kohlhaas, da Lisbeth mit ihm in das 425
Zimmer trat.
Ich bin nicht eben wohl mit dir
zufrieden. —
Der Knecht, auf deſſen blaſſem
Geſicht ſich, bei dieſen Worten, eine Roͤthe
fleckig zeigte, ſchwieg eine Weile; und: da habt
ihr Recht, Herr! antwortete er; denn einen 430
B 220FaksimileSchwefelfaden, den ich durch Gottes Fuͤgung
bei mir trug, um das Raubneſt, aus dem ich
verjagt worden war, in Brand zu ſtecken, warf
ich, als ich ein Kind darin jammern hoͤrte, in
das Elbwaſſer, und dachte: mag es Gottes 435
Blitz einaͤſchern; ich will’s nicht! —
Kohlhaas
ſagte betroffen: wodurch aber haſt du dir die
Verjagung aus der Tronkenburg zugezogen?

Drauf Herſe: durch einen ſchlechten Streich,
Herr; und trocknete ſich den Schweiß von der 440
Stirn: Geſchehenes iſt aber nicht zu aͤndern.

Ich wollte die Pferde nicht auf der Feldar⸗
beit
zu Grunde richten laſſen, und ſagte, daß ſie
noch jung waͤren und nicht gezogen haͤtten. —

Kohlhaas erwiederte, indem er ſeine Verwirrung 445
zu verbergen ſuchte, daß er hierin nicht ganz die
Wahrheit geſagt, indem die Pferde ſchon zu An⸗
fange
des verfloſſenen Fruͤhjahrs ein wenig im
Geſchirr geweſen waͤren.
Du haͤtteſt dich auf
der Burg, fuhr er fort, wo du doch eine Art 450
von Gaſt wareſt, ſchon ein oder etliche Mal,
wenn gerade, wegen ſchleuniger Einfuͤhrung der
Ernte Noth war, gefaͤllig zeigen koͤnnen. —
21Faksimile
Das habe ich auch gethan, Herr, ſprach Herſe.
Ich dachte, da ſie mir graͤmliche Geſichter mach⸗455
ten
, es wird doch die Rappen juſt nicht koſten.

Am dritten Vormittag ſpannt’ ich ſie vor, und
drei Fuhren Getreide fuͤhrt’ ich ein.
Kohlhaas,
dem das Herz emporquoll, ſchlug die Augen zu
Boden, und verſetzte: davon hat man mir nichts 460
geſagt, Herſe! —
Herſe verſicherte ihn, daß es
ſo ſey.
Meine Ungefaͤlligkeit, ſprach er, be⸗
ſtand
darin, daß ich die Pferde, als ſie zu Mit⸗
tag
kaum ausgefreſſen hatten, nicht wieder in’s
Joch ſpannen wollte; und daß ich dem Schloß⸗465
voigt
und dem Verwalter, als ſie mir vorſchlu⸗
gen
frei Futter dafuͤr anzunehmen, und das
Geld, das ihr mir fuͤr Futterkoſten zuruͤckgelaſſen
hattet, in den Sack zu ſtecken, antwortete —
ich wuͤrde ihnen ſonſt was thun; mich umkehrte 470
und wegging. —
Um dieſer Ungefaͤlligkeit aber,
ſagte Kohlhaas, biſt du von der Tronkenburg
nicht weggejagt worden. —
Behuͤte Gott, rief
der Knecht, um eine gottvergeſſene Miſſethat!

Denn auf den Abend wurden die Pferde zweier 475
Ritter, welche auf die Tronkenburg kamen, in
22Faksimileden Stall gefuͤhrt, und meine an die Stallthuͤre
angebunden.
Und da ich dem Schloßvoigt, der
ſie daſelbſt einquartirte, die Rappen aus der
Hand nahm, und fragte, wo die Thiere jetzo 480
bleiben ſollten, ſo zeigte er mir einen Schweine⸗
koben
an, der von Latten und Brettern an der
Schloßmauer auferbaut war. —
Du meinſt,
unterbrach ihn Kohlhaas, es war ein ſo ſchlecht⸗
es
Behaͤltniß fuͤr Pferde, daß es einem Schwei⸗485
nekoben
aͤhnlicher war, als einem Stall. —
Es
war ein Schweinekoben, Herr, antwortete
Herſe; wirklich und wahrhaftig ein Schweine⸗
koben
, in welchem die Schweine aus- und ein⸗
liefen
, und ich nicht aufrecht ſtehen konnte. —
490
Vielleicht war ſonſt kein Unterkommen fuͤr die
Rappen aufzufinden, verſetzte Kohlhaas; die
Pferde der Ritter gingen, auf eine gewiſſe Art,
vor. —
Der Platz, erwiederte der Knecht, in⸗
dem
er die Stimme fallen ließ, war eng.
Es 495
hauſeten jetzt in Allem ſieben Ritter auf der
Burg.
Wenn ihr es geweſen waͤret, ihr haͤttet
die Pferde ein wenig zuſammenruͤcken laſſen.

Ich ſagte, ich wolle mir im Dorf einen Stall
23Faksimilezu miethen ſuchen; doch der Schloßvoigt ver⸗500
ſetzte
, daß er die Pferde unter ſeinen Augen be⸗
halten
muͤſſe, und daß ich mich nicht unterſtehen
ſolle, ſie vom Hofe wegzufuͤhren. —
Hm! ſagte
Kohlhaas.
Was gabſt du darauf an? — Weil
der Verwalter ſprach, die beiden Gaͤſte wuͤrden 505
bloß uͤbernachten, und am andern Morgen weiter
reiten, ſo fuͤhrte ich die Pferde in den Schweine⸗
koben
hinein.
Aber der folgende Tag verfloß,
ohne daß es geſchah; und als der dritte anbrach,
hieß es, die Herren wuͤrden noch einige Wochen 510
auf der Burg verweilen. —
Am Ende wars
nicht ſo ſchlimm, Herſe, im Schweinekoben,
ſagte Kohlhaas, als es dir, da du zuerſt die Naſe
hineinſteckteſt, vorkam. —
S’ iſt wahr, erwie⸗
derte
jener.
Da ich den Ort ein Biſſel ausfegte, 515
gings an.
Ich gab der Magd einen Groſchen,
daß ſie die Schweine wo anders einſtecke.
Und
den Tag uͤber bewerkſtelligte ich auch, daß die
Pferde aufrecht ſtehen konnten, indem ich die
Bretter oben, wenn der Morgen daͤmmerte, von 520
den Latten abnahm, und Abends wieder auf⸗
legte
.
Sie guckten nun, wie Gaͤnſe, aus dem
24FaksimileDach vor, und ſahen ſich nach Kohlhaaſenbruͤck,
oder ſonſt, wo es beſſer iſt, um. —
Nun denn,
fragte Kohlhaas, warum alſo, in aller Welt, 525
jagte man dich fort? —
Herr, ich ſags euch,
verſetzte der Knecht, weil man meiner los ſeyn
wollte.
Weil ſie die Pferde, ſo lange ich dabei
war, nicht zu Grunde richten konnten.
Ueberall
ſchnitten ſie mir, im Hofe und in der Geſinde⸗530
ſtube
, widerwaͤrtige Geſichter; und weil ich
dachte, zieht ihr die Maͤuler, daß ſie verrenken,
ſo brachen ſie die Gelegenheit vom Zaune, und
warfen mich vom Hofe herunter. —
Aber die
Veranlaſſung! rief Kohlhaas.
Sie werden doch 535
irgend eine Veranlaſſung gehabt haben! —

O allerdings, antwortete Herſe, und die aller⸗
gerechteſte
.
Ich nahm, am Abend des zweiten
Tages, den ich im Schweinekoben zugebracht,
die Pferde, die ſich darin doch zugeſudelt hatten, 540
und wollte ſie zur Schwemme reiten.
Und da
ich eben unter dem Schloßthore bin, und mich
wenden will, hoͤr’ ich den Voigt und den Ver⸗
walter
, mit Knechten, Hunden und Pruͤgeln,
aus der Geſindeſtube, hinter mir herſtuͤrzen, 545
25Faksimileund: halt, den Spitzbuben! rufen: halt, den
Galgenſtrick! als ob ſie beſeſſen waͤren.
Der
Thorwaͤchter tritt mir in den Weg; und da ich
ihn und den raſenden Haufen, der auf mich an⸗
laͤuft
, frage: was auch giebt’s? was es giebt? 550
antwortet der Schloßvoigt; und greift meinen
beiden Rappen in den Zuͤgel.
Wo will er hin
mit den Pferden? fragt er, und packt mich an
die Bruſt.
Ich ſage, wo ich hin will? Him⸗
meldonner
!
Zur Schwemme will ich reiten. 555
Denkt er, daß ich — ? Zur Schwemme? ruft
der Schloßvoigt.
Ich will dich, Gauner, auf
der Heerſtraße, nach Kohlhaaſenbruͤck ſchwim⸗
men
lehren! und ſchmeißt mich, mit einem haͤ⸗
miſchen
Mordzug, er und der Verwalter, der 560
mir das Bein gefaßt hat, vom Pferd’ herunter,
daß ich mich, lang wie ich bin, in den Koth
meſſe.
Mord! Hagel! ruf’ ich, Sielzeug und
Decken liegen, und ein Buͤndel Waͤſche von mir,
im Stall; doch er und die Knechte, indeſſen 565
der Verwalter die Pferde wegfuͤhrt, mit Fuͤßen
und Peitſchen und Pruͤgeln uͤber mich her, daß
ich halbtodt hinter dem Schloßthor niederſinke.
26FaksimileUnd da ich ſage: die Raubhunde! Wo fuͤhren
ſie mir die Pferde hin? und mich erhebe: heraus 570
aus dem Schloßhof! ſchreit der Voigt, und:
hetz, Kaiſer! hetz, Jaͤger! erſchallt es, und:
hetz, Spitz! und eine Koppel von mehr denn
zwoͤlf Hunden faͤllt uͤber mich her.
Drauf brech’
ich, war es eine Latte, ich weiß nicht was, vom 575
Zaune, und drei Hunde todt ſtreck’ ich neben
mir nieder; doch da ich, von jaͤmmerlichen Zer⸗
fleiſchungen
gequaͤlt, weichen muß: Fluͤt! gellt
eine Pfeife; die Hunde in den Hof, die Thor⸗
fluͤgel
zuſammen, der Riegel vor: und auf der 580
Straße ohnmaͤchtig ſink’ ich nieder. —
Kohl⸗
haas
ſagte, bleich im Geſicht, mit erzwungener
Schelmerei: haſt du auch nicht entweichen wol⸗
len
, Herſe?
Und da dieſer, mit dunkler Roͤ⸗
the
, vor ſich niederſah: geſteh’ mir’s, ſagte er; 585
es gefiel dir im Schweinekoben nicht; du dach⸗
teſt
, im Stall zu Kohlhaaſenbruͤck iſt’s doch beſ⸗
ſer
. —
Himmelſchlag! rief Herſe: Sielzeug
und Decken ließ ich ja, und einen Buͤndel Waͤ⸗
ſche
, im Schweinekoben zuruͤck.
Wuͤrd’ ich drei 590
Reichsguͤlden nicht zu mir geſteckt haben, die ich,
27Faksimileim rothſeidnen Halstuch, hinter der Krippe ver⸗
ſteckt
hatte?
Blitz, Hoͤll’ und Teufel! Wenn
ihr ſo ſprecht, ſo moͤgt’ ich nur gleich den Schwe⸗
felfaden
, den ich wegwarf, wieder anzuͤnden!
595
Nun, nun! ſagte der Roßhaͤndler; es war eben
nicht boͤſe gemeint!
Was du geſagt haſt, ſchau,
Wort fuͤr Wort, ich glaub’ es dir; und das
Abendmahl, wenn es zur Sprache kommt, will
ich ſelbſt nun darauf nehmen.
Es thut mir leid, 600
daß es dir in meinen Dienſten nicht beſſer ergan⸗
gen
iſt; geh, Herſe, geh zu Bett, laß dir eine
Flache Flaſche Wein geben, und troͤſte dich: dir ſoll Ge⸗
rechtigkeit
widerfahren!
Und damit ſtand er
auf, fertigte ein Verzeichniß der Sachen an, die 605
der Großknecht im Schweinekoben zuruͤckgelaſ⸗
ſen
; ſpecificirte den Werth derſelben, fragte ihn
auch, wie hoch er die Kurkoſten anſchlage; und
ließ ihn, nachdem er ihm noch einmal die Hand
gereicht, abtreten.
610

Hierauf erzaͤhlte er Lisbeth, ſeiner Frau, den
ganzen Verlauf und inneren Zuſammenhang der
Geſchichte, erklaͤrte ihr, wie er entſchloſſen ſey,
die oͤffentliche Gerechtigkeit fuͤr ſich aufzufordern,
28Faksimileund hatte die Freude, zu ſehen, daß ſie ihn, in 615
dieſem Vorſatz, aus voller Seele beſtaͤrkte.
Denn
ſie ſagte, daß noch mancher andre Reiſende, viel⸗
leicht
minder duldſam, als er, uͤber jene Burg
ziehen wuͤrde; daß es ein Werk Gottes waͤre,
Unordnungen, gleich dieſen, Einhalt zu thun; 620
und daß ſie die Koſten, die ihm die Fuͤhrung des
Prozeſſes verurſachen wuͤrde, ſchon beitreiben
wolle.
Kohlhaas nannte ſie ſein wackeres Weib,
erfreute ſich dieſen und den folgenden Tag in
ihrer und ſeiner Kinder Mitte, und brach, ſo⸗625
bald
es ſeine Geſchaͤfte irgend zuließen, nach
Dresden auf, um ſeine Klage vor Gericht zu
bringen.

Hier verfaßte er, mit Huͤlfe eines Rechts⸗
gelehrten
, den er kannte, eine Beſchwerde, in 630
welcher er, nach einer umſtaͤndlichen Schilderung
des Frevels, den der Junker Wenzel von Tronka,
an ihm ſowohl, als an ſeinem Knecht Herſe,
veruͤbt hatte, auf geſetzmaͤßige Beſtrafung des⸗
ſelben
, Wiederherſtellung der Pferde in den vo⸗635
rigen
Stand, und auf Erſatz des Schadens an⸗
trug
, den er ſowohl, als ſein Knecht, dadurch
29Faksimileerlitten hatten.
Die Rechtsſache war in der
That klar.
Der Umſtand, daß die Pferde ge⸗
ſetzwidriger
Weiſe feſtgehalten worden waren, 640
warf ein entſcheidendes Licht auf alles Uebrige;
und ſelbſt wenn man haͤtte annehmen wollen,
daß die Pferde durch einen bloßen Zufall erkrankt
waͤren, ſo wuͤrde die Forderung des Roßkamms,
ſie ihm geſund wieder zuzuſtellen, noch gerecht 645
geweſen ſeyn.
Es fehlte Kohlhaas auch, waͤh⸗
rend
er ſich in der Reſidenz umſah, keineswegs
an Freunden, die ſeine Sache lebhaft zu unter⸗
ſtuͤtzen
verſprachen; der ausgebreitete Handel,
den er mit Pferden trieb, hatte ihm die Be⸗650
kanntſchaft
, und die Redlichkeit, mit welcher er
dabei zu Werke ging, ihm das Wohlwollen der
bedeutendſten Maͤnner des Landes verſchafft.
Er
ſpeiſete bei ſeinem Advocaten, der ſelbſt ein an⸗
ſehnlicher
Mann war, mehrere Mal heiter zu 655
Tiſch; legte eine Summe Geldes, zur Beſtrei⸗
tung
der Prozeßkoſten, bei ihm nieder; und
kehrte, nach Verlauf einiger Wochen, voͤllig von
demſelben uͤber den Auſgang ſeiner Rechtsſache
beruhigt, zu Lisbeth, ſeinem Weibe, nach Kohl⸗660
30Faksimilehaaſenbruͤck
zuruͤck.
Gleichwohl vergingen Mo⸗
nate
, und das Jahr war daran, abzuſchließen,
bevor er, von Sachſen aus, auch nur eine Er⸗
klaͤrung
uͤber die Klage, die er daſelbſt anhaͤn⸗
gig
gemacht hatte, geſchweige denn die Reſolu⸗665
tion
ſelbſt, erhielt.
Er fragte, nachdem er meh⸗
rere
Male von neuem bei dem Tribunal einge⸗
eingekommen
einge⸗
kommen
war, ſeinen Rechtsgehuͤlfen, in
einem vertrauten Briefe, was eine ſo uͤbergroße
Verzoͤgerung verurſache; und erfuhr, daß die 670
Klage, auf eine hoͤhere Inſinuation, bei dem
Dresdner Gerichtshofe, gaͤnzlich niedergeſchlagen
worden ſey. —
Auf die befremdete Ruͤckſchrift
des Roßkamms, worin dies ſeinen Grund habe,
meldete ihm jener: daß der Junker Wenzel von 675
Tronka mit zwei Jungherren, Hinz und Kunz
von Tronka, verwandt ſey, deren Einer, bei
der Perſon des Herrn, Mundſchenk, der Andre
gar Kaͤmmerer ſey. —
Er rieth ihm noch, er
moͤgte, ohne weitere Bemuͤhungen bei der 680
Rechtsinſtanz, ſeiner, auf der Tronkenburg be⸗
findlichen
, Pferde wieder habhaft zu werden
ſuchen; gab ihm zu verſtehen, daß der Junker,
31Faksimileder ſich jetzt in der Hauptſtadt aufhalte, ſeine
Leute angewieſen zu haben ſcheine, ſie ihm aus⸗685
zuliefern
; und ſchloß mit dem Geſuch, ihn wenig⸗
ſtens
, falls er ſich hiermit nicht beruhigen wolle, mit
ferneren Auftraͤgen in dieſer Sache zu verſchonen.

Kohlhaas befand ſich um dieſe Zeit gerade in
Brandenburg, wo der Stadthauptmann, Hein⸗690
rich
von Geuſau, unter deſſen Regierungsbezirk
Kohlhaaſenbruͤck gehoͤrte, eben beſchaͤftigt war,
aus einem betraͤchtlichen Fonds, der der Stadt
zugefallen war, mehrere wohlthaͤtige Anſtalten,
fuͤr Kranke und Arme, einzurichten.
Beſonders 695
war er bemuͤht, einen mineraliſchen Quell, der
auf einem Dorf in der Gegend ſprang, und von
deſſen Heilkraͤften man ſich mehr, als die Zu⸗
kunft
nachher bewaͤhrte, verſprach, fuͤr den Ge⸗
brauch
der Preßhaften einzurichten; und da 700
Kohlhaas ihm, wegen manchen Verkehrs, in
dem er, zur Zeit ſeines Aufenthalts am Hofe,
mit demſelben geſtanden hatte, bekannt war, ſo
erlaubte er Herſen, dem Großknecht, dem ein
Schmerz beim Athemholen uͤber der Bruſt, ſeit 705
jenem ſchlimmen Tage auf der Tronkenburg,
32Faksimilezuruͤckgeblieben war, die Wirkung der kleinen,
mit Dach und Einfaſſung verſehenen, Heilquelle
zu verſuchen.
Es traf ſich, daß der Stadthaupt⸗
mann
eben, am Rande des Keſſels, in welchen 710
Kohlhaas den Herſe gelegt hatte, gegenwaͤrtig
war, um einige Anordnungen zu treffen, als
jener, durch einen Boten, den ihm ſeine Frau
nachſchickte, den niederſchlagenden Brief ſeines
Rechtsgehuͤlfen aus Dresden empfing.
Der 715
Stadthauptmann, der, waͤhrend er mit dem
Arzte ſprach, bemerkte, daß Kohlhaas eine
Thraͤne auf den Brief, den er bekommen und
eroͤffnet hatte, fallen ließ, naͤherte ſich ihm, auf
eine freundliche und herzliche Weiſe, und fragte 720
ihn, was fuͤr ein Unfall ihn betroffen; und da
der Roßhaͤndler ihm, ohne ihm zu antworten,
den Brief uͤberreichte: ſo klopfte dieſer wuͤrdige
Mann, dem die abſcheullche abſcheuliche Ungerechtigkeit, die
man auf der Tronkenburg an ihm veruͤbt hatte, 725
und an deren Folgen Herſe eben, vielleicht auf
die Lebenszeit, krank danieder lag, bekannt war,
auf die Schulter, und ſagte ihm: er ſolle nicht
muthlos ſeyn; er werde ihm zu ſeiner Genug⸗
thuung33Faksimilethuung
verhelfen!
Am Abend, da ſich der Roß⸗730
kamm
, ſeinem Befehl gemaͤß, zu ihm auf’s
Schloß begeben hatte, ſagte er ihm, daß er nur
eine Supplik, mit einer kurzen Darſtellung des
Vorfalls, an den Kurfuͤrſten von Brandenburg
aufſetzen, den Brief des Advocaten beilegen, 735
und wegen der Gewaltthaͤtigkeit, die man ſich,
auf ſaͤchſiſchem Gebiet, gegen ihn erlaubt, den
landesherrlichen Schutz aufrufen moͤgte.
Er
verſprach ihm, die Bittſchrift, unter einem an⸗
deren
Paket, das ſchon bereit liege, in die Haͤnde 740
des Kurfuͤrſten zu bringen, der ſeinethalb unfehl⸗
bar
, wenn es die Verhaͤltniſſe zuließen, bei dem
Kurfuͤrſten von Sachſen einkommen wuͤrde; und
mehr als eines ſolchen Schrittes beduͤrfe es nicht,
um ihm bei dem Tribunal in Dresden, den 745
Kuͤnſten des Junkers und ſeines Anhanges zum
Trotz, Gerechtigkeit zu verſchaffen.
Kohlhaas,
lebhaft erfreut, dankte dem Stadthauptmann,
fuͤr dieſen neuen Beweis ſeiner Gewogenheit,
aufs herzlichſte; ſagte, es thue ihm nur leid, 750
daß er nicht, ohne irgend Schritte in Dresden
zu thun, ſeine Sache gleich in Berlin anhaͤngig
Kleiſts Erzaͤhl. C34Faksimilegemacht habe; und nachdem er, in der Schrei⸗
berei
des Stadtgerichts, die Beſchwerde, ganz
den Forderungen gemaͤß, verfaßt, und dem 755
Stadthauptmann uͤbergeben hatte, kehrte er, be⸗
ruhigter
uͤber den Ausgang ſeiner Geſchichte, als
je, nach Kohlhaaſenbruͤck zuruͤck.
Er hatte aber
ſchon, in wenig Wochen, den Kummer, durch
einen Gerichtsherrn, der in Geſchaͤften des 760
Stadthauptmanns nach Potsdam ging, zu er⸗
fahren
, daß der Kurfuͤrſt die Supplik ſeinem
Kanzler, dem Grafen Kallheim, uͤbergeben
habe, und daß dieſer nicht unmittelbar, wie es
zweckmaͤßig ſchien, bei dem Hofe zu Dresden, 765
um Unterſuchung und Beſtrafung der Gewalt⸗
that
, ſondern um vorlaͤufige, naͤhere Informa⸗
tion
bei dem Junker von Tronka eingekommen
ſey.
Der Gerichtsherr, der, vor Kohlhaaſens
Wohnung, im Wagen haltend, den Auftrag zu 770
haben ſchien, dem Roßhaͤndler dieſe Eroͤffnung
zu machen, konnte ihm auf die betroffene Frage:
warum man alſo verfahren? keine befriedigende
Auskunft geben.
Er fuͤgte nur noch hinzu: der
Stadthauptmann ließe ihm ſagen, er moͤgte 775
35Faksimileſich in Geduld faſſen; ſchien bedraͤngt, ſeine
Reiſe fortzuſetzen; und erſt am Schluß der kur⸗
zen
Unterredung errieth Kohlhaas, aus einigen
hingeworfenen Worten, daß der Graf Kall⸗
heim
mit dem Hauſe derer von Tronka verſchwaͤ⸗780
gert
ſey. —
Kohlhaas, der keine Freude mehr,
weder an ſeiner Pferdezucht, noch an Haus und
Hof, kaum an Weib und Kind hatte, durch⸗
harrte
, in truͤber Ahndung der Zukunft, den
naͤchſten Mond; und ganz ſeiner Erwartung ge⸗785
maͤß
kam, nach Verlauf dieſer Zeit, Herſe, dem
das Bad einige Linderung verſchafft hatte, von
Brandenburg zuruͤck, mit einem, ein groͤßeres
Reſcript begleitenden, Schreiben des Stadt⸗
hauptmanns
, des Inhalts: es thue ihm leid, 790
daß er nichts in ſeiner Sache thun koͤnne; er
ſchicke ihm eine, an ihn ergangene, Reſolution
der Staatskanzlei, und rathe ihm, die Pferde,
die er in der Tronkenburg zuruͤckgelaſſen, wieder
abfuͤhren, und die Sache uͤbrigens ruhen zu laſ⸗795
ſen
. —
Die Reſolution lautete: „er ſey, nach
dem Bericht des Tribunals in Dresden, ein un⸗
nuͤtzer
Quaͤrulant; der Junker, bei dem er die
C 236Faksimile die Pferde Pferde Durch Seitenumbruch entſtandene Dopplung von ›die‹. zuruͤckgelaſſen, halte ihm dieſelben,
auf keine Weiſe, zuruͤck; er moͤgte nach der 800
Burg ſchicken, und ſie holen, oder dem Jun⸗
ker
wenigſtens wiſſen laſſen, wohin er ſie ihm
ſenden ſolle; die Staatskanzlei aber, auf jeden
Fall, mit ſolchen Plackereien und Staͤnke⸗
reien
verſchonen.“
Kohlhaas, dem es nicht um 805
die Pferde zu thun war — er haͤtte gleichen
Schmerz empfunden, wenn es ein Paar Hunde
gegolten haͤtte — Kohlhaas ſchaͤumte vor Wuth,
als er dieſen Brief empfing.
Er ſah, ſo oft
ſich ein Geraͤuſch im Hofe hoͤren ließ, mit der 810
widerwaͤrtigſten Erwartung, die ſeine Bruſt je⸗
mals
bewegt hatte, nach dem Thorwege, ob die
Leute des Jungherren erſcheinen, und ihm, viel⸗
leicht
gar mit einer Entſchuldigung, die Pferde,
abgehungert und abgehaͤrmt, wieder zuſtellen 815
wuͤrden; der einzige Fall, in welchem ſeine von
der Welt wohlerzogene Seele, auf nichts das
ihrem Gefuͤhl voͤllig entſprach gefaßt war.
Er
hoͤrte aber in kurzer Zeit ſchon, durch einen Be⸗
kannten
, der die Straße gereiſet war, daß die 820
Gaule auf der Tronkenburg, nach wie vor, den
37Faksimileuͤbrigen Pferden des Landjunkers gleich, auf dem
Felde gebraucht wuͤrden; und mitten durch den
Schmerz, die Welt in einer ſo ungeheuren Un⸗
ordnung
zu erblicken, zuckte die innerliche Zu⸗825
friedenheit
empor, ſeine eigne Bruſt nunmehr in
Ordnung zu ſehen.
Er lud einen Amtmann,
ſeinen Nachbar, zu ſich, der laͤngſt mit dem
Plan umgegangen war, ſeine Beſitzungen durch
den Ankauf der, ihre Graͤnze beruͤhrenden, Grund⸗830
ſtuͤcke
zu vergroͤßern, und fragte ihn, nachdem
ſich derſelbe bei ihm niedergelaſſen, was er fuͤr
ſeine Beſitzungen, im Brandenburgiſchen und
im Saͤchſiſchen, Haus und Hof, in Pauſch und
Bogen, es ſey nagelfeſt oder nicht, geben wolle?
835
Lisbeth, ſein Weib, erblaßte bei dieſen Worten.
Sie wandte ſich, und hob ihr Juͤngſtes auf, das
hinter ihr auf dem Boden ſpielte, Blicke, in
welchen ſich der Tod malte, bei den rothen Wan⸗
gen
des Knaben vorbei, der mit ihren Halsbaͤn⸗840
dern
ſpielte, auf den Roßkamm, und ein Pa⸗
pier
werfend, das er in der Hand hielt.
Der
Amtmann fragte, indem er ihn befremdet an⸗
ſah
, was ihn ploͤtzlich auf ſo ſonderbare Gedan⸗
38Faksimileken
bringe; worauf jener, mit ſo viel Heiterkeit, 845
als er erzwingen konnte, erwiederte: der Ge⸗
danke
, ſeinen Meierhof, an den Ufern der Ha⸗
vel
, zu verkaufen, ſey nicht allzuneu; ſie haͤtten
beide ſchon oft uͤber dieſen Gegenſtand verhan⸗
delt
; ſein Haus in der Vorſtadt in Dresden ſey, 850
in Vergleich damit, ein bloßer Anhang, der nicht
in Erwaͤgung komme; und kurz, wenn er ihm
ſeinen Willen thun, und beide Grundſtuͤcke uͤber⸗
nehmen
wolle, ſo ſey er bereit, den Contract
daruͤber mit ihm abzuſchließen.
Er ſetzte, mit 855
einem etwas erzwungenen Scherz hinzu, Kohl⸗
haaſenbruͤck
ſey ja nicht die Welt; es koͤnne
Zwecke geben, in Vergleich mit welchen, ſeinem
Hausweſen, als ein ordentlicher Vater, vorzu⸗
ſtehen
, untergeordnet und nichtswuͤrdig ſey; 860
und kurz, ſeine Seele, muͤſſe er ihm ſagen, ſey
auf große Dinge geſtellt, von welchen er vielleicht
bald hoͤren werde.
Der Amtmann, durch dieſe
Worte beruhigt, ſagte, auf eine luſtige Art, zur
Frau, die das Kind einmal uͤber das andere 865
kuͤßte: er werde doch nicht gleich Bezahlung ver⸗
langen
? legte Huth und Stock, die er zwiſchen
39Faksimileden Knieen gehalten hatte, auf den Tiſch, und
nahm das Blatt, das der Roßkamm in der
Hand hielt, um es zu durchleſen.
Kohlhaas, 870
indem er demſelben naͤher ruͤckte, erklaͤrte ihm,
daß es ein von ihm aufgeſetzter eventueller in
vier Wochen verfallener Kaufcontract ſey; zeigte
ihm, daß darin nichts fehle, als die Unterſchrif⸗
ten
, und die Einruͤckung der Summen, ſowohl 875
was den Kaufpreis ſelbſt, als auch den Reukauf,
d. h. die Leiſtung betreffe, zu der er ſich, falls
er binnen vier Wochen zuruͤcktraͤte, verſtehen
wolle; und forderte ihn noch einmal munter auf,
ein Gebot zu thun, indem er ihm verſicherte, daß 880
er billig ſeyn, und keine großen Umſtaͤnde ma⸗
chen
wuͤrde.
Die Frau ging in der Stube auf
und ab; ihre Bruſt flog, daß das Tuch, an
welchem der Knabe gezupft hatte, ihr voͤllig von
der Schulter herabzufallen drohte.
Der Amt⸗885
mann
ſagte, daß er ja den Werth der Beſitzung
in Dresden keineswegs beurtheilen koͤnne; wor⸗
auf
ihm Kohlhaas, Briefe, die bei ihrem An⸗
kauf
gewechſelt worden waren, hinſchiebend,
antwortete: daß er ſie zu 100 Goldguͤlden an⸗890
40Faksimileſchlage;
obſchon daraus hervorgieng, daß ſie
ihm faſt um die Haͤlfte mehr gekoſtet hatten.

Der Amtmann, der den Kaufcontract noch ein⸗
mal
uͤberlas, und darin auch von ſeiner Seite,
auf eine ſonderbare Art, die Freiheit ſtipulirt 895
fand, zuruͤckzutreten, ſagte, ſchon halb entſchloſ⸗
ſen
: daß er ja die Geſtuͤtpferde, die in ſeinen
Staͤllen waͤren, nicht brauchen koͤnne; doch da
Kohlhaas erwiederte, daß er die Pferde auch gar
nicht loszuſchlagen willens ſey, und daß er auch 900
einige Waffen, die in der Ruͤſtkammer hingen,
fuͤr ſich behalten wolle, ſo — zoͤgerte jener noch
und zoͤgerte, und wiederholte endlich ein Gebot,
das er ihm vor kurzem ſchon einmal, halb im
Scherz, halb im Ernſt, nichtswuͤrdig gegen den 905
Werth der Beſitzung, auf einem Spaziergange
gemacht hatte.
Kohlhaas ſchob ihm Tinte und
Feder hin, um zu ſchreiben; und da der Amt⸗
mann
, der ſeinen Sinnen nicht traute, ihn noch
einmal gefragt hatte, ob es ſein Ernſt ſey? und 910
der Roßkamm ihm ein wenig empfindlich geant⸗
wortet
hatte: ob er glaube, daß er bloß ſeinen
Scherz mit ihm treibe? ſo nahm jener zwar, mit
41Faksimileeinem bedenklichen Geſicht, die Feder, und
ſchrieb; dagegen durchſtrich er den Punct, in 915
welchem von der Leiſtung, falls dem Verkaͤufer
der Handel gereuen ſollte, die Rede war; ver⸗
pflichtete
ſich, zu einem Darlehn von 100 Gold⸗
guͤlden
, auf die Hypothek des Dresdenſchen
Grundſtuͤcks, das er auf keine Weiſe kaͤuflich an 920
ſich bringen wollte; und ließ ihm, binnen zwei
Monaten voͤllige Freiheit, von dem Handel wie⸗
der
zuruͤckzutreten.
Der Roßkamm, von dieſem
Verfahren geruͤhrt, ſchuͤttelte ihm mit vieler Herz⸗
lichkeit
die Hand; und nachdem ſie noch, welches 925
eine Hauptbedingung war, uͤbereingekommen
waren, daß des Kaufpreiſes vierter Theil un⸗
fehlbar
gleich baar, und der Reſt, in drei Mo⸗
naten
, in der Hamburger Bank, gezahlt wer⸗
den
ſollte, rief jener nach Wein, um ſich eines 930
ſo gluͤcklich abgemachten Geſchaͤfts zu erfreuen.

Er ſagte einer Magd, die mit den Flaſchen her⸗
eintrat
, Sternbald, der Knecht, ſolle ihm den
Fuchs ſatteln; er muͤſſe, gab er an, nach der
Hauptſtadt reiten, wo er Verrichtungen habe; 935
und gab zu verſtehen, daß er in Kurzem, wenn
42Faksimileer zuruͤckkehre, ſich offenherziger uͤber das, was
er jetzt noch fuͤr ſich behalten muͤſſe, auslaſſen
wuͤrde.
Hierauf, indem er die Glaͤſer einſchenk⸗
te
, fragte er nach dem Pohlen und Tuͤrken, die 940
gerade damals mit einander im Streit lagen;
verwickelte den Amtmann in mancherlei politiſche
Conjecturen daruͤber; trank ihm ſchluͤßlich hierauf
noch einmal das Gedeihen ihres Geſchaͤfts zu, und
entließ ihn. —
Als der Amtmann das Zimmer 945
verlaſſen hatte, fiel Lisbeth auf Knieen vor ihm
nieder.
Wenn du mich irgend, rief ſie, mich
und die Kinder, die ich dir geboren habe, in dei⸗
nem
Herzen traͤgſt; wenn wir nicht im Voraus
ſchon, um welcher Urſach willen, weiß ich nicht, 950
verſtoßen ſind: ſo ſage mir, was dieſe entſetzli⸗
chen
Anſtalten zu bedeuten haben!
Kohlhaas
ſagte: liebſtes Weib, nichts, das dich noch, ſo
wie die Sachen ſtehn, beunruhigen duͤrfte.
Ich
habe eine Reſolution erhalten, in welcher man 955
mir ſagt, daß meine Klage gegen den Junker
Wenzel von Tronka eine nichtsnutzige Staͤnkerei
ſey.
Und weil hier ein Mißverſtaͤndniß obwal⸗
ten
muß: ſo habe ich mich entſchloſſen, meine
43FaksimileKlage noch einmal, perſoͤnlich bei dem Landes⸗960
herrn
ſelbſt, einzureichen. —
Warum willſt du
dein Haus verkaufen? rief ſie, indem ſie mit
einer verſtoͤrten Gebaͤhrde, aufſtand.
Der Roß⸗
kamm
, indem er ſie ſanft an ſeine Bruſt druͤckte,
erwiederte: weil ich in einem Lande, liebſte Lis⸗965
beth
, in welchem man mich, in meinen Rechten,
nicht ſchuͤtzen will, nicht bleiben mag.
Lieber
ein Hund ſeyn, wenn ich von Fuͤßen getreten
werden ſoll, als ein Menſch!
Ich bin gewiß,
daß meine Frau hierin ſo denkt, als ich. —
970
Woher weißt du, fragte jene wild, daß man
dich in deinen Rechten nicht ſchuͤtzen wird?

Wenn du dem Herrn beſcheiden, wie es dir zu⸗
kommt
, mit deiner Bittſchrift nahſt: woher
weißt du, daß ſie bei Seite geworfen, oder mit 975
Verweigerung, dich zu hoͤren, beantwortet wer⸗
den
wird? —
Wohlan, antwortete Kohlhaas,
wenn meine Furcht hierin ungegruͤndet iſt, ſo iſt
auch mein Haus noch nicht verkauft.
Der Herr
ſelbſt, weiß ich, iſt gerecht; und wenn es mir 980
nur gelingt, durch die, die ihn umringen, bis
an ſeine Perſon zu kommen, ſo zweifle ich nicht,
44Faksimileich verſchaffe mir Recht, und kehre froͤhlich, noch
ehe die Woche verſtreicht, zu dir und meinen
alten Geſchaͤften zuruͤck.
Moͤgt’ ich alsdann 985
noch, ſetzt’ er hinzu, indem er ſie kuͤßte, bis an
das Ende meines Lebens bei dir verharren! —

Doch rathſam iſt es, fuhr er fort, daß ich mich
auf jeden Fall gefaßt mache; und daher wuͤnſchte
ich, daß du dich, auf einige Zeit, wenn es ſeyn 990
kann, entfernteſt, und mit den Kindern zu dei⸗
ner
Muhme nach Schwerin gingſt, die du uͤber⸗
dies
laͤngſt haſt beſuchen wollen. —
Wie? rief
die Hausfrau.
Ich ſoll nach Schwerin gehen?
Ueber die Graͤnze mit den Kindern, zu meiner 995
Muhme nach Schwerin?
Und das Entſetzen
erſtickte ihr die Sprache. —
Allerdings, ant⸗
wortete
Kohlhaas, und das, wenn es ſeyn kann,
gleich, damit ich in den Schritten, die ich fuͤr
meine Sache thun will, durch keine Ruͤckſichten 1000
geſtoͤrt werde. —
„O! ich verſtehe dich!“ rief
ſie.
„Du brauchſt jetzt nichts mehr, als Waf⸗
fen
und Pferde; alles Andere kann nehmen, wer
will!“
Und damit wandte ſie ſich, warf ſich
auf einen Seſſel nieder, und weinte. —
Kohl⸗1005
45Faksimilehaas
ſagte betroffen: liebſte Lisbeth, was machſt
du?
Gott hat mich mit Weib und Kindern und
Guͤtern geſegnet; ſoll ich heute zum Erſtenmal
wuͤnſchen, daß es anders waͤre? — — —
Er
ſetzte ſich zu ihr, die ihm, bei dieſen Worten, 1010
erroͤthend um den Hals gefallen war, freundlich
nieder. —
Sag’ mir an, ſprach er, indem er
ihr die Locken von der Stirne ſtrich: was ſoll
ich thun?
Soll ich meine Sache aufgeben?
Soll ich nach der Tronkenburg gehen, und den 1015
Ritter bitten, daß er mir die Pferde wieder gebe,
mich aufſchwingen, und ſie dir herreiten? —
Lis⸗
beth
wagte nicht: ja! ja! ja! zu ſagen — ſie
ſchuͤttelte weinend mit dem Kopf, ſie druͤckte ihn
heftig an ſich, und uͤberdeckte mit heißen Kuͤſſen 1020
ſeine Bruſt.
„Nun alſo!“ rief Kohlhaas.
„Wenn du fuͤhlſt, daß mir, falls ich mein Ge⸗
werbe
forttreiben ſoll, Recht werden muß: ſo
goͤnne mir auch die Freiheit, die mir noͤthig iſt,
es mir zu verſchaffen!
Und damit ſtand er auf, 1025
und ſagte dem Knecht, der ihm meldete, daß der
Fuchs geſattelt ſtuͤnde: morgen muͤßten auch die
Braunen eingeſchirrt werden, um ſeine Frau
46Faksimilenach Schwerin zu fuͤhren.
Lisbeth ſagte: ſie
habe einen Einfall!
Sie erhob ſich, wiſchte ſich 1030
die Thraͤnen aus den Augen, und fragte ihn, der
ſich an einem Pult niedergeſetzt hatte: ob er ihr die
Bittſchrift geben, und ſie, ſtatt ſeiner, nach
Berlin gehen laſſen wolle, um ſie dem Landes⸗
herrn
zu uͤberreichen.
Kohlhaas, von dieſer Wen⸗1035
dung
, um mehr als einer Urſach willen, geruͤhrt,
zog ſie auf ſeinen Schooß nieder, und ſprach:
liebſte Frau, das iſt nicht wohl moͤglich!
Der
Landesherr iſt vielfach umringt, mancherlei Ver⸗
drießlichkeiten
iſt der auſgeſetzt, der ihm naht.
1040
Lisbeth verſetzte, daß es in tauſend Faͤllen einer
Frau leichter ſey, als einem Mann, ihm zu na⸗
hen
.
Gieb mir die Bittſchrift, wiederholte ſie;
und wenn du weiter nichts willſt, als ſie in ſei⸗
nen
Haͤnden wiſſen, ſo verbuͤrge ich mich dafuͤr: 1045
er ſoll ſie bekommen!
Kohlhaas, der von ihrem
Muth ſowohl, als ihrer Klugheit, mancherlei
Proben hatte, fragte, wie ſie es denn anzuſtel⸗
len
denke; worauf ſie, indem ſie verſchaͤmt vor
ſich niederſah, erwiederte: daß der Caſtellan des 1050
kurfuͤrſtlichen Schloſſes, in fruͤheren Zeiten, da
47Faksimileer zu Schwerin in Dienſten geſtanden, um ſie
geworben habe; daß derſelbe zwar jetzt verheira⸗
thet
ſey, und mehrere Kinder habe; daß ſie aber
immer noch nicht ganz vergeſſen waͤre; — und 1055
kurz, daß er es ihr nur uͤberlaſſen moͤgte, aus
dieſem und manchem andern Umſtand, der zu
beſchreiben zu weitlaͤufig waͤre, Vortheil zu zie⸗
hen
.
Kohlhaas kuͤßte ſie mit vieler Freude, ſag⸗
te
, daß er ihren Vorſchlag annaͤhme, belehrte 1060
ſie, daß es weiter nichts beduͤrfe, als einer Woh⸗
nung
bei der Frau desſelben, um den Landes⸗
herrn
, im Schloſſe ſelbſt, anzutreten, gab ihr
die Bittſchrift, ließ die Braunen anſpannen,
und ſchickte ſie mit Sternbald, ſeinem treuen 1065
Knecht, wohleingepackt ab.

Dieſe Reiſe war aber von allen erfolgloſen
Schritten, die er in ſeiner Sache gethan hatte, der
allerungluͤcklichſte.
Denn ſchon nach wenig Ta⸗
gen
zog Sternbald in den Hof wieder ein, Schritt 1070
vor Schritt den Wagen fuͤhrend, in welchem
die Frau, mit einer gefaͤhrlichen Quetſchung an
der Bruſt, ausgeſtreckt darnieder lag.
Kohl⸗
haas
, der bleich an das Fuhrwerk trat, konnte
48Faksimilenichts Zuſammenhaͤngendes uͤber das, was die⸗1075
ſes
Ungluͤck verurſacht hatte, erfahren.
Der
Caſtellan war, wie der Knecht ſagte, nicht zu
Hauſe geweſen; man war alſo genoͤthigt worden,
in einem Wirthshauſe, das in der Naͤhe des
Schloſſes lag, abzuſteigen; dies Wirthshaus 1080
hatte Lisbeth am andern Morgen verlaſſen,
und dem Knecht befohlen, bei den Pferden zu⸗
ruͤckzubleiben
; und eher nicht, als am Abend,
ſey ſie, in dieſem Zuſtand, zuruͤckgekommen.

Es ſchien, ſie hatte ſich zu dreiſt an die Perſon 1085
des Landesherrn vorgedraͤngt, und, ohne Ver⸗
ſchulden
desſelben, von dem bloßen rohen Eifer
einer Wache, die ihn umringte, einen Stoß,
mit dem Schaft einer Lanze, vor die Bruſt er⸗
halten
.
Wenigſtens berichteten die Leute ſo, die 1090
ſie, in bewußtloſem Zuſtand, gegen Abend in
den Gaſthof brachten; denn ſie ſelbſt konnte,
von aus dem Mund vorquellendem Blute gehin⸗
dert
, wenig ſprechen.
Die Bittſchrift war ihr
nachher durch einen Ritter abgenommen worden.
1095
Sternbald ſagte, daß es ſein Wille geweſen ſey,
ſich gleich auf ein Pferd zu ſetzen, und ihm von
dieſem49Faksimiledieſem ungluͤcklichen Vorfall Nachricht zu geben;
doch ſie habe, trotz der Vorſtellungen des herbei⸗
gerufenen
Wundarztes, darauf beſtanden, ohne 1100
alle vorgaͤngige Benachrichtigungen, zu ihrem
Manne nach Kohlhaaſenbruͤck abgefuͤhrt zu wer⸗
den
.
Kohlhaas brachte ſie, die von der Reiſe
voͤllig zu Grunde gerichtet worden war, in ein
Bett, wo ſie, unter ſchmerzhaften Bemuͤhun⸗1105
gen
, Athem zu holen, noch einige Tage lebte.

Man verſuchte vergebens, ihr das Bewußtſeyn
wieder zu geben, um uͤber das, was vorgefallen
war, einige Aufſchluͤſſe zu erhalten; ſie lag, mit
ſtarrem, ſchon gebrochenen Auge, da, und ant⸗1110
wortete
nicht.
Nur kurz vor ihrem Tode kehrte
ihr noch einmal die Beſinnung wieder.
Denn
da ein Geiſtlicher lutheriſcher Religion (zu wel⸗
chem
eben damals aufkeimenden Glauben ſie ſich,
nach dem Beiſpiel ihres Mannes, bekannt hatte) 1115
neben ihrem Bette ſtand, und ihr mit lauter
und empfindlich-feierlicher empfindlich feierlicher Stimme, ein Capitel
aus der Bibel vorlas: ſo ſah ſie ihn ploͤtzlich, mit
einem finſtern Ausdruck, an, nahm ihm, als
ob ihr daraus nichts vorzuleſen waͤre, die Bibel 1120
Kleiſts Erzaͤhl. D50Faksimileaus der Hand, blaͤtterte und blaͤtterte, und
ſchien etwas darin zu ſuchen; und zeigte dem
Kohlhaas, der an ihrem Bette ſaß, mit dem
Zeigefinger, den Vers: „Vergieb deinen Fein⸗
den
; thue wohl auch denen, die dich haſſen.“ —
1125
Sie druͤckte ihm dabei mit einem uͤberaus ſeelen⸗
vollen
Blick die Hand, und ſtarb. —
Kohlhaas
dachte: „ſo moͤge mir Gott nie vergeben, wie
ich dem Junker vergebe!“ kuͤßte ſie, indem ihm
haͤufig die Thraͤnen floſſen, druͤckte ihr die Augen 1130
zu, und verließ das Gemach.
Er nahm die hun⸗
dert
Goldguͤlden, die ihm der Amtmann ſchon,
fuͤr die Staͤlle in Dresden, zugefertigt hatte,
und beſtellte ein Leichenbegaͤngniß, das weniger
fuͤr ſie, als fuͤr eine Fuͤrſtinn, angeordnet ſchien: 1135
ein eichener Sarg, ſtark mit Metall beſchlagen,
Kiſſen von Seide, mit goldnen und ſilbernen
Troddeln, und ein Grab von acht Ellen Tiefe,
mit Feldſteinen gefuͤttert und Kalk.
Er ſtand
ſelbſt, ſein Juͤngſtes auf dem Arm, bei der 1140
Gruft, und ſah der Arbeit zu.
Als der Begraͤb⸗
nißtag
kam, ward die Leiche, weiß wie Schnee,
in einen Saal aufgeſtellt, den er mit ſchwarzem
51FaksimileTuch hatte beſchlagen laſſen.
Der Geiſtliche
hatte eben eine ruͤhrende Rede an ihrer Bahre 1145
vollendet, als ihm die landesherrliche Reſolution
auf die Bittſchrift zugeſtellt ward, welche die
Abgeſchiedene uͤbergeben hatte, des Inhalts: er
ſolle die Pferde von der Tronkenburg abholen,
und bei Strafe, in das Gefaͤngniß geworfen zu 1150
werden, nicht weiter in dieſer Sache einkom⸗
men
.
Kohlhaas ſteckte den Brief ein, und ließ
den Sarg auf den Wagen bringen.
Sobald der
Huͤgel geworfen, das Kreuz darauf gepflanzt,
und die Gaͤſte, die die Leiche beſtattet hatten, 1155
entlaſſen waren, warf er ſich noch einmal vor
ihrem, nun veroͤdeten Bette nieder, und uͤber⸗
nahm
ſodann das Geſchaͤft der Rache.
Er ſetzte
ſich nieder und verfaßte einen Rechtsſchluß, in
welchem er den Junker Wenzel von Tronka, 1160
kraft der ihm angeborenen Macht, verdammte,
die Rappen, die er ihm abgenommen, und auf
den Feldern zu Grunde gerichtet, binnen drei
Tagen nach Sicht, nach Kohlhaaſenbruͤck zu
fuͤhren, und in Perſon in ſeinen Staͤllen dick 1165
zu fuͤttern.
Dieſen Schluß ſandte er durch einen
D 252Faksimilereitenden Boten an ihn ab, und inſtruirte den⸗
ſelben
, flugs nach Uebergabe des Papiers, wie⸗
der
bei ihm in Kohlhaaſenbruͤck zu ſeyn.
Da die
drei Tage, ohne Ueberlieferung der Pferde, ver⸗1170
floſſen
, ſo rief er Herſen; eroͤffnete ihm, was er
dem Jungherrn, die Dickfuͤtterung derſelben an⸗
betreffend
, aufgegeben; fragte ihn zweierlei, ob
er mit ihm nach der Tronkenburg reiten und den
Jungherrn holen; auch, ob er uͤber den Herge⸗1175
holten
, wenn er bei Erfuͤllung des Rechtsſchluſ⸗
ſes
, in den Staͤllen von Kohlhaaſenbruͤck, faul
ſey, die Peitſche fuͤhren wolle? und da Herſe,
ſo wie er ihn nur verſtanden hatte: „Herr, heute
noch!“ aufjauchzte, und, indem er die Muͤtze 1180
in die Hoͤhe warf, verſicherte: einen Riemen,
mit zehn Knoten, um ihm das Striegeln zu leh⸗
ren
, laſſe er ſich flechten! ſo verkaufte Kohlhaas
das Haus, ſchickte die Kinder, in einen Wagen
gepackt, uͤber die Graͤnze; rief, bei Anbruch der 1185
Nacht, auch die uͤbrigen Knechte zuſammen,
ſieben an der Zahl, treu ihm jedweder, wie
Gold; bewaffnete und beritt ſie, und brach
nach der Tronkenburg auf.

53Faksimile

Er fiel auch, mit dieſem kleinen Haufen, 1190
ſchon, beim Einbruch der dritten Nacht, den
Zollwaͤrter und Thorwaͤchter, die im Geſpraͤch
unter dem Thor ſtanden, niederreitend, in die
Burg, und waͤhrend, unter ploͤtzlicher Aufpraſ⸗
ſelung
aller Baraken im Schloßraum, die ſie 1195
mit Feuer bewarfen, Herſe, uͤber die Windel⸗
treppe
, in den Thurm der Voigtei eilte, und den
Schloßvoigt und Verwalter, die, halb entkleidet,
beim Spiel ſaßen, mit Hieben und Stichen
uͤberfiel, ſtuͤrzte Kohlhaas zum Junker Wenzel 1200
ins Schloß.
Der Engel des Gerichts faͤhrt alſo
vom Himmel herab; und der Junker, der eben,
unter vielem Gelaͤchter, dem Troß junger Freun⸗
de
, der bei ihm war, den Rechtsſchluß, den ihm
der Roßkamm uͤbermacht hatte, vorlas, hatte 1205
nicht ſobald deſſen Stimme im Schloßhof ver⸗
nommen
: als er den Herren ſchon, ploͤtzlich lei⸗
chenbleich
: Bruͤder, rettet euch! zurief, und ver⸗
ſchwand
.
Kohlhaas, der, beim Eintritt in den
Saal, einen Junker Hans von Tronka, der 1210
ihm entgegen kam, bei der Bruſt faßte, und in
den Winkel des Saals ſchleuderte, daß er ſein
54FaksimileHirn an den Steinen verſpruͤtzte, fragte, waͤhrend
die Knechte die anderen Ritter, die zu den
Waffen gegriffen hatten, uͤberwaͤltigten, und 1215
zerſtreuten: wo der Junker Wenzel von Tronka
ſey?
Und da er, bei der Unwiſſenheit der betaͤub⸗
ten
Maͤnner, die Thuͤren zweier Gemaͤcher, die
in die Seitenfluͤgel des Schloſſes fuͤhrten, mit
einem Fußtritt ſprengte, und in allen Richtun⸗1220
gen
, in denen er das weitlaͤufige Gebaͤude durch⸗
kreuzte
, niemanden fand, ſo ſtieg er fluchend in
den Schloßhof hinab, um die Ausgaͤnge beſetzen
zu laſſen.
Inzwiſchen war, vom Feuer der
Baraken ergriffen, nun ſchon das Schloß, mit 1225
allen Seitengebaͤuden, ſtarken Rauch gen Him⸗
mel
qualmend, angegangen, und waͤhrend Stern⸗
bald
, mit drei geſchaͤftigen Knechten, Alles,
was niet- und nagelfeſt war, zuſammenſchlepp⸗
ten
, und zwiſchen den Pferden, als gute Beu⸗1230
te
, umſtuͤrzten, flogen, unter dem Jubel Her⸗
ſens
, aus den offenen Fenſtern der Voigtei, die
Leichen des Schloßvoigts und Verwalters, mit
Weib und Kindern, herab.
Kohlhaas, dem
ſich, als er die Treppe vom Schloß niederſtieg, 1235
55Faksimiledie alte, von der Gicht geplagte Haushaͤlte⸗
rinn
, die dem Junker die Wirthſchaft fuͤhrte,
zu Fuͤßen warf, fragte ſie, indem er auf der
Stufe ſtehen blieb: wo der Junker Wenzel von
Tronka ſey? und da ſie ihm, mit ſchwacher, 1240
zitternder Stimme, zur Antwort gab: ſie glau⸗
be
, er habe ſich in die Kapelle gefluͤchtet; ſo
rief er zwei Knechte mit Fackeln, ließ, in Er⸗
mangelung
der Schluͤſſel, den Eingang mit
Brechſtangen und Beilen eroͤffnen, kehrte Al⸗1245
taͤre
und Baͤnke um, und fand gleichwohl, zu
ſeinem grimmigen Schmerz, den Junker nicht.

Es traf ſich, daß ein junger, zum Geſinde de der
Tronkenburg gehoͤriger Knecht, in dem Augen⸗
blick
, da Kohlhaas aus der Kapelle zuruͤckkam, 1250
herbeieilte, um aus einem weitlaͤufigen, ſteiner⸗
nen
Stall, den die Flamme bedrohte, die
Streithengſte des Junkers herauszuziehen.
Kohl⸗
haas
, der, in eben dieſem Augenblick, in einem
kleinen, mit Stroh bedeckten Schuppen, ſeine 1255
beiden Rappen erblickte, fragte den Knecht:
warum er die Rappen nicht rette? und da die⸗
ſer
, indem er den Schluͤſſel in die Stallthuͤr
56Faksimileſteckte, antwortete: der Schuppen ſtehe ja ſchon
in Flammen; ſo warf Kohlhaas den Schluͤſſel, 1260
nachdem er ihn mit Heftigkeit aus der Stallthuͤre
geriſſen, uͤber die Mauer, trieb den Knecht,
mit hageldichten, flachen Hieben der Klinge,
in den brennenden Schuppen hinein, und zwang
ihn, unter entſetzlichem Gelaͤchter der Umſte⸗1265
henden
, die Rappen zu retten.
Gleichwohl,
als der Knecht ſchreckenblaß, wenige Momente
nachdem der Schuppen hinter ihm zuſammen⸗
ſtuͤrzte
, mit den Pferden, die er an der Hand
hielt, daraus hervortrat, fand er den Kohl⸗1270
haas
nicht mehr; und da er ſich zu den Knech⸗
ten
auf den Schloßplatz begab, und den Roß⸗
haͤndler
, der ihm mehreremal den Ruͤcken zu⸗
kehrte
, fragte: was er mit den Thieren nun
anfangen ſolle? — hob dieſer ploͤtzlich, mit 1275
einer fuͤrchterlichen Gebaͤhrde, den Fuß, daß
der Tritt, wenn er ihn gethan haͤtte, ſein Tod
geweſen waͤre: beſtieg, ohne ihm zu antwor⸗
ten
, ſeinen Braunen, ſetzte ſich unter das Thor
der Burg, und erharrte, inzwiſchen die Knechte 1280
ihr Weſen forttrieben, ſchweigend den Tag.

57Faksimile

Als der Morgen anbrach, war das ganze Schloß,
bis auf die Mauern, niedergebrannt, und nie⸗
mand
befand ſich mehr darin, als Kohlhaas
und ſeine ſieben Knechte.
Er ſtieg vom Pferde, 1285
und unterſuchte noch einmal, beim hellen Schein
der Sonne, den ganzen, in allen ſeinen Win⸗
keln
jetzt von ihr erleuchteten Platz, und da
er ſich, ſo ſchwer es ihm auch ward, uͤberzeu⸗
gen
mußte, daß die Unternehmung auf die Burg 1290
fehlgeſchlagen war, ſo ſchickte er, die Bruſt
voll Schmerz und Jammer, Herſen mit eini⸗
gen
Knechten aus, um uͤber die Richtung, die
der Junker auf ſeiner Flucht genommen, Nach⸗
richt
einzuziehen.
Beſonders beunruhigte ihn 1295
ein reiches Fraͤuleinſtift, Namens Erlabrunn,
das an den Ufern der Mulde lag, und deſſen
Aebtiſſinn, Antonia von Tronka, als eine
fromme, wohlthaͤtige und heilige Frau, in der
Gegend bekannt war; denn es ſchien dem un⸗1300
gluͤcklichen
Kohlhaas nur zu wahrſcheinlich, daß
der Junker ſich, entbloͤßt von aller Nothdurft,
wie er war, in dieſes Stift gefluͤchtet hatte,
indem die Aebtiſſinn ſeine leibliche Tante und
58Faksimiledie Erzieherinn ſeiner erſten Kindheit war.
1305
Kohlhaas, nachdem er ſich von dieſem Um⸗
ſtand
unterrichtet hatte, beſtieg den Thurm der
Voigtei, in deſſen Innerem ſich noch ein Zim⸗
mer
, zur Bewohnung brauchbar, darbot, und
verfaßte ein ſogenanntes „Kohlhaaſiſches Man⸗1310
dat
,“ worin er das Land aufforderte, dem Jun⸗
ker
Wenzel von Tronka, mit dem er in einem
gerechten Krieg liege, keinen Vorſchub zu thun,
vielmehr jeden Bewohner, ſeine Verwandten
und Freunde nicht auſgenommen, verpflichtete, 1315
demſelben bei Strafe Leibes und des Lebens,
und unvermeidlicher Einaͤſcherung alles deſſen,
was ein Beſitzthum heißen mag, an ihn aus⸗
zuliefern
.
Dieſe Erklaͤrung ſtreute er, durch
Reiſende und Fremde, in der Gegend aus; ja, 1320
er gab Waldmann, dem Knecht, eine Abſchrift
davon, mit dem beſtimmten Auftrage, ſie in
die Haͤnde der Dame Antonia nach Erlabrunn
zu bringen.
Hierauf beſprach er einige Tronken⸗
burgiſche
Knechte, die mit dem Junker unzu⸗1325
frieden
waren, und von der Ausſicht auf Beute
gereizt, in ſeine Dienſte zu treten wuͤnſchten;
59Faksimilebewaffnete ſie, nach Art des Fußvolks, mit
Armbruͤſten und Dolchen, und lehrte ſie, hin⸗
ter
den berittenen Knechten aufſitzen; und nach⸗1330
dem
er Alles, was der Troß zuſammengeſchleppt
hatte, zu Geld gemacht und das Geld unter
denſelben vertheilt hatte, ruhete er einige Stun⸗
den
, unter dem Burgthor, von ſeinen jaͤmmer⸗
lichen
Geſchaͤften aus.
1335

Gegen Mittag kam Herſe und beſtaͤtigte
ihm, was ihm ſein Herz, immer auf die truͤb⸗
ſten
Ahnungen geſtellt, ſchon geſagt hatte:
naͤmlich, daß der Junker in dem Stift zu Er⸗
labrunn
, bei der alten Dame Antonia von 1340
Tronka, ſeiner Tante, befindlich ſey.
Es ſchien,
er hatte ſich, durch eine Thuͤr, die, an der
hinteren Wand des Schloſſes, in die Luft hin⸗
ausging
, uͤber eine ſchmale, ſteinerne Treppe
gerettet, die, unter einem kleinen Dach, zu ei⸗1345
nigen
Kaͤhnen in die Elbe hinablief.
Wenig⸗
ſtens
berichtete Herſe, daß er, in einem Elb⸗
dorf
, zum Befremden der Leute, die wegen des
Brandes in der Tronkenburg verſammelt gewe⸗
ſen
, um Mitternacht, in einem Nachen, ohne 1350
60FaksimileSteuer und Ruder, angekommen, und mit
einem Dorffuhrwerk nach Erlabrunn weiter ge⸗
reiſet
ſey. — — —
Kohlhaas ſeufzte bei die⸗
ſer
Nachricht tief auf; er fragte, ob die Pferde
gefreſſen haͤtten? und da man ihm antwortete: 1355
ja: ſo ließ er den Haufen aufſitzen, und ſtand
ſchon in drei Stunden vor Erlabrunn.
Eben,
unter dem Gemurmel eines entfernten Gewit⸗
ters
am Horizont, mit Fackeln, die er ſich vor
dem Ort angeſteckt, zog er mit ſeiner Schaar 1360
in den Kloſterhof ein, und Waldmann, der
Knecht, der ihm entgegen trat, meldete ihm,
daß das Mandat richtig abgegeben ſey, als er
die Aebtiſſin und den Stiftsvoigt, in einem ver⸗
ſtoͤrten
Wortwechſel, unter das Portal des 1365
Kloſters treten ſah; und waͤhrend jener, der
Stiftsvoigt, ein kleiner, alter, ſchneeweißer
Mann, grimmige Blicke auf Kohlhaas ſchie⸗
ßend
, ſich den Harniſch anlegen ließ, und den
Knechten, die ihn umringten, mit dreiſter 1370
Stimme zurief, die Sturmglocke zu ziehn: trat
jene, die Stiftsfrau, das ſilberne Bildniß des
Gekreuzigten in der Hand, bleich, wie Linnen⸗
61Faksimilezeug,
von der Rampe herab, und warf ſich mit
allen ihren Jungfrauen, vor Kohlhaaſens 1375
Pferd nieder.
Kohlhaas, waͤhrend Herſe und
Sternbald den Stiftsvoigt, der kein Schwerdt
in der Hand hatte, uͤberwaͤltigten, und als Ge⸗
fangenen
zwiſchen die Pferde fuͤhrten, fragte ſie:
wo der Junker Wenzel von Tronka ſey? und 1380
da ſie, einen großen Ring mit Schluͤſſeln von
ihrem Gurt losloͤſend: in Wittenberg, Kohlhaas,
wuͤrdiger Mann! antwortete, und, mit beben⸗
der
Stimme, hinzuſetzte: fuͤrchte Gott und
thue kein Unrecht! — ſo wandte Kohlhaas, in 1385
die Hoͤlle unbefriedigter Rache zuruͤckgeſchleudert,
das Pferd, und war im Begriff: ſteckt an! zu
rufen, als ein ungeheurer Wetterſchlag, dicht
neben ihm, zur Erde niederfiel.
Kohlhaas, in⸗
dem
er ſein Pferd zu ihr zuruͤckwandte, fragte 1390
ſie: ob ſie ſein Mandat erhalten? und da die
Dame mit ſchwacher, kaum hoͤrbarer Stimme,
antwortete: eben jetzt! —
„Wann?“ — Zwei
Stunden, ſo wahr mir Gott helfe, nach des
Junkers, meines Vetters, bereits vollzogener 1395
Abreiſe! — — — und Waldmann, der Knecht,
62Faksimilezu dem Kohlhaas ſich, unter finſteren Blicken,
umkehrte, ſtotternd dieſen Umſtand beſtaͤtigte,
indem er ſagte, daß die Gewaͤſſer der Mulde,
vom Regen geſchwellt, ihn verhindert haͤtten, 1400
fruͤher, als eben jetzt, einzutreffen: ſo ſammelte
ſich Kohlhaas; ein ploͤtzlich fruchtbarer Regen⸗
gu
ß, der die Fackeln verloͤſchend, auf das Pfla⸗
ſter
des Platzes niederrauſchte, loͤſte den Schmerz
in ſeiner ungluͤcklichen Bruſt; er wandte, indem 1405
er kurz den Huth vor der Dame ruͤckte, ſein
Pferd, druͤckte ihm, mit den Worten: folgt
mir meine Bruͤder; der Junker iſt in Witten⸗
berg
! die Sporren ein, und verließ das Stift.

Er kehrte, da die Nacht einbrach, in einem 1410
Wirthshauſe auf der Landſtraße ein, wo er,
wegen großer Ermuͤdung der Pferde, einen Tag
ausruhen mußte, und da er wohl einſah, daß er
mit einem Haufen von zehn Mann (denn ſo
ſtark war er jetzt), einem Platz wie Wittenberg 1415
war, nicht trotzen konnte, ſo verfaßte er ein
zweites Mandat, worin er, nach einer kurzen
Erzaͤhlung deſſen, was ihm im Lande begegnet,
„jeden guten Chriſten“, wie er ſich ausdruͤckte,
63Faksimile „unter Angelobung eines Handgelds und ande⸗1420
rer
kriegeriſchen Vortheile“, aufforderte „ſeine
Sache gegen den Junker von Tronka, als dem
allgemeinen Feind aller Chriſten, zu ergreifen.“

In einem anderen Mandat, das bald darauf
erſchien, nannte er ſich: „einen Reichs- und 1425
Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn;“
eine Schwaͤrmerei krankhafter und mißgeſchaf⸗
fener
Art, die ihm gleichwohl, bei dem Klang
ſeines Geldes und der Ausſicht auf Beute, un⸗
ter
dem Geſindel, das der Friede mit Pohlen 1430
außer Brodt geſetzt hatte, Zulauf in Menge
verſchaffte: dergeſtalt, daß er in der That drei⸗
ßig
und etliche Koͤpfe zaͤhlte, als er ſich, zur
Einaͤſcherung von Wittenberg, auf die rechte
Seite der Elbe zuruͤckbegab.
Er lagerte ſich, 1435
mit Pferden und Knechten, unter dem Dache
einer alten verfallenen Ziegelſcheune, in der Ein⸗
ſamkeit
eines finſteren Waldes, der damals dieſen
Platz umſchloß, und hatte nicht ſobald durch
Sternbald, den er, mit dem Mandat, verklei⸗1440
det
in die Stadt ſchickte, erfahren, daß das
Mandat daſelbſt ſchon bekannt ſey, als er auch
64Faksimilemit ſeinen Haufen ſchon, am heiligen Abend vor
Pfingſten, aufbrach, und den Platz, waͤhrend
die Bewohner im tiefſten Schlaf lagen, an 1445
mehreren Ecken zugleich, in Brand ſteckte.

Dabei klebte er, waͤhrend die Knechte in der
Vorſtadt pluͤnderten, ein Blatt an den Thuͤr⸗
pfeiler
einer Kirche an, des Inhalts: „er,
Kohlhaas, habe die Stadt in Brand geſteckt, 1450
und werde ſie, wenn man ihm den Junker nicht
ausliefere, dergeſtalt einaͤſchern, daß er,“ wie
er ſich ausdruͤckte, „hinter keiner Wand werde
zu ſehen brauchen, um ihn zu finden.“ —
Das
Entſetzen der Einwohner, uͤber dieſen unerhoͤr⸗1455
ten
Frevel, war unbeſchreiblich; und die Flamme,
die bei einer zum Gluͤck ziemlich ruhigen Sommer⸗
nacht
, zwar nicht mehr als neunzehn Haͤuſer, wor⸗
unter
gleichwohl eine Kirche war, in den Grund
gelegt hatte, war nicht ſobald, gegen Anbruch 1460
des Tages, einigermaaßen gedaͤmpft worden,
als der alte Landvoigt, Otto von Gorgas, be⸗
reits
ein Faͤhnlein von funfzig Mann ausſandte,
um den entſetzlichen Wuͤtherich aufzuheben.
Der
Hauptmann aber, der es fuͤhrte, Namens 1465
Gerſten⸗65FaksimileGerſtenberg, benahm ſich ſo ſchlecht dabei, daß
die ganze Expedition Kohlhaaſen, ſtatt ihn zu
ſtuͤrzen, vielmehr zu einem hoͤchſt gefaͤhrlichen
kriegeriſchen Ruhm verhalf; denn da dieſer Kriegs⸗
mann
ſich in mehrere Abtheilungen aufloͤſete, um 1470
ihn, wie er meinte, zu umzingeln und zu erdruͤk⸗
kenerdruͤcken
, ward er von Kohlhaas, der ſeinen Haufen
zuſammenhielt, auf vereinzelten Puncten, ange⸗
griffen
und geſchlagen, dergeſtalt, daß ſchon, am
Abend des naͤchſtfolgenden Tages, kein Mann 1475
mehr von dem ganzen Haufen, auf den die Hoff⸗
nung
des Landes gerichtet war, gegen ihm im
Felde ſtand.
Kohlhaas, der durch dieſe Gefechte
einige Leute eingebuͤßt hatte, ſteckte die Stadt,
am Morgen des naͤchſten Tages, von neuem in 1480
Brand, und ſeine moͤrderiſchen Anſtalten waren
ſo gut, daß wiederum eine Menge Haͤuſer, und
faſt alle Scheunen der Vorſtadt, in die Aſche ge⸗
legt
wurden.
Dabei plackte er das bewußte
Mandat wieder, und zwar an die Ecken des 1485
Rathhauſes ſelbſt, an, und fuͤgte eine Nach⸗
richt
uͤber das Schickſal des, von dem Landvoigt
abgeſchickten und von ihm zu Grunde gerichte⸗
Kleiſts Erzaͤhl. E66Faksimileten,
Hauptmanns von Gerſtenberg bei.
Der
Landvoigt, von dieſem Trotz aufs Aeußerſte ent⸗1490
ruͤſtet
, ſetzte ſich ſelbſt, mit mehreren Rittern,
an die Spitze eines Haufens von hundert und
funfzig Mann.
Er gab dem Junker Wenzel von
Tronka, auf ſeine ſchriftliche Bitte, eine Wache,
die ihn vor der Gewaltthaͤtigkeit des Volks, das 1495
ihn platterdings aus der Stadt entfernt wiſſen
wollte, ſchuͤtzte; und nachdem er, auf allen
Doͤrfern in der Gegend, Wachen ausgeſtellt,
auch die Ringmauer der Stadt, um ſie vor
einem Ueberfall zu decken, mit Poſten beſetzt 1500
hatte, zog er, am Tage des heiligen Gervaſius,
ſelbſt aus, um den Drachen, der das Land ver⸗
wuͤſtete
, zu fangen.
Dieſen Haufen war der
Roßkamm klug genug, zu vermeiden; und nach⸗
dem
er den Landvoigt, durch geſchickte Maͤrſche, 1505
fuͤnf Meilen von der Stadt hinweggelockt, und
vermittelſt mehrerer Anſtalten, die er traf, zu
dem Wahn verleitet hatte, daß er ſich, von der
Uebermacht gedraͤngt, ins Brandenburgiſche wer⸗
fen
wuͤrde: wandte er ſich ploͤtzlich, beim Ein⸗1510
bruch
der dritten Nacht, kehrte, in einem Ge⸗
67Faksimilewaltritt,
nach Wittenberg zuruͤck, und ſteckte
die Stadt zum drittenmal in Brand.
Herſe,
der ſich verkleidet in die Stadt ſchlich, fuͤhrte
dieſes entſetzliche Kunſtſtuͤck aus; und die Feuers⸗1515
brunſt
war, wegen eines ſcharf wehenden Nord⸗
windes
, ſo verderblich und um ſich freſſend, daß,
in weniger als drei Stunden, zwei und vierzig
Haͤuſer, zwei Kirchen, mehrere Kloͤſter und
Schulen, und das Gebaͤude der kurfuͤrſtlichen 1520
Landvoigtei ſelbſt, in Schutt und Aſche lagen.

Der Landvoigt, der ſeinen Gegner, beim An⸗
bruch
des Tages, im Brandenburgiſchen glaubte,
fand, als er von dem, was vorgefallen, benach⸗
richtigt
, in beſtuͤrzten Maͤrſchen zuruͤckkehrte, die 1525
Stadt in allgemeinem Aufruhr; das Volk hatte
ſich zu Tauſenden vor dem, mit Balken und
Pfaͤhlen verrammelten, Hauſe des Junkers ge⸗
lagert
, und forderte, mit raſendem Geſchrei,
ſeine Abfuͤhrung aus der Stadt.
Zwei Buͤrger⸗1530
meiſter
, Namens Jenkens und Otto, die in
Amtskleidern an der Spitze des ganzen Magi⸗
ſtrats
gegenwaͤrtig waren, bewieſen vergebens,
daß man platterdings die Ruͤckkehr eines Eilbo⸗
E 268Faksimileten
abwarten muͤſſe, den man wegen Erlaub⸗1535
niß
den Junker nach Dresden bringen zu duͤr⸗
fen
, wohin er ſelbſt aus mancherlei Gruͤnden
abzugehen wuͤnſche, an den Praͤſidenten der
Staatskanzlei geſchickt habe; der unvernuͤnftige,
mit Spießen und Stangen bewaffnete Haufen 1540
gab auf dieſe Worte nichts, und eben war man,
unter Mißhandlung einiger zu kraͤftigen Maaß⸗
regeln
auffordernden Raͤthe, im Begriff das
Haus worin der Junker war zu ſtuͤrmen, und
der Erde gleich zu machen, als der Landvoigt, 1545
Otto von Gorgas, an der Spitze ſeines Reuter⸗
haufens
, in der Stadt erſchien.
Dieſem wuͤrdi⸗
gen
Herrn, der ſchon durch ſeine bloße Gegen⸗
wart
dem Volk Ehrfurcht und Gehorſam ein⸗
zufloͤßen
gewohnt war, war es, gleichſam zum 1550
Erſatz fuͤr die fehlgeſchlagene Unternehmung,
von welcher er zuruͤckkam, gelungen, dicht vor
den Thoren der Stadt drei zerſprengte Knechte
von der Bande des Mordbrenners aufzufangen;
und da er, inzwiſchen die Kerle vor dem Ange⸗1555
ſicht
des Volks mit Ketten belaſtet wurden,
den Magiſtrat in einer klugen Anrede verſicherte,
69Faksimileden Kohlhaas ſelbſt denke er in kurzem, indem
er ihm auf die Spur ſey, gefeſſelt einzubrin⸗
gen
: ſo gluͤckte es ihm, durch die Kraft aller 1560
dieſer beſchwichtigenden Umſtaͤnde, die Angſt
des verſammelten Volks zu entwaffnen, und
uͤber die Anweſenheit des Junkers, bis zur
Zuruͤckkunft des Eilboten aus Dresden, einiger⸗
maßen
zu beruhigen.
Er ſtieg, in Begleitung 1565
einiger Ritter, vom Pferde, und verfuͤgte
ſich, nach Wegraͤumung der Palliſaden und
Pfaͤhle, in das Haus, wo er den Junker, der
aus einer Ohnmacht in die andere fiel, unter
den Haͤnden zweier Aerzte fand, die ihn mit 1570
Eſſenzen und Irritanzen wieder ins Leben zuruͤck
zu bringen ſuchten; und da Herr Otto von Gor⸗
gas
wohl fuͤhlte, daß dies der Augenblick nicht
war, wegen der Auffuͤhrung, die er ſich zu
Schulden kommen laſſe, Worte mit ihm zu 1575
wechſeln: ſo ſagte er ihm bloß, mit einem Blick
ſtiller Verachtung, daß er ſich ankleiden, und
ihm, zu ſeiner eigenen Sicherheit, in die Ge⸗
maͤcher
der Ritterhaft folgen moͤgte.
Als man
dem Junker ein Wams angelegt, und einen 1580
70FaksimileHelm aufgeſetzt hatte, und er, die Bruſt, we⸗
gen
Mangels an Luft, noch halb offen, am
Arm des Landvoigts und ſeines Schwagers, des
Grafen von Gerſchau, auf der Straße erſchien,
ſtiegen gotteslaͤſterliche und entſetzliche Verwuͤn⸗1585
ſchungen
gegen ihn zum Himmel auf.
Das Volk,
von den Landsknechten nur muͤhſam zuruͤckgehal⸗
ten
, nannte ihn einen Blutigel, einen elenden
Landplager und Menſchenquaͤler, den Fluch
der Stadt Wittenberg, und das Verderben von 1590
Sachſen; und nach einem jaͤmmerlichen Zuge
durch die in Truͤmmern liegende Stadt, waͤh⸗
rend
welchem er mehreremal, ohne ihn zu ver⸗
miſſen
, den Helm verlor, den ihm ein Ritter
von hinten wieder aufſetzte, erreichte man end⸗1595
lich
das Gefaͤngniß, wo er in einem Thurm,
unter dem Schutz einer ſtarken Wache, ver⸗
ſchwand
.
Mittlerweile ſetzte die Ruͤckkehr des
Eilboten, mit der kurfuͤtſtlichen kurfuͤrſtlichen kurfuͤrſtlichen [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] Reſolution, die
Stadt in neue Beſorgniß. Denn die Landes⸗1600
regierung
, bei welcher die Buͤrgerſchaft von
Dresden, in einer dringenden Supplik, unmit⸗
telbar
eingekommen war, wollte, vor Ueber⸗
71Faksimilewaͤltigung
des Mordbrenners, von dem Aufent⸗
halt
des Junkers in der Reſidenz nichts wiſſen; 1605
vielmehr verpflichtete ſie den Landvoigt, denſel⸗
ben
da, wo er ſey, weil er irgendwo ſeyn muͤſſe,
mit der Macht, die ihm zu Gebote ſtehe, zu
beſchirmen: wogegen ſie der guten Stadt Wit⸗
tenberg
, zu ihrer Beruhigung, meldete, daß 1610
bereits ein Heerhaufen von fuͤnfhundert Mann,
unter Anfuͤhrung des Prinzen Friedrich von
Meißen im Anzuge ſey, um ſie vor den ferneren
Belaͤſtigungen desſelben zu beſchuͤtzen.
Der Land⸗
voigt
, der wohl einſah, daß eine Reſolution 1615
dieſer Art, das Volk keinesweges beruhigen
konnte: denn nicht nur, daß mehrere kleinen
Vortheile, die der Roßhaͤndler, an verſchiede⸗
nen
Punkten, vor der Stadt erfochten, uͤber
die Staͤrke, zu der er herangewachſen, aͤußerſt 1620
unangenehme Geruͤchte verbreiteten; der Krieg,
den er, in der Finſterniß der Nacht, durch ver⸗
kleidetes
Geſindel, mit Pech, Stroh und
Schwefel fuͤhrte, haͤtte, unerhoͤrt und beiſpiel⸗
los
, wie er war, ſelbſt einen groͤßeren Schutz, 1625
als mit welchem der Prinz von Meißen heran⸗
72Faksimileruͤckte,
unwirkſam machen koͤnnen: der Land⸗
voigt
, nach einer kurzen Ueberlegung, entſchloß
ſich, die Reſolution, die er empfangen, ganz
und gar zu unterdruͤcken.
Er plackte bloß einen 1630
Brief, in welchem ihm der Prinz von Meiſſen
ſeine Ankunft meldete, an die Ecken der Stadt
an; ein verdeckter Wagen, der, beim Anbruch
des Tages, aus dem Hofe des Herrenzwingers
kam, fuhr, von vier ſchwer bewaffneten Reu⸗1635
tern
begleitet, auf die Straße nach Leipzig hin⸗
aus
, wobei die Reuter, auf eine unbeſtimmte
Art verlauten ließen, daß es nach der Pleißen⸗
burg
gehe; und da das Volk uͤber den heilloſen
Junker, an deſſen Daſeyn Feuer und Schwerdt 1640
gebunden, dergeſtalt beſchwichtigt war, brach
er ſelbſt, mit einem Haufen von dreihundert
Mann, auf, um ſich mit dem Prinzen Fried⸗
drich
Fried⸗
rich
von Meißen zu vereinigen.
Inzwiſchen
war Kohlhaas in der That, durch die ſonder⸗1645
bare
Stellung, die er in der Welt einnahm,
auf hundert und neun Koͤpfe herangewachſen;
und da er auch in Jaſſen einen Vorrath an
Waffen aufgetrieben, und ſeine Schaar, auf
73Faksimiledas Vollſtaͤndigſte, damit auſgeruͤſtet hatte: 1650
ſo faßte er, von dem doppelten Ungewitter, das
auf ihn heranzog, benachrichtigt, den Entſchluß,
demſelben, mit der Schnelligkeit des Sturm⸗
winds
, ehe es uͤber ihn zuſammenſchluͤge, zu be⸗
gegnen
.
Demnach griff er ſchon, Tags darauf, 1655
den Prinzen von Meißen, in einem naͤchtlichen
Ueberfall, bei Muͤhlberg an; bei welchem Ge⸗
fechte
er zwar, zu ſeinem großen Leidweſen, den
Herſe einbuͤßte, der gleich durch die erſten
Schuͤſſe an ſeiner Seite zuſammenſtuͤrzte: 1660
durch dieſen Verluſt erbittert aber, in einem
drei Stunden langen Kampfe, den Prinzen,
unfaͤhig ſich in dem Flecken zu ſammeln, ſo zu⸗
richtete
, daß er beim Anbruch des Tages, meh⸗
rerer
ſchweren Wunden, und einer gaͤnzlichen 1665
Unordnung ſeines Haufens wegen, genoͤthigt
war, den Ruͤckweg nach Dresden einzuſchlagen.

Durch dieſen Vortheil tollkuͤhn gemacht, wandte
er ſich, ehe derſelbe noch davon unterrichtet ſeyn
konnte, zu dem Landvoigt zuruͤck, fiel ihn bei 1670
dem Dorfe Damerow, am hellen Mittag, auf
freiem Felde an, und ſchlug ſich, unter moͤr⸗
74Faksimilederiſchem
Verluſt zwar, aber mit gleichen Vor⸗
theilen
, bis in die ſinkende Nacht mit ihm
herum.
Ja, er wuͤrde den Landvoigt, der ſich 1675
in den Kirchhof zu Damerow geworfen hatte,
am andern Morgen unfehlbar mit dem Reſt
ſeines Haufens wieder angegriffen haben, wenn
derſelbe nicht durch Kundſchafter von der Nie⸗
derlage
, die der Prinz bei Muͤhlberg erlitten, 1680
benachrichtigt worden waͤre, und ſomit fuͤr rath⸗
ſamer
gehalten haͤtte, gleichfalls, bis auf einen
beſſeren Zeitpunct, nach Wittenberg zuruͤckzu⸗
kehren
.
Fuͤnf Tage, nach Zerſprengung dieſer
beiden Haufen, ſtand er vor Leipzig, und ſteckte 1685
die Stadt an drei Seiten in Brand. —
Er nannte
ſich in dem Mandat, das er, bei dieſer Gele⸗
genheit
, ausſtreute, „einen Statthalter Michaels,
des Erzengels, der gekommen ſey, an Allen,
die in dieſer Streitſache des Junkers Parthei 1690
ergreifen wuͤrden, mit Feuer und Schwerdt, die
Argliſt, in welcher die ganze Welt verſunken ſey,
zu beſtrafen.“
Dabei rief er, von dem Luͤtzner
Schloß aus, das er uͤberrumpelt, und worin
er ſich feſtgeſetzt hatte, das Volk auf, ſich, zur 1695
75FaksimileErrichtung einer beſſeren Ordnung der Dinge,
an ihn anzuſchließen; und das Mandat war,
mit einer Art von Verruͤckung, unterzeichnet:
„Gegeben auf dem Sitz unſerer proviſoriſchen
Weltregierung, dem Erzſchloſſe zu Luͤtzen.“
Das 1700
Gluͤck der Einwohner von Leipzig wollte, daß
das Feuer, wegen eines anhaltenden Regens
der vom Himmel fiel, nicht um ſich griff, der⸗
geſtalt
, daß bei der Schnelligkeit der beſtehenden
Loͤſchanſtalten, nur einige Kramlaͤden, die um 1705
die Pleißenburg lagen, in Flammen aufloderten.

Gleichwohl war die Beſtuͤrzung in der Stadt,
uͤber das Daſeyn des raſenden Mordbrenners,
und den Wahn, in welchem derſelbe ſtand, daß
der Junker in Leipzig ſey, unausſprechlich; und 1710
da ein Haufen von hundert und achtzig Reiſigen,
den man gegen ihn ausſchickte, zerſprengt in die
Stadt zuruͤckkam: ſo blieb dem Magiſtrat, der
den Reichthum der Stadt nicht ausſetzen wollte,
nichts anderes uͤbrig, als die Thore gaͤnzlich zu 1715
ſperren, und die Buͤrgerſchaft Tag und Nacht,
außerhalb der Mauern, wachen zu laſſen.
Ver⸗
gebens
ließ der Magiſtrat, auf den Doͤrfern der
76Faksimileumliegenden Gegend, Deklarationen anheften,
mit der beſtimmten Verſicherung, daß der Jun⸗1720
ker
nicht in der Pleißenburg ſey; der Roßkamm,
in aͤhnlichen Blaͤttern, beſtand darauf, daß er
in der Pleißenburg ſey, und erklaͤrte, daß, wenn
derſelbe nicht darin befindlich waͤre, er minde⸗
ſtens
verfahren wuͤrde, als ob er darin waͤre, 1725
bis man ihm den Ort, mit Namen genannt,
werde angezeigt haben, worin er befindlich ſey.

Der Kurfuͤrſt, durch einen Eilboten, von der
Noth, in welcher ſich die Stadt Leipzig befand,
benachrichtigt, erklaͤrte, daß er bereits einen 1730
Heerhaufen von zweitauſend Mann zuſammen⸗
zoͤge
, und ſich ſelbſt an deſſen Spitze ſetzen wuͤr⸗
de
, um den Kohlhaas zu fangen.
Er ertheilte
dem Herrn Otto von Gorgas einen ſchweren
Verweis, wegen der zweideutigen und unuͤber⸗1735
legten
Liſt, die er angewendet, um des Mord⸗
brenners
aus der Gegend von Wittenberg loszu⸗
werden
; und niemand beſchreibt die Verwirrung,
die ganz Sachſen und insbeſondere die Reſidenz
ergriff, als man daſelbſt erfuhr, daß, auf den 1740
Doͤrfern bei Leipzig, man wußte nicht von wem,
77Faksimileeine Deklaration an den Kohlhaas angeſchlagen
worden ſey, des Inhalts: „Wenzel, der Jun⸗
ker
, befinde ſich bei ſeinen Vettern Hinz und
Kunz, in Dresden.“
1745

Unter dieſen Umſtaͤnden uͤbernahm der
Doctor Martin Luther das Geſchaͤft, den Kohl⸗
haas
, durch die Kraft beſchwichtigender Worte,
von dem Anſehn, das ihm ſeine Stellung in
der Welt gab, unterſtuͤtzt, in den Damm der 1750
menſchlichen Ordnung zuruͤckzudruͤcken, und auf
ein tuͤchtiges Element in der Bruſt des Mord⸗
brenners
bauend, erließ er ein Placat folgenden
Inhalts an ihn, das in allen Staͤdten und Flek⸗
kenFlecken
des Kurfuͤrſtenthums angeſchlagen ward:
1755

„Kohlhaas, der du dich geſandt zu ſeyn vor⸗
giebſt
, das Schwerdt der Gerechtigkeit
zu handhaben, was unterfaͤngſt du
dich, Vermeſſener, ihm im Wahnſinn ſtock⸗
blinder
Leidenſchaft, du, den Ungerech⸗1760
tigkeit
ſelbſt, vom Wirbel bis zur Sohle
erfuͤllt?
Weil der Landesherr dir, dem
du unterthan biſt, dein Recht verwei⸗
gert
hat, dein Recht in dem Streit um
78Faksimileein nichtiges Gut, erhebſt du dich, Heil⸗1765
loſer
, mit Feuer und Schwerdt, und
brichſt, wie der Wolf der Wuͤſte, in die
friedliche Gemeinheit, die er beſchirmt.

Du, der die Menſchen mit dieſer An⸗
gabe
, voll Unwahrhaftigkeit und Argliſt, 1770
verfuͤhrt: meinſt du, Suͤnder, vor Gott
dereinſt, an dem Tage, der in die Fal⸗
ten
aller Herzen ſcheinen wird, damit
auszukommen?
Wie kannſt du ſagen,
daß dir dein Recht verweigert worden 1775
iſt, du, deſſen grimmige Bruſt, vom
Kitzel ſchnoͤder Selbſtrache gereizt, nach
den erſten, leichtfertigen Verſuchen, die
dir geſcheitert, die Bemuͤhung gaͤnzlich
aufgegeben hat, es dir zu verſchaffen? 1780
Iſt eine Bank voll Gerichtsdienern und
Schergen, die einen Brief, der ge⸗
bracht
wird, unterſchlagen, oder ein Er⸗
kenntniß,
das ſie abliefern ſollen, zu⸗
ruͤckhalten
, deine Obrigkeit?
Und muß 1785
ich dir ſagen, Gottvergeſſener, daß deine
Obrigkeit von deiner Sache nichts weiß —
79Faksimilewas ſag ich? daß der Landesherr, gegen
den du dich auflehnſt, auch deinen Na⸗
men
nicht kennt, dergeſtalt, daß wenn 1790
dereinſt du vor Gottes Thron trittſt, in
der Meinung, ihn anzuklagen, er, hei⸗
teren
Antlitzes, wird ſprechen koͤnnen:
dieſem Mann, Herr, that ich kein Un⸗
recht
, den denn ſein Daſeyn iſt meiner Seele 1795
fremd?
Das Schwerdt, wiſſe, das
du fuͤhrſt, iſt das Schwerdt des Raubes
und der Mordluſt, ein Rebell biſt du
und kein Krieger des gerechten Gottes,
und dein Ziel auf Erden iſt Rad und 1800
Galgen, und jenſeits die Verdammniß,
die uͤber die Miſſethat und die Gottloſig⸗
keit
verhaͤngt iſt.

Wittenberg, u. s. w.
Martin Luther.“1805

Kohlhaas waͤlzte eben, auf dem Schloſſe zu
Luͤtzen, einen neuen Plan, Leipzig einzuaͤſchern,
in ſeiner zerriſſenen Bruſt herum: — denn auf
die, in den Doͤrfern angeſchlagene Nachricht,
daß der Junker Wenzel in Dresden ſey, gab er 1810
80Faksimilenichts, weil ſie von Niemand, geſchweige denn
vom Magiſtrat, wie er verlangt hatte, unter⸗
ſchrieben
war: — als Sternbald und Waldmann
das Placat, das, zur Nachtzeit, an den Thor⸗
weg
des Schloſſes, angeſchlagen worden war, 1815
zu ihrer großen Beſtuͤrzung, bemerkten.
Ver⸗
gebens
hofften ſie, durch mehrere Tage, daß
Kohlhaas, den ſie nicht gern deshalb antreten
wollten, es erblicken wuͤrde; finſter und in ſich
gekehrt, in der Abendſtunde erſchien er zwar, 1820
aber bloß, um ſeine kurzen Befehle zu geben,
und ſah nichts: dergeſtalt, daß ſie an einem
Morgen, da er ein Paar Knechte, die in der
Gegend, wieder ſeinen Willen, gepluͤndert hat⸗
ten
, aufknuͤpfen laſſen wollte, den Entſchluß 1825
faßten, ihn darauf aufmerkſam zu machen.
Eben
kam er, waͤhrend das Volk von beiden Seiten
ſchuͤchtern auswich, in dem Aufzuge, der ihm,
ſeit ſeinem letzten Mandat, gewoͤhnlich war,
von dem Richtplatz zuruͤck: ein großes Cherubs⸗1830
ſchwerdt
, auf einem rothledernen Kiſſen, mit
Quaſten von Gold verziert, ward ihm vorange⸗
tragen
, und zwoͤlf Knechte, mit brennenden
Fackeln81FaksimileFackeln folgten ihm: da traten die beiden
Maͤnner, ihre Schwerdter unter dem Arm, ſo, 1835
daß es ihn befremden mußte, um den Pfeiler,
an welchen das Placat angeheftet war, herum.

Kohlhaas, als er, mit auf dem Ruͤcken zuſam⸗
mengelegten
Haͤnden, in Gedanken vertieft, un⸗
ter
das Portal kam, ſchlug die Augen auf und 1840
ſtutzte; und da die Knechte, bei ſeinem Anblick,
ehrerbietig auswichen: ſo trat er, indem er ſie
zerſtreut anſah, mit einigen raſchen Schritten,
an den Pfeiler heran.
Aber wer beſchreibt, was
in ſeiner Seele vorging, als er das Blatt, deſſen 1845
Inhalt ihn der Ungerechtigkeit zieh, daran er⸗
blickte
: unterzeichnet von dem theuerſten und
verehrungswuͤrdigſten Namen, den er kannte,
von dem Namen Martin Luthers!
Eine dunkle
Roͤthe ſtieg in ſein Antlitz empor; er durchlas 1850
es, indem er den Helm abnahm, zweimal von
Anfang bis zu Ende; wandte ſich, mit unge⸗
wiſſen
Blicken, mitten unter die Knechte zuruͤck,
als ob er etwas ſagen wollte, und ſagte nichts;
loͤſte das Blatt von der Wand los, durchlas 1855
es noch einmal; und rief: Waldmann! laß
Kleiſts Erzaͤhl. F82Faksimilemir mein Pferd ſatteln! ſodann: Sternbald!
folge mir ins Schloß! und verſchwand.
Mehr als
dieſer wenigen Worte bedurfte es nicht, um ihn,
in der ganzen Verderblichkeit, in der er daſtand, 1860
ploͤtzlich zu entwaffnen.
Er warf ſich in die Ver⸗
kleidung
eines thuͤringiſchen Landpaͤchters; ſagte
Sternbald, daß ein Geſchaͤft, von bedeutender
Wichtigkeit, ihn nach Wittenberg zu reiſen noͤ⸗
thige
; uͤbergab ihm, in Gegenwart einiger der 1865
vorzuͤglichſten Knechte, die Anfuͤhrung des in
Luͤtzen zuruͤckbleibenden Haufens; und zog, un⸗
ter
der Verſicherung, daß er in drei Tagen,
binnen welcher Zeit kein Angriff zu fuͤrchten ſey,
wieder zuruͤck ſeyn werde, nach Wittenberg ab.
1870

Er kehrte, unter einem fremden Namen, in
ein Wirthshaus ein, wo er, ſobald die Nacht
angebrochen war, in ſeinem Mantel, und mit
einem Paar Piſtolen verſehen, die er in der Tron⸗
kenburg
erbeutet hatte, zu Luthern ins Zimmer 1875
trat.
Luther, der unter Schriften und Buͤchern an
ſeinem Pulte ſaß, und den fremden, beſonderen
Mann die Thuͤr oͤffnen und hinter ſich verriegeln
ſah, fragte ihn: wer er ſey? und was er wolle?
83Faksimileund der Mann, der ſeinen Huth ehrerbietig in 1880
der Hand hielt, hatte nicht ſobald, mit dem
ſchuͤchternen Vorgefuͤhl des Schreckens, den er
verurſachen wuͤrde, erwiedert: daß er Michael
Kohlhaas, der Roßhaͤndler ſey; als Luther
ſchon: weiche fern hinweg! ausrief, und indem 1885
er, vom Pult erſtehend, nach einer Klingel eilte,
hinzuſetzte: dein Odem iſt Peſt und deine Naͤhe
Verderben!
Kohlhaas, indem er, ohne ſich vom
Platz zu regen, ſein Piſtol zog, ſagte: Hoch⸗
wuͤrdiger
Herr, dies Piſtol, wenn ihr die Klin⸗1890
gel
ruͤhrt, ſtreckt mich leblos zu euren Fuͤßen
nieder! Setzt euch und hoͤrt mich an; unter den
Engeln, deren Pſalmen ihr aufſchreibt, ſeyd
ihr nicht ſicherer, als bei mir.
Luther, indem
er ſich niederſetzte, fragte: was willſt du?
Kohl⸗1895
haas
erwiederte: eure Meinung von mir, daß
ich ein ungerechter Mann ſey, widerlegen!
Ihr
habt mir in eurem Placat geſagt, daß meine
Obrigkeit von meiner Sache nichts weiß: wohl⸗
an
, verſchafft mir freies Geleit, ſo gehe ich nach 1900
Dresden, und lege ſie ihr vor.
„Heilloſer und
entſetzlicher Mann!“ rief Luther, durch dieſe
F 284Faksimile Worte verwirrt zugleich und beruhigt: „wer gab
dir das Recht, den Junker von Tronka, in
Verfolg eigenmaͤchtiger Rechtsſchluͤſſe, zu uͤber⸗1905
fallen
, und da du ihn auf ſeiner Burg nicht
fandſt mit Feuer und Schwerdt die ganze Ge⸗
meinſchaft
heimzuſuchen, die ihn beſchirmt?“

Kohlhaas erwiderte: hochwuͤrdiger Herr, nie⸗
mand
, fortan!
Eine Nachricht, die ich aus 1910
Dresden erhielt, hat mich getaͤuſcht, mich ver⸗
fuͤhrt
!
Der Krieg, den ich mit der Gemeinheit
der Menſchen fuͤhre, iſt eine Miſſethat, ſobald
ich aus ihr nicht, wie ihr mir die Verſicherung
gegeben habt, verſtoßen war!
Verſtoßen! rief 1915
Luther, indem er ihn anſah.
Welch eine Ra⸗
ſerei
der Gedanken ergriff dich?
Wer haͤtte dich
aus der Gemeinſchaft des Staats, in welchem
du lebteſt, verſtoßen?
Ja, wo iſt, ſo lange
Staaten beſtehen, ein Fall, daß jemand, wer 1920
es auch ſey, daraus verſtoßen worden waͤre? —

Verſtoßen, antwortete Kohlhaas, indem er die
Hand zuſammendruͤckte, nenne ich den, dem der
Schutz der Geſetze verſagt iſt!
Denn dieſes
Schutzes, zum Gedeihen meines friedlichen Ge⸗1925
85Faksimilewerbes,
bedarf ich; ja, er iſt es, deſſenhalb
ich mich, mit dem Kreis deſſen, was ich er⸗
worben
, in dieſe Gemeinſchaft fluͤchte; und wer
mir ihn verſagt, der ſtoͤßt mich zu den Wilden
der Einoͤde hinaus; er giebt mir, wie wollt ihr das 1930
leugnen, die Keule, die mich ſelbſt ſchuͤtzt, in die
Hand. —
Wer hat dir den Schutz der Geſetze ver⸗
ſagt
? rief Luther.
Schrieb ich dir nicht, daß die
Klage, die du eingereicht, dem Landesherrn,
dem du ſie eingereicht, fremd iſt?
Wenn Staats⸗1935
diener
hinter ſeinem Ruͤcken Prozeſſe unterſchla⸗
gen
, oder ſonſt ſeines geheiligten Namens, in ſei⸗
ner
Unwiſſenheit, ſpotten; wer anders als Gott
darf ihn wegen der Wahl ſolcher Diener zur Re⸗
chenſchaft
ziehen, und biſt du, gottverdammter 1940
und entſetzlicher Menſch, befugt, ihn deshalb zu
richten? —
Wohlan, verſetzte Kohlhaas, wenn
mich der Landesherr nicht verſtoͤßt, ſo kehre ich
auch wieder in die Gemeinſchaft, die er beſchirmt,
zuruͤck.
Verſchafft mir, ich wiederhol’ es, freies 1945
Geleit nach Dresden: ſo laſſe ich den Haufen,
den ich im Schloß zu Luͤtzen verſammelt, aus⸗
einander
gehen, und bringe die Klage, mit der
86Faksimileich abgewieſen worden bin, noch einmal bei dem
Tribunal des Landes vor. —
Luther, mit einem 1950
verdrießlichen Geſicht, warf die Papiere, die
auf ſeinem Tiſch lagen, uͤbereinander, und ſchwieg.

Die trotzige Stellung, die dieſer ſeltſame Menſch
im Staat einnahm, verdroß ihn; und den
Rechtsſchluß, den er, von Kohlhaaſenbruͤck aus, 1955
an den Junker erlaſſen, erwaͤgend, fragte er:
was er denn von dem Tribunal zu Dresden ver⸗
lange
?
Kohlhaas antwortete: Beſtrafung des
Junkers, den Geſetzen gemaͤß; Wiederherſtel⸗
lung
der Pferde in den vorigen Stand; und Er⸗1960
ſatz
des Schadens, den ich ſowohl, als mein bei
Muͤhlberg gefallener Knecht Herſe, durch die
Gewaltthat, die man an uns veruͤbte, erlitten.

— Luther rief: Erſatz des Schadens! Summen
zu Tauſenden, bei Juden und Chriſten, auf 1965
Wechſeln und Pfaͤndern, haſt du, zur Beſtrei⸗
tung
deiner wilden Selbſtrache, aufgenommen.

Wirſt du den Werth auch, auf der Rechnung,
wenn es zur Nachfrage kommt, anſetzen? —

Gott behuͤte! erwiderte Kohlhaas. Haus und 1970
Hof, und den Wohlſtand, den ich beſeſſen, for⸗
87Faksimiledere
ich nicht zuruͤck; ſo wenig als die Koſten des
Begraͤbniſſes meiner Frau!
Herſens alte Mut⸗
ter
wird eine Berechnung der Heilkoſten, und
eine Specification deſſen, was ihr Sohn in der 1975
Tronkenburg eingebuͤßt, beibringen; und den
Schaden, den ich wegen Nichtverkaufs der Rap⸗
pen
erlitten, mag die Regierung durch einen
Sachverſtaͤndigen abſchaͤtzen laſſen. —
Luther
ſagte: raſender, unbegreiflicher und entſetzlicher 1980
Menſch! und ſah ihn an.
Nachdem dein
Schwerdt ſich, an dem Junker, Rache, die
grimmigſte, genommen, die ſich erdenken laͤßt:
was treibt dich, auf ein Erkenntniß gegen ihn zu
beſtehen, deſſen Schaͤrfe, wenn es zuletzt faͤllt, 1985
ihn mit einem Gewicht von ſo geringer Erheb⸗
lichkeit
nur trifft? —
Kohlhaas erwiederte, in⸗
dem
ihm eine Thraͤne uͤber die Wangen rollte:
hochwuͤrdiger Herr! es hat mich meine Frau ge⸗
koſtet
; Kohlhaas will der Welt zeigen, daß ſie 1990
in keinem ungerechten Handel umgekommen iſt.

Fuͤgt euch in dieſen Stuͤcken meinem Willen,
und laßt den Gerichtshof ſprechen; in allem An⸗
deren
, was ſonſt noch ſtreitig ſeyn mag, fuͤge
88Faksimileich mich euch. —
Luther ſagte: ſchau her, 1995
was du forderſt, wenn anders die Umſtaͤnde
ſo ſind, wie die oͤffentliche Stimme hoͤren
laͤßt, iſt gerecht; und haͤtteſt du den Streit,
bevor du eigenmaͤchtig zur Selbſtrache geſchrit⸗
ten
, zu des Landesherrn Entſcheidung zu brin⸗2000
gen
gewußt, ſo waͤre dir deine Forderung,
zweifle ich nicht, Punkt vor Punkt bewilligt
worden.
Doch haͤtteſt du nicht, Alles wohl
erwogen, beſſer gethan, du haͤtteſt, um dei⸗
nes
Erloͤſers willen, dem Junker vergeben, 2005
die Rappen, duͤrre und abgehaͤrmt, wie ſie
waren, bei der Hand genommen, dich aufge⸗
ſetzt
, und zur Dickfuͤtterung in deinen Stall
nach Kohlhaaſenbruͤck heimgeritten? —
Kohl⸗
haas
antwortete: kann ſeyn! indem er ans Fen⸗2010
ſter
trat: kann ſeyn, auch nicht!
Haͤtte ich ge⸗
wußt
, daß ich ſie mit Blut aus dem Herzen
meiner lieben Frau wuͤrde auf die Beine brin⸗
gen
muͤſſen: kann ſeyn, ich haͤtte gethan, wie
ihr geſagt, hochwuͤrdiger Herr, und einen 2015
Scheffel Hafer nicht geſcheut!
Doch, weil ſie
mir einmal ſo theuer zu ſtehen gekommen ſind,
89Faksimileſo habe es denn, meine ich, ſeinen Lauf: laßt
das Erkenntniß, wie es mir zukoͤmmt, ſprechen,
und den Junker mir die Rappen auffuͤttern. — —
2020
Luther ſagte, indem er, unter mancherlei Ge⸗
danken
, wieder zu ſeinen Papieren griff: er
wolle mit dem Kurfuͤrſten ſeinethalben in Unter⸗
handlung
treten.
Inzwiſchen moͤgte er ſich,
auf dem Schloſſe zu Luͤtzen, ſtill halten; wenn 2025
der Herr ihm freies Geleit bewillige, ſo werde
man es ihm auf dem Wege oͤffentlicher Anplak⸗
kungAnplackung
bekannt machen. —
Zwar, fuhr er fort,
da Kohlhaas ſich herabbog, um ſeine Hand zu
kuͤſſen: ob der Kurfuͤrſt Gnade fuͤr Recht ergehen 2030
laſſen wird, weiß ich nicht; denn einen Heer⸗
haufen
, vernehm’ ich, zog er zuſammen, und
ſteht im Begriff, dich im Schloſſe zu Luͤtzen
aufzuheben: inzwiſchen, wie ich dir ſchon geſagt
habe, an meinem Bemuͤhen ſoll es nicht liegen.
2035
Und damit ſtand er auf, und machte Anſtalt,
ihn zu entlaſſen.
Kohlhaas meinte, daß ſeine
Fuͤrſprache ihn uͤber dieſen Punkt voͤllig beruhige;
worauf Luther ihn mit der Hand gruͤßte, jener
aber ploͤtzlich ein Knie vor ihm ſenkte und ſprach: 2040
90Faksimileer habe noch eine Bitte auf ſeinem Herzen.
Zu
Pfingſten naͤmlich, wo er an den Tiſch des
Herrn zu gehen pflege, habe er die Kirche, die⸗
ſer
ſeiner kriegeriſchen Unternehmung Unternehmungen wegen,
verſaͤumt; ob er die Gewogenheit haben wolle, 2045
ohne weitere Vorbereitung, ſeine Beichte zu em⸗
pfangen
, und ihm, zur Auswechſelung dagegen,
die Wohlthat des heiligen Sakraments zu erthei⸗
len
?
Luther, nach einer kurzen Beſinnung, in⸗
dem
er ihn ſcharf anſah, ſagte: ja, Kohlhaas, 2050
das will ich thun!
Der Herr aber, deſſen Leib
du begehrſt, vergab ſeinem Feind. —
Willſt du,
ſetzte er, da jener ihn betreten anſah, hinzu,
dem Junker, der dich beleidigt hat, gleichfalls
vergeben: nach der Tronkenburg gehen, dich auf 2055
deine Rappen ſetzen, und ſie zur Dickfuͤtterung
nach Kohlhaaſenbruͤck heimreiten? —
„Hochwuͤr⸗
diger
Herr,“ ſagte Kohlhaas erroͤthend, indem
er ſeine Hand ergriff, — nun? — „der Herr
auch vergab allen ſeinen Feinden nicht.
Laßt 2060
mich den Kurfuͤrſten, meinen beiden Herren,
dem Schloßvoigt und Verwalter, den Herren
Hinz und Kunz, und wer mich ſonſt in dieſer
91FaksimileSache gekraͤnkt haben mag, vergeben: den Jun⸗
ker
aber, wenn es ſeyn kann, noͤthigen, daß er 2065
mir die Rappen wieder dick fuͤttere.“ —
Bei die⸗
ſen
Worten kehrte ihm Luther, mit einem miß⸗
vergnuͤgten
Blick, den Ruͤcken zu, und zog die
Klingel.
Kohlhaas, waͤhrend, dadurch herbei⸗
gerufen
, ein Famulus ſich mit Licht in dem Vor⸗2070
ſaal
meldete, ſtand betreten, indem er ſich die
Augen trocknete, vom Boden auf; und da der
Famulus vergebens, weil der Riegel vorgeſcho⸗
ben
war, an der Thuͤre wirkte, Luther aber ſich
wieder zu ſeinen Papieren niedergeſetzt hatte: ſo 2075
machte Kohlhaas dem Mann die Thuͤre auf.

Luther, mit einem kurzen, auf den fremden
Mann gerichteten Seitenblick, ſagte dem Fa⸗
mulus
: leuchte! worauf dieſer, uͤber den Beſuch,
den er erblickte, ein wenig befremdet, den Haus⸗2080
ſchluͤſſel
von der Wand nahm, und ſich, auf die
Entfernung desſelben wartend, unter die halb⸗
offene
Thuͤr des Zimmers zuruͤckbegab. —
Kohl⸗
haas
ſprach, indem er ſeinen Huth bewegt zwi⸗
ſchen
beide Haͤnde nahm: und ſo kann ich, hoch⸗2085
wuͤrdigſter
Herr, der Wohlthat verſoͤhnt zu wer⸗
92Faksimileden,
die ich mir von euch erbat, nicht theilhaftig
werden?
Luther antwortete kurz: deinem Hei⸗
land
, nein; dem Landesherrn, — das bleibt einem
Verſuch, wie ich dir verſprach, vorbehalten!
2090
Und damit winkte er dem Famulus, das Ge⸗
ſchaͤft
, das er ihm aufgetragen, ohne weiteren
Aufſchub, abzumachen.
Kohlhaas legte, mit
dem Ausdruck ſchmerzlicher Empfindung, ſeine
beiden Haͤnde auf die Bruſt; folgte dem Mann, 2095
der ihm die Treppe hinunter leuchtete, und ver⸗
ſchwand
.

Am anderen Morgen erließ Luther ein Send⸗
ſchreiben
an den Kurfuͤrſten von Sachſen, wor⸗
in
er, nach einem bitteren Seitenblick auf die 2100
ſeine Perſon umgebenden Herren Hinz und
Kunz, Kaͤmmerer und Mundſchenk von Tronka,
welche die Klage, wie allgemein bekannt war,
untergeſchlagen hatten, dem Herrn, mit der
Freimuͤthigkeit, die ihm eigen war, eroͤffnete, 2105
daß bei ſo aͤrgerlichen Umſtaͤnden, nichts An⸗
deres
zu thun uͤbrig ſey, als den Vorſchlag des
Roßhaͤndlers anzunehmen, und ihm des Vorge⸗
fallenen
wegen, zur Erneuerung ſeines Pro⸗
93Faksimilezeſſes,
Amneſtie zu ertheilen.
Die oͤffentliche 2110
Meinung, bemerkte er, ſey auf eine hoͤchſt ge⸗
faͤhrliche
Weiſe, auf dieſes Mannes Seite, der⸗
geſtalt
, daß ſelbſt in dem dreimal von ihm einge⸗
aͤſcherten
Wittenberg, eine Stimme zu ſeinem
Vortheil ſpreche; und da er ſein Anerbieten, 2115
falls er damit abgewieſen werden ſollte, unfehl⸗
bar
, unter gehaͤſſigen Bemerkungen, zur Wiſ⸗
ſenſchaft
des Volks bringen wuͤrde, ſo koͤnne
dasſelbe leicht in dem Grade verfuͤhrt werden,
daß mit der Staatsgewalt gar nichts mehr gegen 2120
ihn auszurichten ſey.
Er ſchloß, daß man, in
dieſem außerordentlichen Fall, uͤber die Bedenk⸗
lichkeit
, mit einem Staatsbuͤrger, der die Waf⸗
fen
ergriffen, in Unterhandlung zu treten, hin⸗
weggehen
muͤſſe; daß derselbe in der That durch 2125
das Verfahren, das man gegen ihn beobachtet,
auf gewiſſe Weiſe außer der Staatsverbindung
geſetzt worden ſey; und kurz, daß man ihn, um
aus dem Handel zu kommen, mehr als eine
fremde, in das Land gefallene Macht, wozu er 2130
ſich auch, da er ein Auslaͤnder ſey, gewiſſer⸗
maßen
qualifizire, als einen Rebellen, der ſich
94Faksimilegegen den Thron auflehne, betrachten muͤſſe. —

Der Kurfuͤrſt erhielt dieſen Brief eben, als der
Prinz Chriſtiern von Meißen, Generaliſſimus 2135
des Reichs, Oheim des bei Muͤhlberg geſchlagenen
und an ſeinen Wunden noch daniederliegenden
Prinzen Friedrich von Meißen; der Großkanzler
des Tribunals, Graf Wrede; Graf Kallheim,
Praͤſident der Staatskanzlei; und die beiden 2140
Herren Hinz und Kunz von Tronka, dieſer
Kaͤmmerer, jener Mundſchenk, die Jugend⸗
freunde
und Vertrauten des Herrn, in dem
Schloſſe gegenwaͤrtig waren.
Der Kaͤmmerer,
Herr Kunz, der, in der Qualitaͤt eines Geheimen⸗2145
raths
, des Herrn geheime Correſpondenz, mit der
Befugniß, ſich ſeines Namens und Wappens zu
bedienen, beſorgte, nahm zuerſt das Wort, und
nachdem er noch einmal weitlaͤufig auseinander
gelegt hatte, daß er die Klage, die der Roßhaͤnd⸗2150
ler
gegen den Junker, ſeinen Vetter, bei dem
Tribunal eingereicht, nimmermehr durch eine
eigenmaͤchtige Verfuͤgung niedergeſchlagen haben
wuͤrde, wenn er ſie nicht, durch falſche Anga⸗
ben
verfuͤhrt, fuͤr eine voͤllig grundloſe und 2155
95Faksimilenichtsnutzige Plackerei gehalten haͤtte, kam er
auf die gegenwaͤrtige Lage der Dinge.
Er be⸗
merkte
, daß, weder nach goͤttlichen noch menſch⸗
lichen
Geſetzen, der Roßkamm, um dieſes Miß⸗
griffs
willen, befugt geweſen waͤre, eine ſo un⸗2160
geheure
Selbſtrache, als er ſich erlaubt, auszu⸗
uͤben
; ſchilderte den Glanz, der durch eine Ver⸗
handlung
mit demſelben, als einer rechtlichen
Kriegsgewalt, auf ſein gottverdammtes Haupt
falle; und die Schmach, die dadurch auf die ge⸗2165
heiligte
Perſon des Kurfuͤrſten zuruͤckſpringe,
ſchien ihm ſo unertraͤglich, daß er, im Feuer
der Beredtſamkeit, lieber das Aeußerſte erleben,
den Rechtsſchluß des raſenden Rebellen erfuͤllt,
und den Junker, ſeinen Vetter, zur Dickfuͤtte⸗2170
rung
der Rappen nach Kohlhaaſenbruͤck abge⸗
fuͤhrt
ſehen, als den Vorſchlag, den der Doctor
Luther gemacht, angenommen wiſſen wollte.

Der Großkanzler des Tribunals, Graf Wrede,
aͤußerte, halb zu ihm gewandt, ſein Bedauern, 2175
daß eine ſo zarte Sorgfalt, als er, bei der Auf⸗
loͤſung
dieſer allerdings mißlichen Sache, fuͤr den
Ruhm des Herrn zeige, ihn nicht, bei der erſten
96FaksimileVeranlaſſung derſelben, erfuͤllt haͤtte.
Er ſtellte
dem Kurfuͤrſten ſein Bedenken vor, die Staats⸗2180
gewalt
, zur Durchſetzung einer offenbar unrecht⸗
lichen
Maßregel, in Anſpruch zu nehmen; be⸗
merkte
, mit einem bedeutenden Blick auf den
Zulauf, den der Roßhaͤndler fortdauernd im
Lande fand, daß der Faden der Frevelthaten ſich 2185
auf dieſe Weiſe ins Unendliche fortzuſpinnen
drohe, und erklaͤrte, daß nur ein ſchlichtes Recht⸗
thun
, indem man unmittelbar und ruͤckſichtslos
den Fehltritt, den man ſich zu Schulden kommen
laſſen, wieder gut machte, ihn abreißen und die 2190
Regierung gluͤcklich aus dieſem haͤßlichen Handel
herausziehen koͤnne.
Der Prinz Chriſtiern von
Meißen, auf die Frage des Herrn, was er da⸗
von
halte? aͤußerte, mit Verehrung gegen den
Großkanzler gewandt: die Denkungsart, die er 2195
an den Tag lege, erfuͤlle ihn zwar mit dem groͤ⸗
ßeſten
Reſpect; indem er aber dem Kohlhaas zu
ſeinem Recht verhelfen wolle, bedenke er nicht,
daß er Wittenberg und Leipzig, und das ganze
durch ihn mißhandelte Land, in ſeinem gerech⸗2200
ten
Anſpruch auf Schadenerſatz, oder wenigſtens
Beſtraf-97FaksimileBeſtrafung, beeintraͤchtige.
Die Ordnung des
Staats ſey, in Beziehung auf dieſen Mann,
ſo verruͤckt, daß man ſie ſchwerlich durch einen
Grundſatz, aus der Wiſſenſchaft des Rechts ent⸗2205
lehnt
, werde einrenken koͤnnen.
Daher ſtimme
er, nach der Meinung des Kaͤmmerers, dafuͤr,
das Mittel, das fuͤr ſolche Faͤlle eingeſetzt ſey,
ins Spiel zu ziehen: einen Kriegshaufen, von
hinreichender Groͤße zuſammenzuraffen, und 2210
den Roßhaͤndler, der in Luͤtzen aufgepflanzt ſey,
damit aufzuheben oder zu erdruͤcken.
Der Kaͤm⸗
merer
, indem er fuͤr ihn und den Kurfuͤrſten
Stuͤhle von der Wand nahm, und auf eine
verbindliche Weiſe ins Zimmer ſetzte, ſagte: 2215
er freue ſich, daß ein Mann von ſeiner Recht⸗
ſchaffenheit
und Einſicht mit ihm in dem Mit⸗
tel
, dieſe Sache zweideutiger Art beizulegen,
uͤbereinſtimme.
Der Prinz, indem er den Stuhl,
ohne ſich zu ſetzen, in der Hand hielt, und ihn an⸗2220
ſah
, verſicherte ihn: daß er gar nicht Urſache haͤt⸗
te
ſich deshalb zu freuen, indem die damit verbun⸗
dene
Maßregel nothwendig die waͤre, einen Ver⸗
haftsbefehl
vorher gegen ihn zu erlaſſen, und wegen
Kleiſts Erzaͤhl. G98FaksimileMißbrauchs des landesherrlichen Namens den 2225
Prozeß zu machen. Denn wenn Nothwendig⸗
keit
erfordere, den Schleier vor dem Thron der
Gerechtigkeit niederzulaſſen, uͤber eine Reihe von
Frevelthaten, die unabſehbar wie ſie ſich fort⸗
erzeugt
, vor den Schranken desſelben zu erſchei⸗2230
nen
, nicht mehr Raum faͤnden, ſo gelte das
nicht von der erſten, die ſie veranlaßt; und al⸗
lererſt
ſeine Anklage auf Leben und Tod koͤnne
den Staat zur Zermalmung des Roßhaͤndlers
bevollmaͤchtigen, deſſen Sache, wie bekannt, 2235
ſehr gerecht ſey, und dem man das Schwerdt,
das er fuͤhre, ſelbſt in die Hand gegeben.
Der
Kurfuͤrſt, den der Junker bei dieſen Worten
betroffen anſah, wandte ſich, indem er uͤber das
ganze Geſicht roth ward, und trat ans Fenſter.
2240
Der Graf Kallheim, nach einer verlegenen
Pauſe von allen Seiten, ſagte, daß man auf
dieſe Weiſe aus dem Zauberkreiſe, in dem man
befangen, nicht herauskaͤme.
Mit demſelben
Rechte koͤnne ſeinem Neffen, dem Prinzen 2245
Friedrich, der Prozeß gemacht werden; denn
auch er haͤtte, auf dem Streifzug ſonderbarer
99FaksimileArt, den er gegen den Kohlhaas unternommen,
ſeine Inſtruktion auf mancherlei Weiſe uͤber⸗
ſchritten
: dergeſtalt, daß wenn man nach der 2250
weitlaͤufigen Schaar derjenigen frage, die die
Verlegenheit, in welcher man ſich befinde, ver⸗
anlaßt
, er gleichfalls unter die Zahl derſelben
wuͤrde benannt, und von dem Landesherrn we⸗
gen
deſſen was bei Muͤhlberg vorgefallen, zur 2255
Rechenſchaft gezogen werden muͤſſen.
Der
Mundſchenk, Herr Hinz von Tronka, waͤh⸗
rend
der Kurfuͤrſt mit ungewiſſen Blicken an
ſeinen Tiſch trat, nahm das Wort und ſagte:
er begriffe nicht, wie der Staatsbeſchluß, der 2260
zu faſſen ſey, Maͤnnern von ſolcher Weisheit,
als hier verſammelt waͤren, entgehen koͤnne.

Der Roßhaͤndler habe, ſeines Wiſſens, gegen
bloß freies Geleit nach Dresden, und erneuerte
Unterſuchung ſeiner Sache, verſprochen, den 2265
Haufen, mit dem er in das Land gefallen, aus⸗
einander
gehen zu laſſen.
Daraus aber folge
nicht, daß man ihm, wegen dieſer frevelhaften
Selbſtrache, Amneſtie ertheilen muͤſſe: zwei
Rechtsbegriffe, die der Doctor Luther ſowohl,2270
G 2100Faksimileals auch der Staatsrath zu verwechſeln ſcheine.

Wenn, fuhr er fort, indem er den Finger an
die Naſe legte, bei dem Tribunal zu Dresden,
gleichviel wie, das Erkenntniß der Rappen we⸗
gen
gefallen iſt; ſo hindert nichts, den Kohl⸗2275
haas
auf den Grund ſeiner Mordbrennereien
und Raͤubereien einzuſtecken: eine ſtaatskluge
Wendung, die die Vortheile der Anſichten bei⸗
der
Staatsmaͤnner vereinigt, und des Beifalls
der Welt und Nachwelt gewiß iſt. —
Der Kur⸗2280
fuͤrſt
, da der Prinz ſowohl als der Großkanzler
dem Mundſchenk, Herrn Hinz, auf dieſe Rede
mit einem bloßen Blick antworteten, und die
Verhandlung mithin geſchloſſen ſchien, ſagte:
daß er die verſchiedenen Meinungen, die ſie ihm 2285
vorgetragen, bis zur naͤchſten Sitzung des
Staatsraths bei ſich ſelbſt uͤberlegen wuͤrde. —

Es ſchien, die Praͤliminar-Maßregel, deren
der Prinz gedacht, hatte ſeinem fuͤr Freundſchaft
ſehr empfaͤnglichen Herzen die Luſt benommen, 2290
den Heereszug gegen den Kohlhaas, zu welchem
ſchon Alles vorbereitet war, auszufuͤhren.
We⸗
nigſtens
behielt er den Großkanzier, Großkanzler, Großkanzler, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] Großkanzler, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] Großkanzler, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] Grafen
101FaksimileWrede, deſſen Meinung ihm die zweckmaͤßigſte
ſchien, bei ſich zuruͤck; und da dieſer ihm Briefe 2295
vorzeigte, aus welchen hervorging, daß der Roß⸗
haͤndler
in der That ſchon zu einer Staͤrke von
vierhundert Mann herangewachſen ſey; ja, bei
der allgemeinen Unzufriedenheit, die wegen der
Unziemlichkeiten des Kaͤmmerers im Lande 2300
herrſchte, in kurzem auf eine doppelte und drei⸗
fache
Staͤrke rechnen koͤnne: ſo entſchloß ſich der
Kurfuͤrſt, ohne weiteren Anſtand, den Rath,
den ihm der Doctor Luther ertheilt, anzuneh⸗
men
.
Dem gemaͤß uͤbergab er dem Grafen 2305
Wrede die ganze Leitung der Kohlhaaſiſchen
Sache; und ſchon nach wenigen Tagen erſchien
ein Placat, das wir, dem Hauptinhalt nach,
folgendermaßen mittheilen:

„Wir ⁊c. ⁊c. etc. etc. etc. etc. etc. etc. etc. etc. etc. etc. Kurfuͤrſt von Sachſen, ertheilen, 2310
in beſonders gnaͤdiger Ruͤckſicht auf die an
Uns ergangene Fuͤrſprache des Doctors
Martin Luther, dem Michael Kohlhaas,
Roßhaͤndler aus dem Brandenburgiſchen,
unter der Bedingung, binnen drei Tagen 2315
nach Sicht die Waffen, die er ergriffen,
102Faksimileniederzulegen, Behufs einer erneuerten
Unterſuchung ſeiner Sache, freies Geleit
nach Dresden; dergeſtalt zwar, daß,
wenn derſelbe, wie nicht zu erwarten, 2320
bei dem Tribunal zu Dresden mit ſeiner
Klage, der Rappen wegen, abgewieſen
werden ſollte, gegen ihn, ſeines eigen⸗
maͤchtigen
Unternehmens wegen, ſich
ſelbſt Recht zu verſchaffen, mit der gan⸗2325
zen
Strenge des Geſetzes verfahren wer⸗
den
ſolle; im entgegengeſetzten Fall aber,
ihm mit ſeinem ganzen Haufen, Gnade
fuͤr Recht bewilligt, und voͤllige Amne⸗
ſtie
, ſeiner in Sachſen ausgeuͤbten Ge⸗2330
waltthaͤtigkeiten
wegen, zugeſtanden ſeyn
ſolle.“

Kohlhaas hatte nicht ſobald, durch den Doctor
Luther, ein Exemplar dieſes in allen Plaͤtzen des
Landes angeſchlagenen Placats erhalten, als er, ſo2335
bedingungsweiſe auch die darin gefuͤhrte Sprache
war, ſeinen ganzen Haufen ſchon, mit Geſchen⸗
ken
, Dankſagungen und zweckmaͤßigen Ermah⸗
nungen
auseinander gehen ließ.
Er legte Alles,
103Faksimilewas er an Geld, Waffen und Geraͤthſchaften 2340
erbeutet haben mogte, bei den Gerichten zu
Luͤtzen, als kurfuͤrſtliches Eigenthum, nieder;
und nachdem er den Waldmann mit Briefen,
wegen Wiederkaufs ſeiner Meierei, wenn es
moͤglich ſey, an den Amtmann nach Kohlhaa⸗2345
ſenbruͤck
, und den Sternbald zur Abholung ſei⸗
ner
Kinder, die er wieder bei ſich zu haben
wuͤnſchte, nach Schwerin geſchickt hatte, verließ
er das Schloß zu Luͤtzen, und ging, unerkannt,
mit dem Reſt ſeines kleinen Vermoͤgens, das 2350
er in Papieren bei ſich trug, nach Dresden.

Der Tag brach eben an, und die ganze Stadt
ſchlief noch, als er an die Thuͤr der kleinen, in
der Pirnaiſchen Vorſtadt gelegenen Beſitzung,
die ihm durch die Rechtſchaffenheit des Amt⸗2355
manns
uͤbrig geblieben war, anklopfte, und
Thomas, dem alten, die Wirthſchaft fuͤhrenden
Hausmann, der ihm mit Erſtaunen und Be⸗
ſtuͤrzung
aufmachte, ſagte: er moͤgte dem Prin⸗
zen
von Meißen auf dem Gubernium melden, 2360
daß er, Kohlhaas der Roßhaͤndler, da waͤre.

Der Prinz von Meißen, der auf dieſe Mel⸗
104Faksimiledung
fuͤr zweckmaͤßig hielt, augenblicklich ſich
ſelbſt von dem Verhaͤltniß, in welchem man mit
dieſem Mann ſtand, zu unterrichten, fand, als 2365
er mit einem Gefolge von Rittern und Troß⸗
knechten
bald darauf erſchien, in den Straßen,
die zu Kohlhaaſens Wohnung fuͤhrten, ſchon
eine unermeßliche Menſchenmenge verſammelt.

Die Nachricht, daß der Wuͤrgengel da ſey, der 2370
die Volksbedruͤcker mit Feuer und Schwerdt ver⸗
folge
, hatte ganz Dresden, Stadt und Vor⸗
ſtadt
, auf die Beine gebracht; man mußte die
Hausthuͤr vor dem Andrang des neugierigen
Haufens verriegeln, und die Jungen kletterten 2375
an den Fenſtern heran, um den Mordbrenner,
der darin fruͤhſtuͤckte, in Augenſchein zu nehmen.

Sobald der Prinz, mit Huͤlfe der ihm Platz
machenden Wache, ins Haus gedrungen, und
in Kohlhaaſens Zimmer getreten war, fragte er 2380
dieſen, welcher halb entkleidet an einem Tiſche
ſtand: ob er Kohlhaas, der Roßhaͤndler, waͤre?
worauf Kohlhaas, indem er eine Brieftaſche mit
mehreren uͤber ſein Verhaͤltniß lautenden Papie⸗
ren
aus ſeinem Gurt nahm, und ihm ehrerbie⸗2385
105Faksimiletig
uͤberreichte, antwortete: ja! und hinzuſetzte:
er finde ſich nach Aufloͤſung ſeines Kriegshau⸗
fens
, der ihm ertheilten landesherrlichen Freiheit
gemaͤß, in Dresden ein, um ſeine Klage, der
Rappen wegen, gegen den Junker Wenzel von 2390
Tronka vor Gericht zu bringen.
Der Prinz,
nach einem fluͤchtigen Blick, womit er ihn von
Kopf zu Fuß uͤberſchaute, durchlief die in der
Brieftaſche befindlichen Papiere; ließ ſich von
ihm erklaͤren, was es mit einem von dem Ge⸗2395
richt
zu Luͤtzen ausgeſtellten Schein, den er
darin fand, uͤber die zu Gunſten des kurfuͤrſtli⸗
chen
Schatzes gemachte Depoſition fuͤr eine Be⸗
wandtniß
habe; und nachdem er die Art des
Mannes noch, durch Fragen mancherlei Gat⸗2400
tung
, nach ſeinen Kindern, ſeinem Vermoͤgen
und der Lebensart die er kuͤnftig zu fuͤhren denke,
gepruͤft, und uͤberall ſo, daß man wohl ſeinet⸗
wegen
ruhig ſeyn konnte, befunden hatte, gab
er ihm die Briefſchaften wieder, und ſagte: daß 2405
ſeinem Prozeß nichts im Wege ſtuͤnde, und daß
er ſich nur unmittelbar, um ihn einzuleiten, an
den Großkanzler des Tribunals, Grafen Wrede,
106Faksimileſelbſt wenden moͤgte. Inzwiſchen, ſagte der
Prinz, nach einer Pauſe, indem er ans Fenſter 2410
trat, und mit großen Augen das Volk, das vor
dem Hauſe verſammelt war, uͤberſchaute: du
wirſt auf die erſten Tage eine Wache annehmen
muͤſſen, die dich, in deinem Hauſe ſowohl, als
wenn du ausgehſt, ſchuͤtze! — —
Kohlhaas ſah 2415
betroffen vor ſich nieder, und ſchwieg.
Der
Prinz ſagte: „gleichviel!“ indem er das Fenſter
wieder verließ.
„Was daraus entſteht, du haſt
es dir ſelbſt beizumeſſen;“ und damit wandte er
ſich wieder nach der Thuͤr, in der Abſicht, das 2420
Haus zu verlaſſen.
Kohlhaas, der ſich beſonnen
hatte, ſprach: Gnaͤdigſter Herr! thut, was ihr
wollt!
Gebt mir euer Wort, die Wache, ſobald
ich es wuͤnſche, wieder aufzuheben: ſo habe ich
gegen dieſe Maßregel nichts einzuwenden!
Der 2425
Prinz erwiederte: das beduͤrfe der Rede nicht;
und nachdem er drei Landsknechten, die man
ihm zu dieſem Zweck vorſtellte, bedeutet hatte:
daß der Mann, in deſſen Hauſe ſie zuruͤckblie⸗
ben
, frei waͤre, und daß ſie ihm bloß zu ſei⸗2430
nem
Schutz, wenn er ausginge, folgen ſollten,
107Faksimilegruͤßte er den Roßhaͤndler mit einer herablaſ⸗
ſenden
Bewegung der Hand, und entfernte ſich.

Gegen Mittag begab ſich Kohlhaas, von
ſeinen drei Landsknechten begleitet, unter dem 2435
Gefolge einer unabſehbaren Menge, die ihm
aber auf keine Weiſe, weil ſie durch die Polizei
gewarnt war, etwas zu Leide that, zu dem
Großkanzler des Tribunals, Grafen Wrede.

Der Großkanzler, der ihn mit Milde und 2440
Freundlichkeit in ſeinem Vorgemach empfing,
unterhielt ſich waͤhrend zwei ganzer Stunden
mit ihm, und nachdem er ſich den ganzen Ver⸗
lauf
der Sache, von Anfang bis zu Ende,
hatte erzaͤhlen laſſen, wies er ihn, zur unmit⸗2445
telbaren
Abfaſſung und Einreichung der Klage,
an einen, bei dem Gericht angeſtellten, beruͤhmt⸗
en
Advocaten der Stadt.
Kohlhaas, ohne
weiteren Verzug, verfuͤgte ſich in deſſen Wo⸗
hnung
; und nachdem die Klage, ganz der erſten 2450
niedergeſchlagenen gemaͤß, auf Beſtrafung des
Junkers nach den Geſetzen, Wiederherſtellung
der Pferde in den vorigen Stand, und Erſatz
ſeines Schadens ſowohl, als auch deſſen,
108Faksimileden ſein bei Muͤhlberg gefallener Knecht Herſe 2455
erlitten hatte, zu Gunſten der alten Mutter
desſelben, aufgeſetzt war, begab er ſich wie⸗
der
, unter Begleitung des ihn immer noch an⸗
gaffenden
Volks, nach Hauſe zuruͤck, wohl ent⸗
ſchloſſen
, es anders nicht, als nur wenn noth⸗2460
wendige
Geſchaͤfte ihn riefen, zu verlaſſen.

Inzwiſchen war auch der Junker ſeiner
Haft in Wittenberg entlaſſen, und nach Her⸗
ſtellung
von einer gefaͤhrlichen Roſe, die ſeinen
Fuß entzuͤndet hatte, von dem Landesgericht 2465
unter peremtoriſchen Bedingungen aufgefordert
worden, ſich zur Verantwortung auf die von
dem Roßhaͤndler Kohlhaas gegen ihn eingereichte
Klage, wegen widerrechtlich abgenommener und
zu Grunde gerichteter Rappen, in Dresden zu 2470
ſtellen.
Die Gebruͤder Kaͤmmerer und Mund⸗
ſchenk
von Tronka, Lehnsvettern des Junkers,
in deren Hauſe er abtrat, empfingen ihn mit
der groͤßeſten Erbitterung und Verachtung; ſie
nannten ihn einen Elenden und Nichtswuͤrdi⸗2475
gen
, der Schande und Schmach uͤber die ganze
Familie bringe, kuͤndigten ihm an, daß er ſei⸗
109Faksimilenen
Prozeß nunmehr unfehlbar verlieren wuͤrde,
und forderten ihn auf, nur gleich zur Herbeiſchaf⸗
fung
der Rappen, zu deren Dickfuͤtterung er, 2480
zum Hohngelaͤchter der Welt, verdammt wer⸗
den
werde, Anſtalt zu machen.
Der Junker
ſagte, mit ſchwacher, zitternder Stimme: er
ſey der bejammernswuͤrdigſte Menſch von der
Welt.
Er verſchwor ſich, daß er von dem gan⸗2485
zen
verwuͤnſchten Handel, der ihn ins Ungluͤck
ſtuͤrze, nur wenig gewußt, und daß der Schloß⸗
voigt
und der Verwalter an Allem Schuld waͤ⸗
ren
, indem ſie die Pferde, ohne ſein entfern⸗
teſtes
Wiſſen und Wollen, bei der Ernte ge⸗2490
braucht
, und durch unmaͤßige Anſtrengungen,
zum Theil auf ihren eigenen Feldern, zu Grunde
gerichtet haͤtten.
Er ſetzte ſich, indem er dies
ſagte, und bat ihn nicht durch Kraͤnkungen
und Beleidigungen in das Uebel, von dem er 2495
nur ſo eben erſt erſtanden ſey, muthwillig zu⸗
ruͤckzuſtuͤrzen
.
Am andern Tage ſchrieben die
Herren Hinz und Kunz, die in der Gegend der
eingeaͤſcherten Tronkenburg Guͤter beſaßen, auf
Anſuchen des Junkers, ihres Vetters, weil 2500
110Faksimiledoch nichts anders uͤbrig blieb, an ihre dort
befindlichen Verwalter und Paͤchter, um Nach⸗
richt
uͤber die an jenem ungluͤcklichen Tage ab⸗
handen
gekommenen und ſeitdem gaͤnzlich ver⸗
ſchollenen
Rappen einzuziehn.
Aber Alles, was 2505
ſie bei der gaͤnzlichen Verwuͤſtung des Platzes,
und der Niedermetzelung faſt aller Einwohner,
erfahren konnten, war, daß ein Knecht ſie, von
den flachen Hieben des Mordbrenners getrieben,
aus dem brennenden Schuppen, in welchem ſie 2510
ſtanden, gerettet, nachher aber auf die Frage,
wo er ſie hinfuͤhren, und was er damit anfangen
ſolle, von dem grimmigen Wuͤtherich einen Fuß⸗
tritt
zur Antwort erhalten habe.
Die alte, von
der Gicht geplagte Haushaͤlterin des Junkers, 2515
die ſich nach Meißen gefluͤchtet hatte, verſicherte
demſelben, auf eine ſchriftliche Anfrage, daß
der Knecht ſich, am Morgen jener entſetzlichen
Nacht, mit den Pferden nach der brandenburgi⸗
ſchen
Graͤnze gewandt habe; doch alle Nachfra⸗2520
gen
, die man daſelbſt anſtellte, waren vergeb⸗
lich
, und es ſchien dieſer Nachricht ein Irrthum
zum Grunde zu liegen, indem der Junker keinen
111FaksimileKnecht hatte, der im Brandenburgiſchen, oder
auch nur auf der Straße dorthin, zu Hauſe 2525
war.
Maͤnner aus Dresden, die wenige Tage
nach dem Brande der Tronkenburg in Wilsdruf
geweſen waren, ſagten aus, daß um die benannte
Zeit ein Knecht mit zwei an der Halfter gehen⸗
den
Pferden dort angekommen, und die Thiere, 2530
weil ſie ſehr elend geweſen waͤren, und nicht wei⸗
ter
fort gekonnt haͤtten, im Kuhſtall eines
Schaͤfers, der ſie wieder haͤtte aufbringen wol⸗
len
, ſtehen gelaſſen haͤtte.
Es ſchien mancherlei
Gruͤnde wegen ſehr wahrſcheinlich, daß dies die 2535
in Unterſuchung ſtehenden Rappen waren; aber
der Schaͤfer aus Wilsdruf hatte ſie, wie Leute,
die dorther kamen, verſicherten, ſchon wieder,
man wußte nicht an wen, verhandelt; und ein
drittes Geruͤcht, deſſen Urheber unentdeckt blieb, 2540
ſagte gar aus, daß die Pferde bereits in Gott
verſchieden, und in der Knochengrube zu Wilsdruf
begraben waͤren.
Die Herren Hinz und Kunz,
denen dieſe Wendung der Dinge, wie man leicht
begreift, die erwuͤnſchteſte war, indem ſie da⸗2545
durch
, bei des Junkers ihres Vetters Erman⸗
112Faksimilegelung
eigener Staͤlle, der Nothwendigkeit, die
Rappen in den ihrigen aufzufuͤttern, uͤberhoben
waren, wuͤnſchten gleichwohl, voͤlliger Sicher⸗
heit
wegen, dieſen Umſtand zu bewahrheiten.
2550
Herr Wenzel von Tronka erließ demnach, als
Erb-, Lehns- und Gerichtsherr, ein Schrei⸗
ben
an die Gerichte zu Wilsdruf, worin er die⸗
ſelben
, nach einer weitlaͤufigen Beſchreibung der
Rappen, die, wie er ſagte, ihm anvertraut und 2555
durch einen Unfall abhanden gekommen waͤren,
dienſtfreundlichſt erſuchte, den dermaligen Auf⸗
enthalt
derſelben zu erforſchen, und den Eigner,
wer er auch ſey, aufzufordern und anzuhalten,
ſie, gegen reichliche Wiedererſtattung aller Ko⸗2560
ſten
, in den Staͤllen des Kaͤmmerers, Herrn
Kunz, zu Dresden abzuliefen. abzuliefern.
Dem gemaͤß er⸗
ſchien
auch wirklich, wenige Tage darauf, der
Mann an den ſie der Schaͤfer aus Wilsdruf
verhandelt hatte, und fuͤhrte ſie, duͤrr und wan⸗2565
kend
, an die Runge ſeines Karrens gebunden, auf
den Markt der Stadt; das Ungluͤck aber Herrn
Wenzels, und noch mehr des ehrlichen Kohlhaas
wollte, daß es der Abdecker aus Doͤbbeln war.

Sobald 113Faksimile

Sobald Herr Wenzel, in Gegenwart des 2570
Kaͤmmerers, ſeines Vetters, durch ein unbeſtimm⸗
tes
Geruͤcht vernommen hatte, daß ein Mann
mit zwei ſchwarzen aus dem Brande der Tron⸗
kenburg
entkommenen Pferden in der Stadt an⸗
gelangt
ſey, begaben ſich beide, in Begleitung 2575
einiger aus dem Hauſe zuſammengerafften Knech⸗
te
, auf den Schloßplatz, wo er ſtand, um ſie
demſelben, falls es die dem Kohlhaas zugehoͤri⸗
gen
waͤren, gegen Erſtattung der Koſten abzu⸗
nehmen
, und nach Hauſe zu fuͤhren.
Aber wie 2580
betreten waren die Ritter, als ſie bereits einen,
von Augenblick zu Augenblick ſich vergroͤßernden
Haufen von Menſchen, den das Schauſpiel her⸗
beigezogen
, um den zweiraͤdrigen Karren, an
dem die Thiere befeſtigt waren, erblickten; un⸗2585
ter
unendlichem Gelaͤchter einander zurufend, daß
die Pferde ſchon, um derenthalben der Staat
wanke, an den Schinder gekommen waͤren!
Der
Junker, der um den Karren herumgegangen
war, und die jaͤmmerlichen Thiere, die alle Au⸗2590
genblicke
ſterben zu wollen ſchienen, betrachtet
hatte, ſagte verlegen: das waͤren die Pferde
Kleiſts Erzaͤhl. H114Faksimilenicht, die er dem Kohlhaas abgenommen; doch
Herr Kunz, der Kaͤmmerer, einen Blick ſprach⸗
loſen
Grimms voll auf ihn werfend, der, wenn 2595
er von Eiſen geweſen waͤre, ihn zerſchmettert
haͤtte, trat, indem er ſeinen Mantel, Orden
und Kette entbloͤßend, zuruͤckſchlug, zu dem Ab⸗
decker
heran, und fragte ihn: ob das die Rappen
waͤren, die der Schaͤfer von Wilsdruf an ſich 2600
gebracht, und der Junker Wenzel von Tronka,
dem ſie gehoͤrten, bei den Gerichten daſelbſt re⸗
quirirt
haͤtte?
Der Abdecker, der, einen Eimer
Waſſer in der Hand, beſchaͤftigt war, einen
dicken, wohlbeleibten Gaul, der ſeinen Karren 2605
zog, zu traͤnken, ſagte: „die ſchwarzen?“ —

Er ſtreifte dem Gaul, nachdem er den Eimer
niedergeſetzt, das Gebiß aus dem Maul, und
ſagte: „die Rappen, die an die Runge gebun⸗
den
waͤren, haͤtte ihm der Schweinehirte von 2610
Hainichen verkauft.
Wo der ſie her haͤtte, und
ob ſie von dem Wilsdrufer Schaͤfer kaͤmen, das
wiſſe er nicht.
Ihm haͤtte,“ ſprach er, waͤhrend
er den Eimer wieder aufnahm, und zwiſchen
Deichſel und Knie anſtemmte: „ihm haͤtte der 2615
115FaksimileGerichtsbote aus Wilsdruf geſagt, daß er ſie
nach Dresden in das Haus derer von Tronka
bringen ſolle; aber der Junker, an den er ge⸗
wieſen
ſey, heiße Kunz.“
Bei dieſen Worten
wandte er ſich mit dem Reſt des Waſſers, den 2620
der Gaul im Eimer uͤbrig gelaſſen hatte, und
ſchuͤttete ihn auf das Pflaſter der Straße aus.

Der Kaͤmmerer, der, von den Blicken der
hohnlachenden Menge umſtellt, den Kerl, der
mit empfindungsloſem Eifer ſeine Geſchaͤfte be⸗2625
trieb
, nicht bewegen konnte, daß er ihn anſah,
ſagte: daß er der Kaͤmmerer, Kunz von Tronka,
waͤre; die Rappen aber, die er an ſich bringen
ſolle, muͤßten dem Junker, ſeinem Vetter, ge⸗
hoͤren
; von einem Knecht, der bei Gelegenheit 2630
des Brandes aus der Tronkenburg entwichen, an
den Schaͤfer zu Wilsdruf gekommen, und ur⸗
ſpruͤnglich
zwei dem Roßhaͤndler Kohlhaas zuge⸗
hoͤrige
Pferde ſeyen!
Er fragte den Kerl, der
mit geſpreizten Beinen daſtand, und ſich die Ho⸗2635
ſen
in die Hoͤhe zog: ob er davon nichts wiſſe?

Und ob ſie der Schweinehirte von Hainichen
nicht vielleicht, auf welchen Umſtand Alles an⸗
H 2116Faksimilekomme,
von dem Wilsdrufer Schaͤfer, oder von
einem Dritten, der ſie ſeinerſeits von demſelben 2640
gekauft, erſtanden haͤtte? —
Der Abdecker, der
ſich an den Wagen geſtellt und ſein Waſſer abge⸗
ſchlagen
hatte, ſagte: „er waͤre mit den Rappen
nach Dresden beſtellt, um in dem Hauſe derer
von Tronka ſein Geld dafuͤr zu empfangen.
Was 2645
er da vorbraͤchte, verſtaͤnde er nicht; und ob ſie,
vor dem Schweinehirten aus Hainichen, Peter
oder Paul beſeſſen haͤtte, oder der Schaͤfer aus
Wilsdruf, gelte ihm, da ſie nicht geſtohlen waͤ⸗
ren
, gleich.“
Und damit ging er, die Peitſche 2650
quer uͤber ſeinen breiten Ruͤcken, nach einer
Kneipe, die auf dem Platze lag, in der Abſicht,
hungrig wie er war, ein Fruͤhſtuͤck einzunehmen.

Der Kaͤmmerer, der auf der Welt Gottes nicht
wußte, was er mit Pferden, die der Schweine⸗2655
hirte
von Hainichen an den Schinder in Doͤbbeln
verkauft, machen ſolle, falls es nicht diejenigen
waͤren, auf welchen der Teufel durch Sachſen
ritt, forderte den Junker auf, ein Wort zu ſpre⸗
chen
; doch da dieſer mit bleichen, bebenden Lip⸗2660
pen
erwiederte: das Rathſamſte waͤre, daß man
117Faksimiledie Rappen kaufe, ſie moͤgten dem Kohlhaas ge⸗
hoͤren
oder nicht: ſo trat der Kaͤmmerer, Vater
und Mutter, die ihn geboren, verfluchend, in⸗
dem
er ſich den Mantel zuruͤckſchlug, gaͤnzlich 2665
unwiſſend, was er zu thun oder zu laſſen habe,
aus dem Haufen des Volks zuruͤck.
Er rief den
Freiherrn von Wenk, einen Bekannten, der
uͤber die Straße ritt, zu ſich heran, und trotzig,
den Platz nicht zu verlaſſen, eben weil das Ge⸗2670
ſindel
hoͤhniſch auf ihn einblickte, und, mit vor
dem Mund zuſammengedruͤckten Schnupftuͤchern,
nur auf ſeine Entfernung zu warten ſchien, um
loszuplatzen, bat er ihn, bei dem Großkanzler,
Grafen Wrede, abzuſteigen, und durch deſſen 2675
Vermittelung den Kohlhaas zur Beſichtigung der
Rappen herbeizuſchaffen.
Es traf ſich, daß Kohl⸗
haas
eben, durch einen Gerichtsboten herbeige⸗
rufen
, in dem Gemach des Großkanzlers, ge⸗
wiſſer
, die Depoſition in Luͤtzen betreffenden Er⸗2680
laͤuterungen
wegen, die man von ihm bedurfte,
gegenwaͤrtig war, als der Freiherr, in der eben
erwaͤhnten Abſicht, zu ihm ins Zimmer trat;
und waͤhrend der Großkanzler ſich mit einem
118Faksimileverdrießlichen Geſicht vom Seſſel erhob, und 2685
den Roßhaͤndler, deſſen Perſon jenem unbekannt
war, mit den Papieren, die er in der Hand
hielt, zur Seite ſtehen ließ, ſtellte der Freiherr
ihm die Verlegenheit, in welcher ſich die Herren
von Tronka befanden, vor.
Der Abdecker von 2690
Doͤbbeln ſey, auf mangelhafte Requiſition der
Wilsdrufer Gerichte, mit Pferden erſchienen,
deren Zuſtand ſo heillos beſchaffen waͤre, daß der
Junker Wenzel anſtehen muͤſſe, ſie fuͤr die dem
Kohlhaas gehoͤrigen anzuerkennen; dergeſtalt, 2695
daß, falls man ſie gleichwohl dem Abdecker ab⸗
nehmen
ſolle, um in den Staͤllen der Ritter, zu
ihrer Wiederherſtellung, einen Verſuch zu ma⸗
chen
, vorher eine Ocular-Inſpection des Kohl⸗
haas
, um den beſagten Umſtand außer Zweifel 2700
zu ſetzen, nothwendig ſey.
„Habt demnach die
Guͤte, ſchloß er, den Roßhaͤndler durch eine
Wache aus ſeinem Hauſe abholen und auf den
Markt, wo die Pferde ſtehen, hinfuͤhren zu
laſſen.“
Der Großkanzler, indem er ſich eine 2705
Brille von der Naſe nahm, ſagte: daß er in
einem doppelten Irrthum ſtuͤnde; einmal, wenn
119Faksimileer glaube, daß der in Rede ſtehende Umſtand
anders nicht, als durch eine Ocular-Inſpection
des Kohlhaas auszumitteln ſey; und dann, wenn 2710
er ſich einbilde, er, der Kanzler, ſey befugt, den
Kohlhaas durch eine Wache, wohin es dem Jun⸗
ker
beliebe, abfuͤhren zu laſſen.
Dabei ſtellte er
ihm den Roßhaͤndler, der hinter ihm ſtand, vor,
und bat ihn, indem er ſich niederließ und ſeine 2715
Brille wieder aufſetzte, ſich in dieſer Sache an
ihn ſelbſt zu wenden. —
Kohlhaas, der mit
keiner Miene, was in ſeiner Seele vorging, zu
erkennen gab, ſagte: daß er bereit waͤre, ihm
zur Beſichtigung der Rappen, die der Abdecker 2720
in die Stadt gebracht, auf den Markt zu folgen.

Er trat, waͤhrend der Freiherr ſich betroffen zu
ihm umkehrte, wieder an den Tiſch des Groß⸗
kanzlers
heran, und nachdem er demſelben noch,
aus den Papieren ſeiner Brieftaſche, mehrere, die 2725
Depoſition in Luͤtzen betreffende Nachrichten ge⸗
geben
hatte, beurlaubte er ſich von ihm; der Frei⸗
herr
, der, uͤber das ganze Geſicht roth, ans
Fenſter getreten war, empfahl ſich ihm gleich⸗
falls
; und beide gingen, begleitet von den drei 2730
120Faksimiledurch den Prinzen von Meißen eingeſetzten Lands⸗
knechten
, unter dem Troß einer Menge von
Menſchen, nach dem Schloßplatz hin.
Der
Kaͤmmerer, Herr Kunz, der inzwiſchen den Vor⸗
ſtellungen
mehrerer Freunde, die ſich um ihn ein⸗2735
gefunden
hatten, zum Trotz, ſeinen Platz, dem
Abdecker von Doͤbbeln gegenuͤber, unter dem
Volke behauptet hatte, trat, ſobald der Freiherr
mit dem Roßhaͤndler erſchien, an den letzteren
heran, und fragte ihn, indem er ſein Schwerdt, 2740
mit Stolz und Anſehen, unter dem Arm hielt:
ob die Pferde, die hinter dem Wagen ſtuͤnden,
die ſeinigen waͤren?
Der Roßhaͤndler, nach⸗
dem
er, mit einer beſcheidenen Wendung gegen
den die Frage an ihn richtenden Herrn, den er 2745
nicht kannte, den Huth gezuͤckt hatte, trat, ohne
ihm zu antworten, im Gefolge ſaͤmmtlicher Rit⸗
ter
, an den Schinderkarren heran; und die Thie⸗
re
, die, auf wankenden Beinen, die Haͤupter
zur Erde gebeugt, daſtanden, und von dem Heu, 2750
das ihnen der Abdecker vorgelegt hatte, nicht
fraßen, fluͤchtig, aus einer Ferne von zwoͤlf
Schritt, in welcher er ſtehen blieb, betrachtet:
121Faksimilegnaͤdigſter Herr! wandte er ſich wieder zu dem
Kaͤmmerer zuruͤck, der Abdecker hat ganz Recht; 2755
die Pferde, die an ſeinen Karren gebunden ſind,
gehoͤren mir!
Und damit, indem er ſich in dem
ganzen Kreiſe der Herren umſah, ruͤckte er den
Huth noch einmal, und begab ſich, von ſeiner
Wache begleitet, wieder von dem Platz hinweg.
2760
Bei dieſen Worten trat der Kaͤmmerer, mit
einem raſchen, ſeinen Helmbuſch erſchuͤtternden
Schritt zu dem Abdecker heran, und warf ihm
einen Beutel mit Geld zu; und waͤhrend dieſer
ſich, den Beutel in der Hand, mit einem bleier⸗2765
nen
Kamm die Haare uͤber die Stirn zuruͤck⸗
kaͤmmte
, und das Geld betrachtete, befahl er
einem Knecht, die Pferde abzuloͤſen und nach
Hauſe zu fuͤhren!
Der Knecht, der auf den
Ruf des Herrn, einen Kreis von Freunden und 2770
Verwandten, die er unter dem Volke beſaß, ver⸗
laſſen
hatte, trat auch, in der That, ein wenig
roth im Geſicht, uͤber eine große Miſtpfuͤtze, die
ſich zu ihren Fuͤßen gebildet hatte, zu den Pfer⸗
den
heran; doch kaum hatte er ihre Halftern er⸗2775
faßt
, um ſie loszubinden, als ihn Meiſter Him⸗
122Faksimileboldt,
ſein Vetter, ſchon beim Arm ergriff, und
mit den Worten: du ruͤhrſt die Schindmaͤhren
nicht an! von dem Karren hinwegſchleuderte.

Er ſetzte, indem er ſich mit ungewiſſen Schrit⸗2780
ten
uͤber die Miſtpfuͤtze wieder zu dem Kaͤmme⸗
rer
, der uͤber dieſen Vorfall ſprachlos daſtand,
zuruͤck wandte, hinzu: daß er ſich einen Schin⸗
derknecht
anſchaffen muͤſſe, um ihm einen ſolchen
Dienſt zu leiſten!
Der Kaͤmmerer, der, vor 2785
Wuth ſchaͤumend, den Meiſter auf einen Augen⸗
blick
betrachtet hatte, kehrte ſich um, und rief
uͤber die Haͤupter der Ritter, die ihn umringten,
hinweg, nach der Wache; und ſobald, auf die
Beſtellung des Freiherrn von Wenk, ein Offi⸗2790
cier
mit einigen kurfuͤrſtlichen Trabanten, aus
dem Schloß erſchienen war, forderte er denſelben
unter einer kurzen Darſtellung der ſchaͤndlichen
Aufhetzerei, die ſich die Buͤrger der Stadt er⸗
laubten
, auf, den Raͤdelsfuͤhrer, Meiſter Him⸗2795
boldt
, in Verhaft zu nehmen.
Er verklagte den
Meiſter, indem er ihn bei der Bruſt faßte: daß
er ſeinen, die Rappen auf ſeinen Befehl losbin⸗
denden
Knecht von dem Karren hinweggeſchleu⸗
123Faksimiledert
und mißhandelt haͤtte.
Der Meiſter, in⸗2800
dem
er den Kaͤmmerer mit einer geſchickten Wen⸗
dung
, die ihn befreiete, zuruͤckwies, ſagte: gnaͤ⸗
digſter
Herr! einem Burſchen von zwanzig Jah⸗
ren
bedeuten, was er zu thun hat, heißt nicht,
ihn verhetzen!
Befragt ihn, ob er ſich gegen 2805
Herkommen und Schicklichkeit mit den Pferden,
die an die Karre gebunden ſind, befaſſen will;
will er es, nach dem, was ich geſagt, thun:
ſey’s!
Meinethalb mag er ſie jetzt abludern
und haͤuten!
Bei dieſen Worten wandte ſich 2810
der Kaͤmmerer zu dem Knecht herum, und fragte
ihn: ob er irgend Anſtand naͤhme, ſeinen Be⸗
fehl
zu erfuͤllen, und die Pferde, die dem Kohl⸗
haas
gehoͤrten, loszubinden, und nach Hauſe zu
fuͤhren? und da dieſer ſchuͤchtern, indem er ſich 2815
unter die Buͤrger miſchte, erwiederte: die Pferde
muͤßten erſt ehrlich gemacht werden, bevor man
ihm das zumuthe; ſo folgte ihm der Kaͤmmerer
von hinten, riß ihm den Huth ab, der mit ſei⸗
nem
Hauszeichen geſchmuͤckt war, zog, nachdem 2820
er den Huth mit Fuͤßen getreten, von Leder,
und jagte den Knecht mit wuͤthenden Hieben der
124FaksimileKlinge augenblicklich vom Platz weg und aus
ſeinen Dienſten.
Meiſter Himboldt rief: ſchmeißt
den Mordwuͤtherich doch gleich zu Boden! und 2825
waͤhrend die Buͤrger, von dieſem Auftritt em⸗
poͤrt
, zuſammentraten, und die Wache hinweg⸗
draͤngten
, warf er den Kaͤmmerer von hinten
nieder, riß ihm Mantel, Kragen und Helm ab,
wand ihm das Schwerdt aus der Hand, und 2830
ſchleuderte es, in einem grimmigen Wurf, weit
uͤber den Platz hinweg.
Vergebens rief der
Junker Wenzel, indem er ſich aus dem Tumult
rettete, den Rittern zu, ſeinem Vetter beizuſprin⸗
gen
; ehe ſie noch einen Schritt dazu gethan hat⸗2835
ten
, waren ſie ſchon von dem Andrang des Volks
zerſtreut, dergeſtalt, daß der Kaͤmmerer, der
ſich den Kopf beim Fallen verletzt hatte, der gan⸗
zen
Wuth der Menge Preis gegeben war.
Nichts,
als die Erſcheinung eines Trupps berittener 2840
Landsknechte, die zufaͤllig uͤber den Platz zogen,
und die der Officier der kurfuͤrſtlichen Trabanten
zu ſeiner Unterſtuͤtzung herbeirief, konnte den
Kaͤmmerer retten.
Der Officier, nachdem er
den Haufen verjagt, ergriff den wuͤthenden 2845
125FaksimileMeiſter, und waͤhrend derſelbe durch einige Reu⸗
ter
nach dem Gefaͤngniß gebracht ward, hoben
zwei Freunde den ungluͤcklichen mit Blut bedeck⸗
ten
Kaͤmmerer vom Boden auf, und fuͤhrten ihn
nach Hauſe.
Einen ſo heilloſen Ausgang nahm 2850
der wohlgemeinte und redliche Verſuch, dem Roß⸗
haͤndler
wegen des Unrechts, das man ihm zuge⸗
gefuͤgt,
zuge⸗
fuͤgt,
Durch Zeilentrennung bedingter Fehler.
zugefuͤgt, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] zugefuͤgt, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] zugefuͤgt, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
Genugthuung zu verſchaffen.
Der Ab⸗
decker
von Doͤbbeln, deſſen Geſchaͤft abgemacht
war, und der ſich nicht laͤnger aufhalten wollte, 2855
band, da ſich das Volk zu zerſtreuen anfing, die
Pferde an einen Laternenpfahl, wo ſie, den gan⸗
zen
Tag uͤber, ohne daß ſich jemand um ſie be⸗
kuͤmmerte
, ein Spott der Straßenjungen und
Tagediebe, ſtehen blieben; dergeſtalt, daß in Er⸗2860
mangelung
aller Pflege und Wartung die Polizei
ſich ihrer annehmen mußte, und gegen Einbruch
der Nacht den Abdecker von Dresden herbeirief,
um ſie, bis auf weitere Verfuͤgung, auf der
Schinderei vor der Stadt zu beſorgen.
2865

Dieſer Vorfall, ſo wenig der Roßhaͤndler
ihn in der That verſchuldet hatte, erweckte
gleichwohl, auch bei den Gemaͤßigtern und Beſ⸗
126Faksimileſeren,
eine, dem Ausgang ſeiner Streitſache
hoͤchſt gefaͤhrliche Stimmung im Lande.
Man 2870
fand das Verhaͤltniß desſelben zum Staat ganz
unertraͤglich, und in Privathaͤuſern und auf oͤffent⸗
lichen
Plaͤtzen, erhob ſich die Meinung, daß es
beſſer ſey, ein offenbares Unrecht an ihm zu
veruͤben, und die ganze Sache von Neuem nie⸗2875
derzuſchlagen
, als ihm Gerechtigkeit, durch Ge⸗
waltthaten
ertrotzt, in einer ſo nichtigen Sache,
zur bloßen Befriedigung ſeines raſenden Starr⸗
ſinns
, zukommen zu laſſen.
Zum voͤlligen Ver⸗
derben
des armen Kohlhaas mußte der Groß⸗2880
kanzler
ſelbſt, aus uͤbergroßer Rechtlichkeit, und
einem davon herruͤhrenden Haß gegen die Fa⸗
milie
von Tronka, beitragen, dieſe Stimmung
zu befeſtigen und zu verbreiten.
Es war hoͤchſt
unwahrſcheinlich, daß die Pferde, die der Ab⸗2885
decker
von Dresden jetzt beſorgte, jemals wieder
in den Stand, wie ſie aus dem Stall zu Kohl⸗
haaſenbruͤck
gekommen waren, hergeſtellt wer⸗
den
wuͤrden; doch geſetzt, daß es durch Kunſt
und anhaltende Pflege moͤglich geweſen waͤre: die 2890
Schmach, die zu Folge der beſtehenden Um⸗
127Faksimileſtaͤnde,
dadurch auf die Familie des Junkers
fiel, war ſo groß, daß bei dem ſtaatsbuͤrgerlichen
Gewicht, den das
ſie, als eine der erſten und edel⸗
ſten
, im Lande hatte, nichts billiger und zweck⸗2895
maͤßiger
ſchien, als eine Verguͤtigung der Pferde
in Geld einzuleiten. Gleichwohl, auf einen
Brief, in welchem der Praͤſident, Graf Kall⸗
heim
, im Namen des Kaͤmmerers, den ſeine
Krankheit abhielt, dem Großkanzler, einige 2900
Tage darauf, dieſen Vorſchlag machte, erließ
derſelbe zwar ein Schreiben an den Kohlhaas,
worin er ihn ermahnte, einen ſolchen Antrag,
wenn er an ihn ergehen ſollte, nicht von der Hand
zu weiſen; den Praͤſidenten ſelbſt aber bat er, 2905
in einer kurzen, wenig verbindlichen Antwort,
ihn mit Privatauftraͤgen in dieſer Sache zu
verſchonen, und forderte den Kaͤmmerer auf,
ſich an den Roßhaͤndler ſelbſt zu wenden, den
er ihm als einen ſehr billigen und beſcheidenen 2910
Mann ſchilderte. Der Roßhaͤndler, deſſen
Wille, durch den Vorfall, der ſich auf dem
Markt zugetragen, in der That gebrochen
war, wartete auch nur, dem Rath des Groß⸗
128Faksimilekanzlers
gemaͤß, auf eine Eroͤffnung von Seiten 2915
des Junkers, oder ſeiner Angehoͤrigen, um ih⸗
nen
mit voͤlliger Bereitwilligkeit und Verge⸗
bung
alles Geſchehenen, entgegenzukommen;
doch eben dieſe Eroͤffnung war den ſtolzen Rit⸗
tern
zu thun empfindlich; und ſchwer erbittert 2920
uͤber die Antwort, die ſie von dem Großkanz⸗
ler
empfangen hatten, zeigten ſie dieſelbe dem
Kurfuͤrſten, der, am Morgen des naͤchſtfolgen⸗
den
Tages, den Kaͤmmerer krank, wie er an
ſeinen Wunden danieder lag, in ſeinem Zim⸗2925
mer
beſucht hatte.
Der Kaͤmmerer, mit einer,
durch ſeinen Zuſtand, ſchwachen und ruͤhren⸗
den
Stimme, fragte ihn, ob er, nachdem er
ſein Leben daran geſetzt, um dieſe Sache, ſei⸗
nen
Wuͤnſchen gemaͤß, beizulegen, auch noch 2930
ſeine Ehre dem Tadel der Welt ausſetzen, und
mit einer Bitte um Vergleich und Nachgie⸗
bigkeit
, vor einem Manne erſcheinen ſolle, der
alle nur erdenkliche Schmach und Schande uͤber
ihn und ſeine Familie gebracht habe.
Der 2935
Kurfuͤrſt, nachdem er den Brief geleſen hatte,
fragte den Grafen Kallheim verlegen: ob das
Tri⸗129FaksimileTribunal nicht befugt ſey, ohne weitere Ruͤck⸗
ſprache
mit dem Kohlhaas, auf den Umſtand,
daß die Pferde nicht wieder herzuſtellen waͤ⸗2940
ren
, zu fußen, und dem gemaͤß das Urtheil,
gleich, als ob ſie todt waͤren, auf bloße Ver⸗
guͤtigung
derſelben in Geld abzufaſſen?
Der
Graf antwortete: „gnaͤdigſter Herr, ſie ſind
todt: ſind in ſtaatsrechtlicher Bedeutung todt, 2945
weil ſie keinen Werth haben, und werden es
phyſiſch ſeyn, bevor man ſie, aus der Abdek⸗
kereiAbdeckerei
, in die Staͤlle der Ritter gebracht hat;“
worauf der Kurfuͤrſt, indem er den Brief ein⸗
ſteckte
, ſagte, daß er mit dem Großkanzler 2950
ſelbſt daruͤber ſprechen wolle, den Kaͤmmerer,
der ſich halb aufrichtete und ſeine Hand dank⸗
bar
ergriff, beruhigte, und nachdem er ihm
noch empfohlen hatte, fuͤr ſeine Geſundheit
Sorge zu tragen, mit vieler Huld ſich von 2955
ſeinem Seſſel erhob, und das Zimmer verließ.

So ſtanden die Sachen in Dresden, als
ſich uͤber den armen Kohlhaas, noch ein ande⸗
res
, bedeutenderes Gewitter, von Luͤtzen her,
zuſammenzog, deſſen Strahl die argliſtigen2960
Kleiſts Erzaͤhl. I130Faksimile Ritter geſchickt genug waren, auf das un⸗
gluͤckliche
Haupt desſelben herabzuleiten.
Jo⸗
hann
Nagelſchmidt naͤmlich, Einer von den
durch den Roßhaͤndler zuſammengebrachten, und
nach Erſcheinung der kurfuͤrſtlichen Amneſtie 2965
wieder abgedankten Knechten, hatte fuͤr gut be⸗
funden
, wenige Wochen nachher, an der boͤhmi⸗
ſchen
Graͤnze, einen Theil dieſes zu allen Schand⸗
thaten
aufgelegten Geſindels von neuem zuſam⸗
menzuraffen
, und das Gewerbe, auf deſſen 2970
Spur ihn Kohlhaas gefuͤhrt hatte, auf ſeine
eigne Hand fortzuſetzen.
Dieſer nichtsnutzige
Kerl nannte ſich, theils um den Haͤſchern von
denen er verfolgt ward, Furcht einzufloͤßen,
theils um das Landvolk, auf die gewohnte Weiſe, 2975
zur Theilnahme an ſeine ſeinen [emendiert]
Spitzbuͤbereien zu ver⸗
leiten
, einen Statthalter des Kohlhaas; ſprengte
mit einer ſeinem Herrn abgelernten Klugheit
aus, daß die Amneſtie an mehreren, in ihre Hei⸗
math
ruhig zuruͤckgekehrten Knechten nicht gehal⸗2980
ten
, ja der Kohlhaas ſelbſt, mit himmelſchreien⸗
der
Wortbruͤchigkeit, bei ſeiner Ankunft in Dres⸗
den
eingeſteckt, und einer Wache uͤbergeben wor⸗
131Faksimileden
ſey; dergeſtalt, daß in Placaten, die den
Kohlhaaſiſchen ganz aͤhnlich waren, ſein Mord⸗2985
brennerhaufen
als ein zur bloßen Ehre Gottes
aufgeſtandener Kriegshaufen erſchien, beſtimmt,
uͤber die Befolgung der ihnen von dem Kurfuͤr⸗
ſten
angelobten Amneſtie zu wachen; Alles, wie
ſchon geſagt, keineswegs zur Ehre Gottes, noch 2990
aus Anhaͤnglichkeit an den Kohlhaas, deſſen
Schickſal ihnen voͤllig gleichguͤltig war, ſondern
um unter dem Schutz ſolcher Vorſpiegelungen
deſto ungeſtrafter und bequemer zu ſengen und
zu pluͤndern. Die Ritter, ſobald die erſten 2995
Nachrichten davon nach Dresden kamen, konn⸗
ten
ihre Freude uͤber dieſen, dem ganzen Handel
eine andere Geſtalt gebenden Vorfall nicht un⸗
terdruͤcken
.
Sie erinnerten mit weiſen und miß⸗
vergnuͤgten
Seitenblicken an den Mißgriff, den 3000
man begangen, indem man dem Kohlhaas, ih⸗
ren
dringenden und wiederholten Warnungen
zum Trotz, Amneſtie ertheilt, gleichſam als
haͤtte man die Abſicht gehabt Boͤſewichtern aller
Art dadurch, zur Nachfolge auf ſeinem Wege, 3005
das Signal zu geben; und nicht zufrieden, dem
I 2132FaksimileVorgeben des Nagelſchmidt, zur bloßen Auf⸗
rechthaltung
und Sicherheit ſeines unterdruͤckten
Herrn die Waffen ergriffen zu haben, Glauben
zu ſchenken, aͤußerten ſie ſogar die beſtimmte 3010
Meinung, daß die ganze Erſcheinung desſelben
nichts, als ein von dem Kohlhaas angezetteltes
Unternehmen ſey, um die Regierung in Furcht
zu ſetzen, und den Fall des Rechtsſpruchs, Punct
vor Punct, ſeinem raſenden Eigenſinn gemaͤß, 3015
durchzuſetzen und zu beſchleunigen.
Ja, der
Mundſchenk, Herr Hinz, ging ſo weit, eini⸗
gen
Jagdjunkern und Hofherren, die ſich nach
der Tafel im Vorzimmer des Kurfuͤrſten um ihn
verſammelt hatten, die Aufloͤſung des Raͤuber⸗3020
haufens
in Luͤtzen als eine verwuͤnſchte Spiegel⸗
fechterei
darzuſtellen; und indem er ſich uͤber die
Gerechtigkeitsliebe des Großkanzlers ſehr luſtig
machte, erwies er aus mehreren witzig zuſam⸗
mengeſtellten
Umſtaͤnden, daß der Haufen, nach 3025
wie vor, noch in den Waͤldern des Kurfuͤrſten⸗
thums
vorhanden ſey, und nur auf den Wink
des Roßhaͤndlers warte, um daraus von neuem
mit Feuer und Schwerdt hervorzubrechen.
Der
133FaksimilePrinz Chriſtiern von Meißen, uͤber dieſe Wen⸗3030
dung
der Dinge, die ſeines Herrn Ruhm auf die
empfindlichſte Weiſe zu beflecken drohete, ſehr
mißvergnuͤgt, begab ſich ſogleich zu demſelben
aufs Schloß; und das Intereſſe der Ritter, den
Kohlhaas, wenn es moͤglich waͤre, auf den 3035
Grund neuer Vergehungen zu ſtuͤrzen, wohl
durchſchauend, bat er ſich von demſelben die
Erlaubniß aus, unverzuͤglich ein Verhoͤr uͤber
den Roßhaͤndler anſtellen zu duͤrfen.
Der Roß⸗
haͤndler
, nicht ohne Befremden, durch einen 3040
Haͤſcher in das Gubernium abgefuͤhrt, erſchien,
den Heinrich und Leopold, ſeine beiden kleinen
Knaben auf dem Arm; denn Sternbald, der
Knecht, war Tags zuvor mit ſeinen fuͤnf Kin⸗
dern
aus dem Mecklenburgiſchen, wo ſie ſich3045
aufgehalten hatten, bei ihm angekommen, und
Gedanken mancherlei Art, die zu entwickeln zu
weitlaͤuftig ſind, beſtimmten ihn, die Jungen,
die ihn bei ſeiner Entfernung unter dem Erguß
kindiſcher Thraͤnen darum baten, aufzuheben, 3050
und in das Verhoͤr mitzunehmen.
Der Prinz,
nachdem er die Kinder, die Kohlhaas neben
134Faksimileſich niedergeſetzt hatte, wohlgefaͤllig betrachtet
und auf eine freundliche Weiſe nach ihrem Al⸗
ter
und Namen gefragt hatte, eroͤffnete ihm, 3055
was der Nagelſchmidt, ſein ehemaliger Knecht,
ſich in den Thaͤlern des Eezgebirges Erzgebirges fuͤr Frei⸗
heiten
herausnehme; und indem er ihm die ſo⸗
genannten
Mandate desſelben uͤberreichte, for⸗
derte
er ihn auf, dagegen vorzubringen, was 3060
er zu ſeiner Rechtfertigung vorzubringen wuͤßte.

Der Roßhaͤndler, ſo ſchwer er auch in der That
uͤber dieſe ſchaͤndlichen und verraͤtheriſchen Pa⸗
piere
erſchrack, hatte gleichwohl, einem ſo
rechtſchaffenen Manne, als der Prinz war, 3065
gegenuͤber, wenig Muͤhe, die Grundloſigkeit
der gegen ihn auf die Bahn gebrachten Be⸗
ſchuldigungen
, befriedigend aus einander zu le⸗
gen
.
Nicht nur, daß zufolge ſeiner Bemer⸗
kung
er, ſo wie die Sachen ſtanden, uͤberhaupt 3070
noch zur Entſcheidung ſeines, im beſten Fort⸗
gang
begriffenen Rechtsſtreits, keiner Huͤlfe
von Seiten eines Dritten beduͤrfte: aus ei⸗
nigen
Briefſchaften, die er bei ſich trug, und
die er dem Prinzen vorzeigte, ging ſogar eine 3075
135FaksimileUnwahrſcheinlichkeit ganz eigner Art hervor,
daß das Herz des Nagelſchmidts geſtimmt ſeyn
ſollte, ihm dergleichen Huͤlfe zu leiſten, indem
er den Kerl, wegen auf dem platten Lande
veruͤbter Nothzucht und anderer Schelmereien, 3080
kurz vor Aufloͤſung des Haufens in Luͤtzen
hatte haͤngen laſſen wollen; dergeſtalt, daß
nur die Erſcheinung der kurfuͤrſtlichen Amne⸗
ſtie
, indem ſie das ganze Verhaͤltniß aufhob,
ihn gerettet hatte, und beide Tags darauf, 3085
als Todfeinde auseinander gegangen waren.

Kohlhaas, auf ſeinen von dem Prinzen ange⸗
nommenen
Vorſchlag, ſetzte ſich nieder, und
erließ ein Sendſchreiben an den Nagelſchmidt,
worin er das Vorgeben desſelben zur Aufrecht⸗3090
haltung
der an ihm und ſeinen Haufen gebro⸗
chenen
Amneſtie aufgeſtanden zu ſeyn, fuͤr eine
ſchaͤndliche und ruchloſe Erfindung erklaͤrte; ihm
ſagte, daß er bei ſeiner Ankunft in Dresden weder
eingeſteckt, noch einer Wache uͤbergeben, auch ſeine 3095
Rechtsſache ganz ſo, wie er es wuͤnſche, im Fort⸗
gange
ſey; und ihn wegen der, nach Publi⸗
kation
der Amneſtie im Erzgebirge ausgeuͤbten
136FaksimileMordbrennereien, zur Warnung des um ihn ver⸗
ſammelten
Geſindels, der ganzen Rache der Ge⸗3100
ſetze
preis gab.
Dabei wurden einige Frag⸗
mente
der Criminalverhandlung, die der Roß⸗
haͤndler
auf dem Schloſſe zu Luͤtzen, in Bezug
auf die oben erwaͤhnten Schaͤndlichkeiten, uͤber
ihn hatte anſtellen laſſen, zur Belehrung des 3105
Volks uͤber dieſen nichtsnutzigen, ſchon damals
dem Galgen beſtimmten, und, wie ſchon er⸗
waͤhnt
, nur durch das Patent das der Kur⸗
fuͤrſt
erließ, geretteten Kerl, angehaͤngt.
Dem
gemaͤß beruhigte der Prinz den Kohlhaas uͤber 3110
den Verdacht, den man ihm, durch die Um⸗
ſtaͤnde
nothgedrungen, in dieſem Verhoͤr habe
aͤußern muͤſſen; verſicherte ihn, daß ſo lange
Er in Dresden waͤre, die ihm ertheilte Amne⸗
ſtie
auf keine Weiſe gebrochen werden ſolle; 3115
reichte den Knaben noch einmal, indem er ſie
mit Obſt, das auf ſeinem Tiſche ſtand, be⸗
ſchenkte
, die Hand, gruͤßte den Kohlhaas und
entließ ihn.
Der Großkanzler, der gleichwohl
die Gefahr, die uͤber den Roßhaͤndler ſchwebte, 3120
erkannte, that ſein Aeußerſtes, um die Sache
137Faksimiledesſelben, bevor ſie durch neue Ereigniſſe ver⸗
wickelt
und verworren wuͤrde, zu Ende zu brin⸗
gen
; das aber wuͤnſchten und bezweckten die
ſtaatsklugen Ritter eben, und ſtatt, wie zuvor, 3125
mit ſtillſchweigendem Eingeſtaͤndniß der Schuld,
ihren Widerſtand auf ein bloß gemildertes
Rechtserkenntniß einzuſchraͤnken, fingen ſie jetzt
an, in Wendungen argliſtiger und rabuliſtiſcher
Art, dieſe Schuld ſelbſt gaͤnzlich zu laͤugnen.
3130
Bald gaben ſie vor, daß die Rappen des Kohl⸗
haas
, in Folge eines bloß eigenmaͤchtigen Ver⸗
fahrens
des Schloßvoigts und Verwalters, von
welchem der Junker nichts oder nur Unvoll⸗
ſtaͤndiges
gewußt, auf der Tronkenburg zuruͤck⸗3135
gehalten
worden ſeyen; bald verſicherten ſie,
daß die Thiere ſchon, bei ihrer Ankunft da⸗
ſelbſt
, an einem heftigen und gefaͤhrlichen Hu⸗
ſten
krank geweſen waͤren, und beriefen ſich
deshalb auf Zeugen, die ſie herbeizuſchaffen ſich 3140
anheiſchig machten; und als ſie mit dieſen Ar⸗
gumenten
, nach weitlaͤuftigen Unterſuchungen
und Auseinanderſetzungen, aus dem Felde ge⸗
ſchlagen
waren, brachten ſie gar ein kurfuͤrſtli⸗
138Faksimileches
Edikt bei, worin, vor einem Zeitraum3145
von zwoͤlf Jahren, einer Viehſeuche wegen,
die Einfuͤhrung der Pferde aus dem Branden⸗
burgiſchen
ins Saͤchſiſche, in der That verbo⸗
ten
worden war: zum ſonnenklaren Beleg nicht
nur der Befugniß, ſondern ſogar der Verpflich⸗3150
tung
des Junkers, die von dem Kohlhaas uͤber
die Graͤnze gebrachten Pferde anzuhalten. —

Kohlhaas, der inzwiſchen von dem wackern
Amtmann zu Kohlhaaſenbruͤck ſeine Meierei,
gegen eine geringe Verguͤtigung des dabei ge⸗3155
habten
Schadens, kaͤuflich wieder erlangt hatte,
wuͤnſchte, wie es ſcheint wegen gerichtlicher
Abmachung dieſes Geſchaͤfts, Dresden auf ei⸗
nige
Tage zu verlaſſen, und in dieſe ſeine Hei⸗
math
zu reiſen; ein Entſchluß, an welchem 3160
gleichwohl, wie wir nicht zweifeln, weniger das
beſagte Geſchaͤft, ſo dringend es auch in der
That, wegen Beſtellung der Winterſaat, ſeyn
mogte, als die Abſicht unter ſo ſonderbaren
und bedenklichen Umſtaͤnden ſeine Lage zu pruͤ⸗3165
fen
, Antheil hatte: zu welchem vielleicht auch
noch Gruͤnde anderer Art mitwirkten, die wir
139Faksimilejedem, der in ſeiner Bruſt Beſcheid weiß, zu erra⸗
then
uͤberlaſſen wollen.
Demnach verfuͤgte er ſich,
mit Zuruͤcklaſſung der Wache, die ihm zuge⸗3170
ordnet
war, zum Großkanzler, und eroͤf⸗
nete
eroͤffnete [emendiert] Beide Formen ſind zeitgenoͤſſiſch belegt. Das DWB nennt nur die Form ›eroͤfnen‹.
ihm, die Briefe des Amtmanns in der
Hand: daß er Willens ſey, falls man ſeiner,
wie es den Anſchein habe, bei dem Gericht
nicht nothwendig beduͤrfe, die Stadt zu ver⸗3175
laſſen
, und auf einen Zeitraum von acht oder
zwoͤlf Tagen, binnen welcher Zeit er wieder
zuruͤck zu ſeyn verſprach, nach dem Brandenbur⸗
giſchen
zu reiſen.
Der Großkanzler, indem
er mit einem mißvergnuͤgten und bedenklichen 3180
Geſichte zur Erde ſah, verſetzte: er muͤſſe ge⸗
ſtehen
, daß ſeine Anweſenheit grade jetzt noth⸗
wendiger
ſey als jemals, indem das Gericht we⸗
gen
argliſtiger und winkelziehender Einwendun⸗
gen
der Gegenpart, ſeiner Ausſagen und Eroͤr⸗3185
terungen
, in tauſenderlei nicht vorherzuſehenden
Faͤllen, beduͤrfe; doch da Kohlhaas ihn auf ſei⸗
nen
, von dem Rechtsfall wohl unterrichteten
Advocaten verwies, und mit beſcheidener Zu⸗
dringlichkeit
, indem er ſich auf acht Tage einzu⸗3190
140Faksimileſchraͤnken
verſprach, auf ſeine Bitte beharrte, ſo
ſagte der Großkanzler nach einer Pauſe kurz, in⸗
dem
er ihn entließ: „er hoffe, daß er ſich des⸗
halb
Paͤſſe, bei dem Prinzen Chriſtiern von Mei⸗
ßen
, ausbitten wuͤrde.“ — —
Kohlhaas, der 3195
ſich auf das Geſicht des Großkanzlers gar wohl
verſtand, ſetzte ſich, in ſeinem Entſchluß nur be⸗
ſtaͤrkt
, auf der Stelle nieder, und bat, ohne ir⸗
gend
einen Grund anzugeben, den Prinzen von
Meißen, als Chef des Guberniums, um Paͤſſe 3200
auf acht Tage nach Kohlhaaſenbruͤck, und zu⸗
ruͤck
.
Auf dieſes Schreiben erhielt er eine, von
dem Schloßhauptmann, Freiherrn Siegfried
von Wenk, unterzeichnete Gubernial-Reſolution,
des Inhalts: ſein „sein [emendiert] Geſuch um Paͤſſe nach Kohl⸗3205
haaſenbruͤck
werde des Kurfuͤrſten Durchlaucht
vorgelegt werden, auf deſſen hoͤchſter Bewilli⸗
gung
, ſobald ſie einginge, ihm die Paͤſſe zuge⸗
ſchickt
werden wuͤrden.“
Auf die Erkundigung
Kohlhaaſens bei ſeinem Advocaten, wie es zu⸗3210
ginge
, daß die Gubernial-Reſolution von einem
Freiherrn Siegfried von Wenk, und nicht von
dem Prinzen Chriſtiern von Meißen, an den er
141Faksimileſich gewendet, unterſchrieben ſey, erhielt er zur
Antwort: daß der Prinz vor drei Tagen auf 3215
ſeine Guͤter gereiſt, und die Gubernialgeſchaͤfte
waͤhrend ſeiner Abweſenheit dem Schloßhaupt⸗
mann
Freiherrn Siegfried von Wenk, einem
Vetter des oben erwaͤhnten Herren gleiches Na⸗
mens
, uͤbergeben worden waͤren. —
Kohlhaas, 3220
dem das Herz unter allen dieſen Umſtaͤnden un⸗
ruhig
zu klopfen anfing, harrte durch mehrere
Tage auf die Entſcheidung ſeiner, der Perſon
des Landesherrn mit befremdender Weitlaͤuftig⸗
keit
Weitlaͤufigkeit
vorgelegten Bitte; doch es verging eine Wo⸗3225
che
, und es verging mehr, ohne daß weder dieſe
Entſcheidung einlief, noch auch das Rechtser⸗
kenntniß,
ſo beſtimmt man es ihm auch verkuͤn⸗
digt
hatte, bei dem Tribunal gefaͤllt ward: der⸗
geſtalt
, daß er am zwoͤlften Tage, feſt entſchloſ⸗3230
ſen
, die Geſinnung der Regierung gegen ihn, ſie
moͤge ſeyn, welche man wolle, zur Sprache zu
bringen, ſich niederſetzte, und das Gubernium
von neuem in einer dringenden Vorſtellung um
die erforderten Paͤſſe bat.
Aber wie betreten 3235
war er, als er am Abend des folgenden, gleich⸗
142Faksimilefalls
ohne die erwartete Antwort verſtriche⸗
nen
Tages, mit einem Schritt, den er ge⸗
dankenvoll
, in Erwaͤgung ſeiner Lage, und beſon⸗
ders
der ihm von dem Doctor Luther ausge⸗3240
wirkten
Amneſtie, an das Fenſter ſeines Hinter⸗
ſtuͤbchens
that, in dem kleinen, auf dem Hofe be⸗
findlichen
Nebengebaͤude, das er ihr zum Auf⸗
enthalte
angewieſen hatte, die Wache nicht er⸗
blickte
, die ihm bei ſeiner Ankunft der Prinz von 3245
Meißen eingeſetzt hatte.
Thomas, der alte Haus⸗
mann
, den er herbeirief und fragte: was dies zu
bedeuten habe? antwortete ihm ſeufzend: Herr!
es iſt nicht alles wie es ſeyn ſoll; die Lands⸗
knechte
, deren heute mehr ſind wie gewoͤhnlich, 3250
haben ſich bei Einbruch der Nacht um das ganze
Haus vertheilt; zwei ſtehen, mit Schild und
Spieß, an der vordern Thuͤr auf der Straße;
zwei an der hintern im Garten: und noch zwei
andere liegen im Vorſaal auf ein Bund Stroh, 3255
und ſagen, daß ſie daſelbſt ſchlafen wuͤrden.

Kohlhaas, der ſeine Farbe verlor, wandte ſich
und verſetzte: „es waͤre gleichviel, wenn ſie nur
da waͤren; und er moͤgte den Landsknechten, ſo⸗
143Faksimilebald
er auf den Flur kaͤme, Licht hinſetzen, da⸗3260
mit
ſie ſehen koͤnnten.“
Nachdem er noch, un⸗
ter
dem Vorwande, ein Geſchirr auszugießen,
den vordern Fenſterladen eroͤffnet, und ſich von
der Wahrheit des Umſtands, den ihm der Alte
entdeckt, uͤberzeugt hatte: denn eben ward ſogar 3265
in geraͤuſchloſer Abloͤſung die Wache erneuert,
an welche Maaßregel bisher, ſo lange die Ein⸗
richtung
beſtand, noch niemand gedacht hatte:
ſo legte er ſich, wenig ſchlafluſtig allerdings, zu
Bette, und ſein Entſchluß war fuͤr den kom⸗3270
menden
Tag ſogleich gefaßt.
Denn nichts miß⸗
goͤnnte
er der Regierung, mit der er zu thun
hatte mehr, als den Schein der Gerechtigkeit,
waͤhrend ſie in der That die Amneſtie, die ſie
ihm angelobt hatte, an ihm brach; und falls er 3275
wirklich ein Gefangener ſeyn ſollte, wie es kei⸗
nem
Zweifel mehr unterworfen war, wollte er
derſelben auch die beſtimmte und unumwundene
Erklaͤrung, daß es ſo ſey, abnoͤthigen.
Dem⸗
nach
ließ er, ſobald der Morgen des naͤchſten 3280
Tages anbrach, durch Sternbald, ſeinen Knecht,
den Wagen anſpannen und vorfuͤhren, um wie
144Faksimileer vorgab, zu dem Verwalter nach Lockewitz zu
fahren, der ihn, als ein alter Bekannter, einige
Tage zuvor in Dresden geſprochen und eingela⸗3285
den
hatte, ihn einmal mit ſeinen Kindern zu be⸗
ſuchen
.
Die Landsknechte, welche mit zuſam⸗
mengeſteckten
Koͤpfen, die dadurch veranlaßten
Bewegungen im Hauſe wahrnahmen, ſchickten
Einen aus ihrer Mitte heimlich in die Stadt, 3290
worauf binnen wenigen Minuten ein Gubernial⸗
officiant
an der Spitze mehrerer Haͤſcher er⸗
ſchien
, und ſich, als ob er daſelbſt ein Geſchaͤft
haͤtte, in das gegenuͤberliegende Haus begab.

Kohlhaas, der mit der Ankleidung ſeiner Kna⸗3295
ben
beſchaͤftigt, dieſe Bewegungen gleichfalls
bemerkte, und den Wagen abſichtlich laͤn⸗
ger
, als eben noͤthig geweſen waͤre, vor dem
Hauſe halten ließ, trat, ſobald er die Anſtalten
der Polizei vollendet ſah, mit ſeinen Kindern, 3300
ohne darauf Ruͤckſicht zu nehmen, vor das Haus
hinauſ; und waͤhrend er dem Troß der Lands⸗
knechte
, die unter der Thuͤr ſtanden, im Vor⸗
uͤbergehen
ſagte, daß ſie nicht noͤthig haͤtten, ihm
zu folgen, hob er die Jungen in den Wagen und 3305
kuͤßte145Faksimilekuͤßte und troͤſtete die kleinen weinenden Maͤd⸗
chen
, die, ſeiner Anordnung gemaͤß, bei der
Tochter des alten Hausmanns zuruͤckbleiben ſoll⸗
ten
.
Kaum hatte er ſelbſt den Wagen beſtiegen,
als der Gubernial-Officiant mit ſeinem Gefolge 3310
von Haͤſchern, aus dem gegenuͤberliegenden Hauſe,
zu ihm herantrat, und ihn fragte: wohin er
wolle? Auf die Antwort Kohlhaaſens: „daß er
zu ſeinem Freund, dem Amtmann nach Lockewitz
fahren wolle, der ihn vor einigen Tagen mit ſei⸗3315
nen
beiden Knaben zu ſich aufs Land geladen,“
antwortete der Gubernial-Officiant: daß er in
dieſem Fall einige Augenblicke warten muͤſſe, in⸗
dem
einige berittene Landsknechte, dem Befehl
des Prinzen von Meißen gemaͤß, ihn begleiten 3320
wuͤrden.
Kohlhaas fragte laͤchelnd von dem Wa⸗
gen
herab: „ob er glaube, daß ſeine Perſon in
dem Hauſe eines Freundes, der ſich erboten, ihn
auf einen Tag an ſeiner Tafel zu bewirthen, nicht
ſicher ſey?“
Der Officiant erwiederte auf eine 3325
heitere und angenehme Art: daß die Gefahr al⸗
lerdings
nicht groß ſey; wobei er hinzuſetzte: daß
ihm die Knechte auch auf keine Weiſe zur Laſt
Kleiſts Erzaͤhl. K146Faksimilefallen ſollten.
Kohlhaas verſetzte ernſthaft: „daß
ihm der Prinz von Meißen, bei ſeiner Ankunft 3330
in Dresden, freigeſtellt, ob er ſich der Wache be⸗
dienen
wolle oder nicht;“ und da der Officiant
ſich uͤber dieſen Umſtand wunderte, und ſich mit
vorſichtigen Wendungen auf den Gebrauch, waͤh⸗
rend
der ganzen Zeit ſeiner Anweſenheit, berief: 3335
ſo erzaͤhlte der Roßhaͤndler ihm den Vorfall, der
die Einſetzung der Wache in ſeinem Hauſe ver⸗
anlaßt
hatte.
Der Officiant verſicherte ihn, daß
die Befehle des Schloßhauptmanns, Freiherrn von
Wenk, der in dieſem Augenblick Chef der Po⸗3340
lizei
ſey, ihm die unausgeſetzte Beſchuͤtzung ſeiner
Perſon zur Pflicht mache; und bat ihn, falls er
ſich die Begleitung nicht gefallen laſſen wolle,
ſelbſt auf das Gubernium zu gehen, um den
Irrthum, der dabei obwalten muͤſſe, zu berichti⸗3345
gen
. Kohlhaas, mit einem ſprechenden Blick,
den er auf den Officianten warf, ſagte, entſchloſ⸗
ſen
die Sache zu beugen oder zu brechen: „daß
er dies thun wolle;“ ſtieg mit klopfendem Her⸗
zen
von dem Wagen, ließ die Kinder durch den 3350
Hausmann in den Flur tragen, und verfuͤgte
147Faksimileſich, waͤhrend der Knecht mit dem Fuhrwerk vor
dem Hauſe halten blieb, mit dem Officianten
und ſeiner Wache in das Gubernium.
Es traf
ſich, daß der Schloßhauptmann, Freiherr Wenk 3355
eben mit der Beſichtigung einer Bande, am
Abend zuvor eingebrachter Nagelſchmidtſcher
Knechte, die man in der Gegend von Leipzig auf⸗
gefangen
hatte, beſchaͤftigt war, und die Kerle
uͤber manche Dinge, die man gern von ihnen ge⸗3360
hoͤrt
haͤtte, von den Rittern, die bei ihm waren,
befragt wurden, als der Roßhaͤndler mit ſeiner
Begleitung zu ihm in den Saal trat.
Der
Freiherr, ſobald er den Roßhaͤndler erblickte, ging,
waͤhrend die Ritter ploͤtzlich ſtill wurden, und 3365
mit dem Verhoͤr der Knechte einhielten, auf ihn
zu, und fragte ihn: was er wolle? und da der
Roßkamm ihm auf ehrerbietige Weiſe ſein
Vorhaben, bei dem Verwalter in Lockewitz zu
Mittag zu ſpeiſen, und den Wunsch, die Landſ⸗3370
knechte
deren er dabei nicht beduͤrfe zuruͤck⸗
laſſen
zu duͤrfen, vorgetragen hatte, antwortete
der Freiherr, die Farbe im Geſicht wechſelnd,
indem er eine andere Rede zu verſchlucken ſchien:
K 2148Faksimile„er wuͤrde wohl thun, wenn er ſich ſtill in ſeinem 3375
Hauſe hielte, und den Schmaus bei dem Locke⸗
witzer
Amtmann vor der Hand noch ausſetzte.“
—
Dabei wandte er ſich, das ganze Geſpraͤch zer⸗
ſchneidend
, dem Officianten zu, und ſagte ihm:
„daß es mit dem Befehl, den er ihm, in Bezug 3380
auf den Mann gegeben, ſein Bewenden haͤtte,
und daß derſelbe anders nicht, als in Begleitung
ſechs berittener Landsknechte die Stadt verlaſ⸗
ſen
duͤrfe.“ —
Kohlhaas fragte: ob er ein Ge⸗
fangener
waͤre, und ob er glauben ſolle, daß die 3385
ihm feierlich, vor den Augen der ganzen Welt an⸗
gelobte
Amneſtie gebrochen ſey? worauf der
Freiherr ſich ploͤtzlich glutroth im Geſichte zu ihm
wandte, und, indem er dicht vor ihn trat, und ihm
in das Auge ſah, antwortete: ja! ja! ja! — 3390
ihm den Ruͤcken zukehrte, ihn ſtehen ließ, und
wieder zu den Nagelſchmidtſchen Knechten ging.

Hierauf verließ Kohlhaas den Saal, und ob er
ſchon einſah, daß er ſich das einzige Rettungs⸗
mittel
, das ihm uͤbrig blieb, die Flucht, durch 3395
die Schritte die er gethan, ſehr erſchwert hatte,
ſo lobte er ſein Verfahren gleichwohl, weil er ſich
149Faksimilenunmehr auch ſeinerſeits von der Verbindlichkeit
den Artikeln der Amneſtie nachzukommen, be⸗
freit
ſah.
Er ließ, da er zu Hauſe kam, die 3400
Pferde ausſpannen, und begab ſich, in Beglei⸗
tung
des Gubernial-Officianten, ſehr traurig und
erſchuͤttert in ſein Zimmer; und waͤhrend dieſer
Mann auf eine dem Roßhaͤndler Ekel erregende
Weiſe, verſicherte, daß alles nur auf einem Miß⸗3405
verſtaͤndniß
beruhen muͤſſe, das ſich in Kurzem
loͤſen wuͤrde, verriegelten die Haͤſcher, auf ſeinen
Wink, alle Ausgaͤnge der Wohnung die auf den
Hof fuͤhrten; wobei der Officiant ihm verſicherte,
daß ihm der vordere Haupteingang nach wie vor, 3410
zu ſeinem beliebigen Gebrauch offen ſtehe.

Inzwiſchen war der Nagelſchmidt in den
Waͤldern des Erzgebirgs, durch Haͤſcher und
Landsknechte von allen Seiten ſo gedraͤngt
worden, daß er bei dem gaͤnzlichen Mangel an 3415
Huͤlfsmitteln, eine Rolle der Art, wie er ſie
uͤbernommen, durchzufuͤhren, auf den Gedanken
verfiel, den Kohlhaas in der That ins Inter⸗
eſſe
zu ziehen; und da er von der Lage ſeines
Rechtsſtreits in Dresden durch einen Reiſenden, 3420
150Faksimileder die Straße zog, mit ziemlicher Genauigkeit
unterrichtet war: ſo glaubte er, der offenbaren
Feindſchaft, die unter ihnen beſtand, zum Trotz,
den Roßhaͤndler bewegen zu koͤnnen, eine neue
Verbindung mit ihm einzugehen.
Demnach ſchickte 3425
er einen Knecht, mit einem, in kaum leſerlichem
Deutſch abgefaßten Schreiben an ihn ab, des
Inhalts: „Wenn er nach dem Altenburgiſchen
kommen, und die Anfuͤhrung des Haufens, der
ſich daſelbſt, aus Reſten des aufgeloͤſten zuſammen⸗3430
gefunden
, wieder uͤbernehmen wolle, ſo ſey er
erboͤtig, ihm zur Flucht aus ſeiner Haft in Dres⸗
den
mit Pferden, Leuten und Geld an die Hand
zu gehen; wobei er ihm verſprach, kuͤnftig ge⸗
horſamer
und uͤberhaupt ordentlicher und beſſer 3435
zu ſeyn, als vorher, und ſich zum Beweis ſeiner
Treue und Anhaͤnglichkeit anheiſchig machte,
ſelbſt in die Gegend von Dresden zu kommen,
um ſeine Befreiung aus ſeinem Kerker zu bewir⸗
ken
.“
Nun hatte der, mit dieſem Brief beauf⸗3440
tragte
Kerl das Ungluͤck, in einem Dorf dicht
vor Dresden, in Kraͤmpfen haͤßlicher Art, denen
er von Jugend auf unterworfen war, niederzu⸗
151Faksimileſinken;
bei welcher Gelegenheit der Brief, den
er im Bruſtlatz trug, von Leuten, die ihm zu 3445
Huͤlfe kamen, gefunden, er ſelbſt aber, ſobald er
ſich erholt, arretirt, und durch eine Wache unter
Begleitung vielen Volks, auf das Gubernium
transportirt ward.
Sobald der Schloßhaupt⸗
mann
von Wenk dieſen Brief geleſen hatte, ver⸗3450
fuͤgte
er ſich unverzuͤglich zum Kurfuͤrſten aufs
Schloß, wo er die Herren Kunz und Hinz, wel⸗
cher
Erſterer von ſeinen Wunden wieder herge⸗
ſtellt
war, und den Praͤſidenten der Staatskan⸗
zelei
, Grafen Kallheim, gegenwaͤrtig fand.
Die 3455
Herren waren der Meinung, daß der Kohlhaas
ohne Weiteres arretirt, und ihm, auf den Grund
geheimer Einverſtaͤndniſſe mit dem Nagelſchmidt,
der Prozeß gemacht werden muͤſſe; indem ſie
bewieſen, daß ein ſolcher Brief nicht, ohne daß 3460
fruͤhere auch von Seiten des Roßhaͤndlers vor⸗
angegangene,
vor⸗
angegangen,
vorangegangene, [nicht emendiert]
und ohne daß uͤberhaupt eine fre⸗
velhafte
und verbrecheriſche Verbindung, zu
Schmiedung neuer Graͤuel, unter ihnen ſtatt
finden ſollte, geſchrieben ſeyn koͤnne.
Der Kur⸗3465
fuͤrſt
weigerte ſich ſtandhaft, auf den Grund bloß
152Faksimile dieſes Briefes, dem Kohlhaas das freie Geleit,
das er ihm angelobt, zu brechen; er war viel⸗
mehr
der Meinung, daß eine Art von Wahr⸗
ſcheinlichkeit
aus dem Briefe des Nagelſchmidt 3470
hervorgehe, daß keine fruͤhere Verbindung zwi⸗
ſchen
ihnen ſtatt gefunden habe; und Alles, wo⸗
zu
er ſich, um hieruͤber auf’s Reine zu kommen,
auf den Vorſchlag des Praͤſidenten, obſchon
nach großer Zoͤgerung entſchloß, war, den Brief 3475
durch den von dem Nagelſchmidt abgeſchickten
Knecht, gleichſam als ob derſelbe nach wie vor
frei ſey, an ihn abgeben zu laſſen, und zu pruͤ⸗
fen
, ob er ihn beantworten wuͤrde.
Dem gemaͤß
ward der Knecht, den man in ein Gefaͤngniß ge⸗3480
ſteckt
hatte, am andern Morgen auf das Guber⸗
nium
gefuͤhrt, wo der Schloßhauptmann ihm
den Brief wieder zuſtellte, und ihn unter dem
Verſprechen, daß er frei ſeyn, und die Strafe
die er verwirkt, ihm erlaſſen ſeyn ſolle, auffor⸗3485
derte
, das Schreiben, als ſei nichts vorgefallen,
dem Roßhaͤndler zu uͤbergeben; zu welcher Liſt
ſchlechter Art ſich dieſer Kerl auch ohne Weiteres
gebrauchen ließ, und auf ſcheinbar geheimniß⸗
153Faksimilevolle
Weiſe, unter dem Vorwand, daß er Krebſe 3490
zu verkaufen habe, womit ihn der Gubernial-
Officiant
, auf dem Markte, verſorgt hatte, zu
Kohlhaas ins Zimmer trat.
Kohlhaas, der den
Brief, waͤhrend die Kinder mit den Krebſen ſpiel⸗
ten
, las, wuͤrde den Gauner gewiß unter andern 3495
Umſtaͤnden beim Kragen genommen, und den
Landsknechten, die vor ſeiner Thuͤr ſtanden,
uͤberliefert haben; doch da bei der Stimmung
der Gemuͤther auch ſelbſt dieſer Schritt noch
einer gleichguͤltigen Auslegung faͤhig war, 3500
und er ſich vollkommen uͤberzeugt hatte, daß
nichts auf der Welt ihn aus dem Handel, in
dem er verwickelt war, retten konnte: ſo ſah
er dem Kerl, mit einem traurigen Blick, in ſein
ihm wohlbekanntes Geſicht, fragte ihn, wo er 3505
wohnte, und beſchied ihn, in einigen Stunden,
wieder zu ſich, wo er ihm, in Bezug auf ſeinen
Herrn, ſeinen Beſchluß eroͤffnen wolle.
Er
hieß dem Sternbald, der zufaͤllig in die Thuͤr
trat, dem Mann, der im Zimmer war, etliche 3510
Krebſe abkaufen; und nachdem dies Geſchaͤft
abgemacht war, und beide ſich ohne einander zu
154Faksimilekennen, entfernt hatten, ſetzte er ſich nieder und
ſchrieb einen Brief folgenden Inhalts an den
Nagelſchmidt:
„Zuvoͤrderſt daß er ſeinen Vor⸗3515
ſchlag
, die Oberanfuͤhrung ſeines Haufens im
Altenburgiſchen betreffend, annaͤhme; daß er
dem gemaͤß, zur Befreiung aus der vorlaͤufigen
Haft, in welcher er, mit ſeinen fuͤnf Kindern
gehalten werde, ihm einen Wagen mit zwei 3520
Pferden nach der Neuſtadt bei Dresden ſchicken
ſolle; daß er auch, raſcheren Fortkommens we⸗
gen
, noch eines Geſpannes von zwei Pferden
auf der Straße nach Wittenberg beduͤrfe, auf
welchem Umweg er allein, aus Gruͤnden, die an⸗3525
zugeben
zu weitlaͤufig waͤren, zu ihm kommen
koͤnne; daß er die Landsknechte, die ihn bewach⸗
ten
, zwar durch Beſtechung gewinnen zu koͤnnen
glaube, fuͤr den Fall aber daß Gewalt noͤthig
ſey, ein Paar beherzte, geſcheute und wohlbe⸗3530
waffnete
Knechte, in der Neuſtadt bei Dresden
gegenwaͤrtig wiſſen wolle; daß er ihm zur Be⸗
ſtreitung
der mit allen dieſen Anſtalten verbun⸗
denen
Koſten, eine Rolle von zwanzig Goldkro⸗
nen
durch den Knecht zuſchicken, uͤber deren 3535
155FaksimileVerwendung er ſich, nach abgemachter Sache,
mit ihm berechnen wolle; daß er ſich uͤbrigens,
weil ſie unnoͤthig ſey, ſeine eigne Anweſenheit
bei ſeiner Befreiung in Dresden verbitte, ja
ihm vielmehr den beſtimmten Befehl ertheile, 3540
zur einſtweiligen Anfuͤhrung der Bande, die
nicht ohne Oberhaupt ſeyn koͤnne, im Altenbur⸗
giſchen
zuruͤckzubleiben.“ —
Dieſen Brief, als
der Knecht gegen Abend kam, uͤberlieferte er
ihm; beſchenkte ihn ſelbſt reichlich, und ſchaͤrfte 3545
ihm ein, denſelben wohl in Acht zu nehmen. —

Seine Abſicht war mit ſeinen fuͤnf Kindern
nach Hamburg zu gehen, und ſich von dort nach
der Levante oder nach Oſtindien, oder ſo weit
der Himmel uͤber andere Menſchen, als die er 3550
kannte, blau war, einzuſchiffen: denn die Dick⸗
fuͤtterung
der Rappen hatte ſeine, von Gram
ſehr gebeugte Seele auch unabhaͤngig von dem
Widerwillen, mit dem Nagelſchmidt deshalb ge⸗
meinſchaftliche
Sache zu machen, aufgegeben. —
3555
Kaum hatte der Kerl dieſe Antwort dem Schloß⸗
hauptmann
uͤberbracht, als der Großkanzler ab⸗
geſetzt
, der Praͤſident, Graf Kallheim, an deſ⸗
156Faksimileſen
Stelle, zum Chef des Tribunals ernannt,
und Kohlhaas, durch einen Kabinetsbefehl des 3560
Kurfuͤrſten arretirt, und ſchwer mit Ketten be⸗
laden
in die Stadtthuͤrme gebracht ward.

Man machte ihm auf den Grund dieſes Briefes,
der an alle Ecken der Stadt angeſchlagen ward,
den Prozeß; und da er vor den Schranken des 3565
Tribunals auf die Frage, ob er die Handſchrift
anerkenne, dem Rath, der ſie ihm vorhielt, ant⸗
wortete
: „ja!“ zur Antwort aber auf die Fra⸗
ge
, ob er zu ſeiner Vertheidigung etwas vorzu⸗
bringen
wiſſe, indem er den Blick zur Erde ſchlug, 3570
erwiederte, „nein!“ ſo ward er verurtheilt, mit
gluͤhenden Zangen von Schinderknechten geknif⸗
fen
, geviertheilt, und ſein Koͤrper, zwiſchen Rad
und Galgen, verbrannt zu werden.

So ſtanden die Sachen fuͤr den armen Kohl⸗3575
haas
in Dresden, als der Kurfuͤrſt von Bran⸗
denburg
zu ſeiner Rettung aus den Haͤnden der
Uebermacht und Willkuͤr auftrat, und ihn, in
einer bei der kurfuͤrſtlichen Staatskanzlei daſelbſt
eingereichten Note, als brandenburgiſchen Un⸗3580
terthan
reclamirte.
Denn der wackere Stadt⸗
157Faksimilehauptmann,
Herr Heinrich von Geuſau, hatte
ihn, auf einem Spaziergange an den Ufern der
Spree, von der Geſchichte dieſes ſonderbaren
und nicht verwerflichen Mannes unterrichtet, 3585
bei welcher Gelegenheit er von den Fragen des
erſtaunten Herrn gedraͤngt, nicht umhin konnte,
der Schuld zu erwaͤhnen, die durch die Un⸗
ziemlichkeiten
ſeines Erzkanzlers, des Grafen
Siegfried von Kallheim, ſeine eigene Perſon 3590
druͤckte: woruͤber der Kurfuͤrſt ſchwer entruͤſtet,
den Erzkanzler, nachdem er ihn zur Rede ge⸗
ſtellt
und befunden, daß die Verwandtſchaft des⸗
ſelben
mit dem Hauſe derer von Tronka an allem
Schuld ſey, ohne Weiteres, mit mehreren Zei⸗3595
chen
ſeiner Ungnade entſetzte, und den Herrn
Heinrich von Geuſau zum Erzkanzler ernannte.

Es traf ſich aber, daß die Krone Pohlen
grade damals, indem ſie mit dem Hauſe
Sachſen, um welchen Gegenſtandes willen 3600
wiſſen wir nicht, im Streit lag, den Kur⸗
fuͤrſten
von Brandenburg, in wiederholten und
dringenden Vorſtellungen anging, ſich mit ihr
in gemeinſchaftlicher Sache gegen das Haus
158FaksimileSachſen zu verbinden; dergeſtalt, daß der Erz⸗3605
kanzler
, Herr Geuſau, der in ſolchen Dingen
nicht ungeſchickt war, wohl hoffen durfte, den
Wunſch ſeines Herrn, dem Kohlhaas, es koſte
was es wolle, Gerechtigkeit zu verſchaffen, zu
erfuͤllen, ohne die Ruhe des Ganzen auf eine 3610
mißlichere Art, als die Ruͤckſicht auf einen Ein⸗
zelnen
erlaubt, aufs Spiel zu ſetzen.
Demnach
forderte der Erzkanzler nicht nur wegen gaͤnz⸗
lich
willkuͤrlichen, Gott und Menſchen mißge⸗
faͤlligen
Verfahrens, die unbedingte und unge⸗3615
ſaͤumte
Auslieferung des Kohlhaas, um denſel⸗
ben
, falls ihn eine Schuld druͤcke, nach bran⸗
denburgiſchen
Geſetzen, auf Klageartikel, die der
Dresdner Hof deshalb durch einen Anwald in
Berlin anhaͤngig machen koͤnne, zu richten; 3620
ſondern er begehrte ſogar ſelbſt Paͤſſe fuͤr einen
Anwald, den der Kurfuͤrſt nach Dresden zu
ſchicken Willens ſey, um dem Kohlhaas, wegen
der ihm auf ſaͤchſiſchem Grund und Boden ab⸗
genommenen
Rappen und anderer himmelſchrei⸗3625
enden
Mißhandlungen und Gewaltthaten halber,
gegen den Junker Wenzel von Tronka, Recht zu
159Faksimileverſchaffen.
Der Kaͤmmerer, Herr Kunz, der
bei der Veraͤnderung der Staatsaͤmter in Sach⸗
ſen
zum Praͤſidenten der Staatskanzlei ernannt 3630
worden war, und der aus mancherlei Gruͤnden
den Berliner Hof, in der Bedraͤngniß in der er
ſich befand, nicht verletzen wollte, antwortete im
Namen ſeines uͤber die eingegangene Note ſehr
niedergeſchlagenen Herrn: „daß man ſich uͤber 3635
die Unfreundſchaftlichkeit und Unbilligkeit wun⸗
dere
, mit welcher man dem Hofe zu Dresden
das Recht abſpraͤche, den Kohlhaas wegen Ver⸗
brechen
, die er im Lande begangen, den Geſetzen
gemaͤß zu richten, da doch weltbekant ſey, daß 3640
derſelbe ein betraͤchtliches Grundſtuͤck in der
Hauptſttadt Hauptſtadt beſitze, und ſich ſelbſt in der Quali⸗
taͤt
als ſaͤchſiſchen Buͤrger gar nicht verlaͤugne. verlaͤugne.“ [emendiert]

Doch da die Krone Pohlen bereits zur Ausfech⸗
tung
ihrer Anſpruͤche einen Heerhaufen von fuͤnf⸗3645
tauſend
Mann an der Graͤnze von Sachſen zu⸗
ſammenzog
, und der Erzkanzler, Herr Hein⸗
rich
von Geuſau, erklaͤrte: „daß Kohlhaaſenbruͤck,
der Ort, nach welchem der Roßhaͤndler heiße, im
Brandenburgiſchen liege, und daß man die Voll⸗3650
160Faksimileſtreckung
des uͤber ihn ausgeſprochenen Todesur⸗
theils
fuͤr eine Verletzung des Voͤlkerrechts halten
wuͤrde:“ ſo rief der Kurfuͤrſt, auf den Rath des
Kaͤmmerers, Herrn Kunz ſelbſt, der ſich aus
dieſen diesem [emendiert] diesem [emendiert] diesem [emendiert] diesem [emendiert]
Handel zuruͤckzuziehen wuͤnſchte, den Prin⸗3655
zen
Chriſtiern von Meißen von ſeinen Guͤtern
herbei, und entſchloß ſich, auf wenige Worte
dieſes verſtaͤndigen Herrn, den Kohlhaas, der
Forderung gemaͤß, an den Berliner Hof auszulie⸗
fern
. Der Prinz, der obſchon mit den Unziem⸗3660
lichkeiten
die vorgefallen waren, wenig zufrieden,
die Leitung der Kohlhaaſiſchen Sache auf den
Wunſch ſeines bedraͤngten Herrn, uͤbernehmen
mußte, fragte ihn, auf welchen Grund er nun⸗
mehr
den Roßhaͤndler bei dem Kammergericht zu 3665
Berlin verklagt wiſſen wolle; und da man ſich
auf den leidigen Brief desſelben an den Nagel⸗
ſchmidt
, wegen der zweideutigen und unklaren
Umſtaͤnde, unter welchen er geſchrieben war,
nicht berufen konnte, der fruͤheren Pluͤnderun⸗3670
gen
und Einaͤſcherungen aber, wegen des Pla⸗
cats
, worin ſie ihm vergeben worden waren,
nicht erwaͤhnen durfte: ſo beſchloß der Kurfuͤrſt,
der161Faksimileder Majeſtaͤt des Kaiſers zu Wien einen Bericht
uͤber den bewaffneten Einfall des Kohlhaas in 3675
Sachſen vorzulegen, ſich uͤber den Bruch des von
ihm eingeſetzten oͤffentlichen Landfriedens zu be⸗
ſchweren
, und ſie, die allerdings durch keine Am⸗
neſtie
gebunden war, anzuliegen, den Kohlhaas
bei dem Hofgericht zu Berlin deshalb durch ei⸗3680
nen
Reichsanklaͤger zur Rechenſchaft zu ziehen.

Acht Tage darauf ward der Roßkamm durch den
Ritter Friedrich von Malzahn, den der Kurfuͤrſt
von Brandenburg mit ſechs Reutern nach Dres⸗
den
geſchickt hatte, geſchloſſen wie er war, auf 3685
einen Wagen geladen, und mit ſeinen fuͤnf Kin⸗
dern
, die man auf ſeine Bitte aus Findel- und
Waiſenhaͤuſern wieder zuſammengeſucht hatte,
nach Berlin transportirt.
Es traf ſich daß der
Kurfuͤrſt von Sachſen auf die Einladung des3690
Landdroſts, Grafen Aloyſius von Kallheim,
der damals an der Graͤnze von Sachſen betraͤcht⸗
liche
Beſitzungen hatte, in Geſellſchaft des Kaͤm⸗
merers
, Herrn Kunz, und ſeiner Gemahlin, der
Dame Heloiſe, Tochter des Landdroſts und 3695
Schweſter des Praͤſidenten, andrer glaͤnzenden
Kleiſts Erzaͤhl. L162FaksimileHerren und Damen, Jagdjunker und Hofher⸗
ren
, die dabei waren, nicht zu erwaͤhnen, zu ei⸗
nem
großen Hirſchjagen, das man, um ihn zu
erheitern, angeſtellt hatte, nach Dahme gereiſt 3700
war; dergeſtalt, daß unter dem Dach bewimpel⸗
ter
Zelte, die quer uͤber die Straße auf einem
Huͤgel erbaut waren, die ganze Geſellſchaft vom
Staub der Jagd noch bedeckt unter dem Schall
einer heitern vom Stamm einer Eiche her⸗3705
ſchallenden
Muſik, von Pagen bedient und Edel⸗
knaben
, an der Tafel ſaß, als der Roßhaͤndler
langſam mit ſeiner Reuterbedeckung die Straße
von Dresden daher gezogen kam.
Denn die
Erkrankung eines der kleinen, zarten Kinder des 3710
Kohlhaas, hatte den Ritter von Malzahn, der
ihn begleitete, genoͤthigt, drei Tage lang in Herz⸗
berg
zuruͤckzubleiben; von welcher Maaßregel er,
dem Fuͤrſten den dem den [nicht emendiert] er diente deshalb allein verant⸗
wortlich
, nicht noͤthig befunden hatte, der Regie⸗3715
rung
zu Dresden weitere Kenntniß zu geben.
Der
Kurfuͤrſt, der mit halboffener Bruſt, den Feder⸗
huth
, nach Art der Jaͤger, mit Tannenzweigen ge⸗
ſchmuͤckt
, neben der Dame Heloiſe ſaß, die, in
163FaksimileZeiten fruͤherer Jugend, ſeine erſte Liebe geweſen 3720
war, ſagte von der Anmuth des Feſtes, das ihn
umgaukelte, heiter geſtimmt: „Laſſet uns hin⸗
gehen
, und dem Ungluͤcklichen, wer es auch ſey,
dieſen Becher mit Wein reichen!“
Die Dame
Heloiſe, mit einem herrlichen Blick auf ihn, 3725
ſtand ſogleich auf, und fuͤllte, die ganze Tafel
pluͤndernd, ein ſilbernes Geſchirr, das ihr ein
Page reichte, mit Fruͤchten, Kuchen und Brod
an; und ſchon hatte, mit Erquickungen jeglicher
Art, die ganze Geſellſchaft wimmelnd das Zelt 3730
verlaſſen, als der Landdroſt ihnen mit einem ver⸗
legenen
Geſicht entgegen kam, und ſie bat zu⸗
ruͤckzubleiben
. Auf die betretene Frage des Kur⸗
fuͤrſten
was vorgefallen waͤre, daß er ſo beſtuͤrzt ſey?
antwortete der Landdroſt ſtotternd gegen den Kaͤm⸗3735
merer
gewandt, daß der Kohlhaas im Wagen
ſey; auf welche jedermann unbegreifliche Nach⸗
richt
, indem weltbekannt war, daß derſelbe be⸗
reits
vor ſechs Tagen abgereiſt war, der Kaͤm⸗
merer
, Herr Kunz, ſeinen Becher mit Wein 3740
nahm, und ihn, mit einer Ruͤckwendung gegen
das Zelt, in den Sand ſchuͤttete.
Der Kurfuͤrſt
L 2164Faksimileſetzte, uͤber und uͤber roth, den ſeinigen auf ei⸗
nen
Teller, den ihm ein Edelknabe auf den Wink
des Kaͤmmerers zu dieſem Zweck vorhielt; und 3745
waͤhrend der Ritter Friedrich von Malzahn, un⸗
ter
ehrfurchtsvoller Begruͤßung der Geſellſchaft,
die er nicht kannte, langſam durch die Zeltleinen,
die uͤber die Straße liefen, nach Dahme weiter
zog, begaben ſich die Herrſchaften, auf die Ein⸗3750
ladung
des Landdroſts, ohne weiter davon Notiz
zu nehmen, ins Zelt zuruͤck.
Der Landdroſt, ſo⸗
bald
ſich der Kurfuͤrſt niedergelaſſen hatte, ſchickte
unter der Hand nach Dahme, um bei dem Ma⸗
giſtrat
daſelbſt die unmittelbare Weiterſchaffung 3755
des Roßhaͤndlers bewirken zu laſſen; doch da der
Ritter, wegen bereits zu weit vorgeruͤckter Ta⸗
geszeit
, beſtimmt in dem Ort uͤbernachten zu
wollen erklaͤrte, ſo mußte man ſich begnuͤgen,
ihn in einer dem Magiſtrat zugehoͤrigen Meierei, 3760
die, in Gebuͤſchen verſteckt, auf der Seite lag, ge⸗
raͤuſchlos
unterzubringen.
Nun begab es ſich,
daß gegen Abend, da die Herrſchaften vom Wein
und dem Genuß eines uͤppigen Nachtiſches zer⸗
ſtreut
, den ganzen Vorfall wieder vergeſſen hat⸗3765
165Faksimileten,
der Landdroſt den Gedanken auf die Bahn
brachte, ſich noch einmal, eines Rudels Hirſche
wegen, der das [emendiert] Zwar fuͤhrt auch das DWB ›Rudel‹ nur als ›Neutrum‹, es gibt aber viele zeitgenoͤſſiſche Belege fuͤr die hier benutzte maskuline Form: der Rudel. ſich hatte blicken laſſen, auf den An⸗
ſtand
zu ſtellen; welchen Vorſchlag die ganze Ge⸗
ſellſchaft
mit Freuden ergriff, und Paarweiſe 3770
nachdem ſie ſich mit Buͤchſen verſorgt, uͤber
Graͤben und Hecken in die nahe Forſt eilte: der⸗
geſtalt
, daß der Kurfuͤrſt und die Dame Heloiſe,
die ſich, um den dem den [nicht emendiert] Schauſpiel beizuwohnen, an
ſeinen Arm hing, von einem Boten, den man 3775
ihnen zugeordnet hatte, unmittelbar, zu ihrem
Erſtaunen, durch den Hof des Hauſes gefuͤhrt
wurden, in welchem Kohlhaas mit den branden⸗
burgiſchen
Reutern befindlich war.
Die Dame
als ſie dies hoͤrte, ſagte: „kommt, gnaͤdigſter 3780
Herr, kommt!“ und verſteckte die Kette, die
ihm vom Halſe herabhing, ſchaͤkernd in ſeinen
ſeidenen Bruſtlatz: „laßt uns ehe der Troß
nachkoͤmmt in die Meierei ſchleichen, und den
wunderlichen Mann, der darin uͤbernachtet, be⸗3785
trachten
!“
Der Kurfuͤrſt, indem er erroͤthend
ihre Hand ergriff, ſagte: Heloiſe! was faͤllt
euch ein?
Doch da ſie, indem ſie ihn betreten
166Faksimileanſah, verſetzte: „daß ihn ja in der Jaͤgertracht,
die ihn decke, kein Menſch erkenne!“ und ihn fort⸗3790
zog
; und in eben dieſem Augenblick ein Paar
Jagdjunker, die ihre Neugierde ſchon befriedigt
hatten, aus dem Hauſe heraustraten, verſichernd,
daß in der That, vermoͤge einer Veranſtaltung,
die der Landdroſt getroffen, weder der Ritter noch 3795
der Roßhaͤndler wiſſe, welche Geſellſchaft in der
Gegend von Dahme verſammelt ſey; ſo druͤckte
der Kurfuͤrſt ſich den Huth laͤchelud laͤchelnd laͤchelnd [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] in die Augen,
und ſagte: „Thorheit, du regierſt die Welt, und
dein Sitz iſt ein ſchoͤner weiblicher Mund!“ —
3800
Es traf ſich daß Kohlhaas eben mit dem Ruͤcken
gegen die Wand auf einem Bund Stroh ſaß, und
ſein, ihm in Herzberg erkranktes Kind mit Sem⸗
mel
und Milch fuͤtterte, als die Herrſchaften,
um ihn zu beſuchen, in die Meierei traten; und 3805
da die Dame ihn, um ein Geſpraͤch einzulei⸗
ten
, fragte: wer er ſey? und was dem Kinde
fehle? auch was er verbrochen und wohin
man ihn unter ſolcher Bedeckung abfuͤhre?
ſo ruͤckte er ſeine lederne Muͤtze vor ihr, und gab 3810
ihr auf alle dieſe Fragen, indem er ſein Geſchaͤft
167Faksimilefortſetzte, unreichliche aber befriedigende Ant⸗
wort
.
Der Kurfuͤrſt, der hinter den Jagd⸗
junkern
ſtand, und eine kleine bleierne Kapſel, die
ihm an einem ſeidenen Faden vom Hals herab⸗3815
hing
, bemerkte, fragte ihn, da ſich grade nichts
Beſſeres zur Unterhaltung darbot: was dieſe zu
bedeuten haͤtte und was darin befindlich waͤre?

Kohlhaas erwiderte: „ja, geſtrenger Herr, dieſe
Kapſel!“ — und damit ſtreifte er ſie vom Nak⸗3820
kenNacken
ab, oͤffnete ſie und nahm einen kleinen mit
Mundlack verſiegelten Zettel heraus — „mit
dieſer Kapſel hat es eine wunderliche Bewand⸗
niß!
Sieben Monden moͤgen es etwa ſeyn, ge⸗
nau
am Tage nach dem Begraͤbniß meiner Frau; 3825
und von Kohlhaaſenbruͤck, wie euch vielleicht be⸗
kannt
ſeyn wird, war ich aufgebrochen, um des
Junkers von Tronka, der mir viel Unrecht zu⸗
gefuͤgt
, habhaft zu werden, als um einer Ver⸗
handlung
willen, die mir unbekannt iſt, der 3830
Kurfuͤrſt von Sachſen und der Kurfuͤrſt von
Brandenburg in Juͤterbock, einem Marktflecken,
durch den der Streifzug mich fuͤhrte, eine Zu⸗
ſammenkunft
hielten; und da ſie ſich gegen
168FaksimileAbend ihren Wuͤnſchen gemaͤß vereinigt hatten, 3835
ſo gingen ſie, in freundſchaftlichem Geſpraͤch,
durch die Straßen der Stadt, um den Jahr⸗
markt
, der eben darin froͤhlich abgehalten ward,
in Augenſchein zu nehmen.
Da trafen ſie auf
eine Zigeunerin, die, auf einem Schemel ſitzend, 3840
dem Volk, das ſie umringte, aus dem Kalender
wahrſagte, und fragten ſie ſcherzhafter Weiſe:
ob ſie ihnen nicht auch etwas, das ihnen lieb
waͤre, zu eroͤffnen haͤtte?
Ich, der mit meinem
Haufen eben in einem Wirthshauſe abgeſtiegen, 3845
und auf dem Platz, wo dieſer Vorfall ſich zutrug,
gegenwaͤrtig war, konnte hinter allem Volk,
am Eingang einer Kirche, wo ich ſtand, nicht
vernehmen, was die wunderliche Frau den Her⸗
ren
ſagte; dergeſtalt, daß, da die Leute lachend 3850
einander zufluͤſterten, ſie theile nicht jedermann
ihre Wiſſenſchaft mit, und ſich des Schauſpiels
wegen das ſich bereitete, ſehr bedraͤngten, ich,
weniger neugierig, in der That, als um den Neu⸗
gierigen
Platz zu machen, auf eine Bank ſtieg, 3855
die hinter mir im Kircheneingange ausgehauen
war.
Kaum hatte ich von dieſem Standpunkt
169Faksimileaus, mit voͤlliger Freiheit der Ausſicht, die Herr⸗
ſchaften
und das Weib, das auf dem Schemel vor
ihnen ſaß und etwas aufzukritzeln ſchien, erblickt: 3860
da ſteht ſie ploͤtzlich auf ihre Kruͤcken gelehnt,
indem ſie ſich im Volk umſieht, auf; faßt mich,
der nie ein Wort mit ihr wechſelte, noch ihrer
Wiſſenſchaft Zeit ſeines Lebens begehrte, ins
Auge; draͤngt ſich durch den ganzen dichten Auf⸗3865
lauf
der Menſchen zu mir heran und ſpricht:
„da! wenn es der Herr wiſſen will, ſo mag er
dich danach fragen!“
Und damit, geſtrenger
Herr, reichte ſie mir mit ihren duͤrren knoͤcher⸗
nen
Haͤnden dieſen Zettel dar.
Und da ich be⸗3870
treten
, waͤhrend ſich alles Volk zu mir umwen⸗
det
, ſpreche: Muͤtterchen, was auch verehrſt du
mir da? antwortet ſie, nach vielem unvernehm⸗
lichen
Zeug, worunter ich jedoch zu meinem
großen Befremden meinen Namen hoͤre: „ein 3875
Amulet, Kohlhaas, der Roßhaͤndler; verwahr’
es wohl, es wird dir dereinſt das Leben retten!“
und verſchwindet. —
Nun!“ fuhr Kohlhaas
gutmuͤthig fort: „die Wahrheit zu geſtehen,
hats mir in Dresden, ſo ſcharf es herging, 3880
170Faksimiledas Leben nicht gekoſtet; und wie es mir in
Berlin gehen wird, und ob ich auch dort da⸗
mit
beſtehen werde, ſoll die Zukunft lehren.“ —

Bei dieſen Worten ſetzte ſich der Kurfuͤrſt auf
eine Bank; und ob er ſchon auf die betretne 3885
Frage der Dame: was ihn fehle? antwortete:
nichts, gar nichts! ſo fiel er doch ſchon ohn⸗
maͤchtig
auf den Boden nieder, ehe ſie noch Zeit
hatte ihm beizuſpringen, und in ihre Arme auf⸗
zunehmen
.
Der Ritter von Malzahn, der in 3890
eben dieſem Augenblick, eines Geſchaͤfts halber,
ins Zimmer trat, ſprach: heiliger Gott! was
fehlt dem Herrn? die Dame rief: ſchafft Waſſer
her!
Die Jagdjunker hoben ihn auf und trugen
ihn auf ein im Nebenzimmer befindliches Bett; 3895
und die Beſtuͤrzung erreichte ihren Gipfel, als
der Kaͤmmerer, den ein Page herbeirief, nach
mehreren vergeblichen Bemuͤhungen, ihn ins Le⸗
ben
zuruͤckzubringen, erklaͤrte: er gebe alle Zei⸗
chen
von ſich, als ob ihn der Schlag geruͤhrt!
3900
Der Landdroſt, waͤhrend der Mundſchenk einen
reitenden Boten nach Luckau ſchickte, um einen
Arzt herbeizuholen, ließ ihn, da er die Augen
171Faksimileaufſchlug, in einen Wagen bringen, und Schritt
vor Schritt nach ſeinem in der Gegend befindli⸗3905
chen
Jagdſchloß abfuͤhren; aber dieſe Reiſe zog
ihm, nach ſeiner Ankunft daſelbſt, zwei neue
Ohnmachten zu: dergeſtalt, daß er ſich erſt ſpaͤt
am andern Morgen, bei der Ankunft des Arztes
aus Luckau, unter gleichwohl entſcheidenden 3910
Symptomen eines herannahenden Nervenfie⸗
bers
, einigermaßen erholte.
Sobald er ſeiner
Sinne maͤchtig geworden war, richtete er ſich
halb im Bette auf, und ſeine erſte Frage war
gleich: wo der Kohlhaas ſey?
Der Kaͤmmerer, 3915
der ſeine Frage mißverſtand, ſagte, indem er
ſeine Hand ergriff: daß er ſich dieſes entſetzlichen
Menſchen wegen beruhigen moͤgte, indem der⸗
ſelbe
, ſeiner Beſtimmung gemaͤß, nach jenem
ſonderbaren und unbegreiflichen Vorfall, in der 3920
Meierei zu Dahme, unter brandenburgiſcher
Bedeckung, zuruͤckgeblieben waͤre.
Er fragte ihn,
unter der Verſicherung ſeiner lebhafteſten Theil⸗
nahme
und der Betheurung, daß er ſeiner Frau,
wegen des unverantwortlichen Leichtſinns, ihn 3925
mit dieſem Mann zuſammenzubringen, die bitter⸗
172Faksimileſten
Vorwuͤrfe gemacht haͤtte: was ihn denn ſo
wunderbar und ungeheuer in der Unterredung mit
demſelben ergriffen haͤtte?
Der Kurfuͤrſt ſagte:
er muͤſſe ihm nur geſtehen, daß der Anblick eines 3930
nichtigen Zettels, den der Mann in einer bleier⸗
nen
Kapſel mit ſich fuͤhre, Schuld an dem
ganzen unangenehmen Zufall ſey, der ihm zuge⸗
ſtoßen
.
Er ſetzte noch mancherlei zur Erklaͤrung
dieſes Umſtands, das der Kaͤmmerer nicht ver⸗3935
ſtand
, hinzu; verſicherte ihn ploͤtzlich, indem er
ſeine Hand zwiſchen die ſeinigen druͤckte, daß
ihm der Beſitz dieſes Zettels von der aͤußerſten
Wichtigkeit ſey; und bat ihn, unverzuͤglich auf⸗
zuſitzen
, nach Dahme zu reiten, und ihm den 3940
Zettel, um welchen Preis es immer ſey, von
demſelben zu erhandeln.
Der Kaͤmmerer, der
Muͤhe hatte, ſeine Verlegenheit zu verbergen,
verſicherte ihn: daß, falls dieſer Zettel einigen
Werth fuͤr ihn haͤtte, nichts auf der Welt noth⸗3945
wendiger
waͤre, als dem Kohlhaas dieſen Um⸗
ſtand
zu verſchweigen; indem, ſobald derſelbe
durch eine unvorſichtige Aeußerung Kenntniß
davon naͤhme, alle Reichthuͤmer, die er beſaͤße,
173Faksimilenicht hinreichen wuͤrden, ihn aus den Haͤnden 3950
dieſes grimmigen, in ſeiner Rachſucht unerſaͤttli⸗
chen
Kerls zu erkaufen.
Er fuͤgte, um ihn zu be⸗
ruhigen
, hinzu, daß man auf ein anderes Mittel
denken muͤſſe, und daß es vielleicht durch Liſt,
vermoͤge eines Dritten ganz Unbefangenen, in⸗3955
dem
der Boͤſewicht wahrſcheinlich, an und fuͤr
ſich, nicht ſehr daran haͤnge, moͤglich ſeyn wuͤr⸗
de
, ſich den Beſitz des Zettels, an dem ihn ihm ihn [nicht emendiert] ſo
viel gelegen ſei, zu verſchaffen.
Der Kurfuͤrſt,
indem er ſich den Schweiß abtrocknete, fragte: 3960
ob man nicht unmittelbar zu dieſem Zweck nach
Dahme ſchicken, und den weiteren Transport
des Roßhaͤndlers, vorlaͤufig, bis man des Blat⸗
tes
, auf welche Weiſe es ſey, habhaft geworden,
einſtellen koͤnne?
Der Kaͤmmerer, der ſeinen 3965
Sinnen nicht traute, verſetzte: daß leider allen
wahrſcheinlichen Berechnungen zufolge, der
Roßhaͤndler Dahme bereits verlaſſen haben, und
ſich jenſeits der Graͤnze, auf brandenburgiſchem
Grund und Boden befinden muͤſſe, wo das Un⸗3970
ternehmen
, die Fortſchaffung desſelben zu hem⸗
men
, oder wohl gar ruͤckgaͤngig zu machen, die
174Faksimileunangenehmſten und weitlaͤuftigſten, ja ſolche
Schwierigkeiten, die vielleicht gar nicht zu beſei⸗
tigen
waͤren, veranlaſſen wuͤrde.
Er fragte ihn, 3975
da der Kurfuͤrſt ſich ſchweigend, mit der Ge⸗
baͤhrde
eines ganz Hoffnungsloſen, auf das Kiſ⸗
ſen
zuruͤcklegte: was denn der Zettel enthalte?
und durch welchen Zufall befremdlicher und un⸗
erklaͤrlicher
Art ihm, daß der Inhalt ihn betreffe, 3980
bekannt ſey?
Hierauf aber, unter zweideutigen
Blicken auf den Kaͤmmerer, deſſen Willfaͤhrig⸗
keit
er in dieſem Falle mißtraute, antwortete der
Kurfuͤrſt nicht: ſtarr, mit unruhig klopfendem
Herzen lag er da, und ſah auf die Spitze des 3985
Schnupftuchs nieder, das er gedankenvoll zwi⸗
ſchen
den Haͤnden hielt; und bat ihn ploͤtzlich,
den Jagdjunker vom Stein, einen jungen, ruͤ⸗
ſtigen
und gewandten Herrn, deſſen er ſich oͤfter
ſchon zu geheimen Geſchaͤften bedient hatte, 3990
unter dem Vorwand, daß er ein anderweitiges
Geſchaͤft mit ihm abzumachen habe, ins Zimmer
zu rufen.
Den Jagdjunker, nachdem er ihm
die Sache auseinandergelegt, und von der Wich⸗
tigkeit
des Zettels, in deſſen Beſitz der Kohlhaas 3995
175Faksimilewar, unterrichtet hatte, fragte er, ob er ſich ein
ewiges Recht auf ſeine Freundſchaft erwerben,
und ihm den Zettel, noch ehe derſelbe Berlin er⸗
reicht
, verſchaffen wolle? und da der Junker, ſo⸗
bald
er das Verhaͤltniß nur, ſonderbar wie es 4000
war, einigermaßen uͤberſchaute, verſicherte, daß
er ihm mit allen ſeinen Kraͤften zu Dienſten
ſtehe: ſo trug ihm der Kurfuͤrſt auf, dem Kohl⸗
haas
nachzureiten, und ihm, da demſelben mit
Geld wahrſcheinlich nicht beizukommen ſey, in 4005
einer mit Klugheit angeordneten Unterredung,
Freiheit und Leben dafuͤr anzubieten, ja ihm,
wenn er darauf beſtehe, unmittelbar, obſchon
mit Vorſicht, zur Flucht aus den Haͤnden der
brandenburgiſchen Reuter, die ihn transportir⸗4010
ten
, mit Pferden, Leuten und Geld an die Hand
zu gehen.
Der Jagdjunker, nachdem er ſich ein
Blatt von der Hand des Kurfuͤrſten zur Be⸗
glaubigung
ausgebeten, brach auch ſogleich mit ei⸗
nigen
Knechten auf, und hatte, da er den Odem 4015
der Pferde nicht ſparte, das Gluͤck, den Kohl⸗
haas
auf einem Graͤnzdorf zu treffen, wo der⸗
ſelbe
mit dem Ritter von Malzahn und ſeinen
176Faksimilefuͤnf Kindern ein Mittagsmahl, das im Freien
vor der Thuͤr eines Hauſes angerichtet war, zu 4020
ſich nahm.
Der Ritter von Malzahn, dem der
Junker ſich als einen Fremden, der bei ſeiner
Durchreiſe den ſeltſamen Mann, den er mit ſich
fuͤhre, in Augenſchein zu nehmen wuͤnſche, vor⸗
ſtellte
, noͤthigte ihn ſogleich auf zuvorkommende 4025
Art, indem er ihn mit dem Kohlhaas bekannt
machte, an der Tafel nieder; und da der Ritter
in Geſchaͤften der Abreiſe ab und zuging, die
Reuter aber an einem, auf des Hauſes anderer
Seite befindlichen Tiſch, ihre Mahlzeit hielten: 4030
ſo traf ſich die Gelegenheit bald, wo der Junker
dem Roßhaͤndler eroͤffnen konnte, wer er ſey,
und in welchen beſonderen Auftraͤgen er zu ihm
komme.
Der Roßhaͤndler, der bereits Rang
und Namen deſſen, der beim Anblick der in Rede 4035
ſtehenden Kapſel, in der Meierei zu Dahme in
Ohnmacht gefallen war, kannte, und der zur
Kroͤnung des Taumels, in welchen ihn dieſe Ent⸗
deckung
verſetzt hatte, nichts bedurfte, als Ein⸗
ſicht
in die Geheimniſſe des Zettels, den er, um 4040
mancherlei Gruͤnde willen, entſchloſſen war,
aus177Faksimileaus bloßer Neugierde nicht zu eroͤffnen: der Roß⸗
haͤndler
ſagte, eingedenk der unedelmuͤthigen und
unfuͤrſtlichen Behandlung, die er in Dresden,
bei ſeiner gaͤnzlichen Bereitwilligkeit, alle nur 4045
moͤglichen Opfer zu bringen, hatte erfahren muͤſ⸗
ſen
: „daß er den Zettel behalten wolle.“
Auf
die Frage des Jagdjunkers: was ihn zu dieſer
ſonderbaren Weigerung, da man ihm doch nichts
Minderes, als Freiheit und Leben dafuͤr anbiete, 4050
veranlaſſe? antwortete Kohlhaas: „Edler Herr!
Wenn euer Landesherr kaͤme, und ſpraͤche, ich
will mich, mit dem ganzen Troß derer, die mir
das Scepter fuͤhren helfen, vernichten — ver⸗
nichten
, verſteht ihr, welches allerdings der groͤ⸗4055
ßeſte
Wunſch iſt, den meine Seele hegt: ſo wuͤr⸗
de
ich ihm doch den Zettel noch, der ihm mehr
werth iſt, als das Daſeyn, verweigern und ſpre⸗
chen
: du kannſt mich auf das Schaffot bringen,
ich aber kann dir weh thun, und ich will’s!“
4060
Und damit, im Antlitz den Tod, rief er einen
Reuter herbei, unter der Aufforderung, ein gu⸗
tes
Stuͤck Eſſen, das in der Schuͤſſel uͤbrig ge⸗
Kleiſts Erzaͤhl. M178Faksimileblieben
war, zu ſich zu nehmen; und fuͤr den
ganzen Reſt der Stunde, die er im Flecken zu⸗4065
brachte
, fuͤr den Junker, der an der Tafel ſaß,
wie nicht vorhanden, wandte er ſich erſt wieder,
als er den Wagen beſtieg, mit einem Blick, der
ihn abſchiedlich gruͤßte, zu ihm zuruͤck. —
Der
Zuſtand des Kurfuͤrſten, als er dieſe Nachricht 4070
bekam, verſchlimmerte ſich in dem Grade, daß
der Arzt, waͤhrend drei verhaͤngnißvoller Tage,
ſeines Lebens wegen, das zugleicher zu gleicher [emendiert] zu gleicher [emendiert] zu gleicher [emendiert]
Zeit, von ſo
vielen Seiten angegriffen ward, in der groͤßeſten
Beſorgniß war. Gleichwohl ſtellte er ſich, durch 4075
die Kraft ſeiner natuͤrlichen Geſundheit, nach dem
Krankenlager einiger peinlich zugebrachten Wo⸗
chen
wieder her; dergeſtalt wenigſtens, daß man
ihn in einen Wagen bringen, und mit Kiſſen
und Decken wohl verſehen, nach Dresden zu 4080
ſeinen Regierungsgeſchaͤften wieder zuruͤckfuͤhren
konnte.
Sobald er in dieſer Stadt angekommen
war, ließ er den Prinzen Chriſtiern von Meißen
rufen, und fragte denſelben: wie es mit der Ab⸗
fertigung
des Gerichtsraths Eibenmayer ſtuͤnde, 4085
den man, als Anwald in der Sache des Kohl⸗
179Faksimilehaas,
nach Wien zu ſchicken geſonnen geweſen
waͤre, um kaiſerlicher Majeſtat Majeſtaͤt daſelbſt die Be⸗
ſchwerde
wegen gebrochenen, kaiſerlichen Land⸗
friedens
, vorzulegen?
Der Prinz antwortete 4090
ihm: daß derſelbe, dem, bei ſeiner Abreiſe nach
Dahme hinterlaſſenen Befehl gemaͤß, gleich nach
Ankunft des Rechtsgelehrten Zaͤuner, den der
Kurfuͤrſt von Brandenburg als Anwald nach
Dresden geſchickt haͤtte, um die Klage desſelben, 4095
gegen den Junker Wenzel von Tronka, der Rap⸗
pen
wegen, vor Gericht zu bringen, nach Wien
abgegangen waͤre.
Der Kurfuͤrſt, indem er er⸗
roͤthend
an ſeinen Arbeitstiſch trat, wunderte ſich
uͤber dieſe Eilfertigkeit, indem er ſeines Wiſſens 4100
erklaͤrt haͤtte, die definitive Abreiſe des Eiben⸗
mayer
, wegen vorher nothwendiger Ruͤckſprache
mit dem Doctor Luther, der dem Kohlhaas die
Amneſtie ausgewirkt, einem naͤheren und be⸗
ſtimmteren
Befehl vorbehalten zu wollen.
Da⸗4105
bei
warf er einige Briefſchaften und Acten, die
auf dem Tiſch lagen, mit dem Ausdruck zuruͤck⸗
gehaltenen
Unwillens, uͤber einander.
Der
Prinz, nach einer Pauſe, in welcher er ihn mit
M 2180Faksimilegroßen Augen anſah, verſetzte, daß es ihm leid 4110
thaͤte, wenn er ſeine Zufriedenheit in dieſer Sache
verfehlt habe; inzwiſchen koͤnne er ihm den Be⸗
ſchluß
des Staatsraths vorzeigen, worin ihm
die Abſchickung des Rechtsanwalds, zu dem be⸗
ſagten
Zeitpunkt, zur Pflicht gemacht worden 4115
waͤre.
Er ſetzte hinzu, daß im Staatsrath von
einer Ruͤckſprache mit dem Doctor Luther, auf
keine Weiſe die Rede geweſen waͤre; daß es fruͤh⸗
erhin
vielleicht zweckmaͤßig geweſen ſeyn moͤchte,
dieſen geiſtlichen Herrn, wegen der Verwendung, 4120
die er dem Kohlhaas angedeihen laſſen, zu be⸗
ruͤckſichtigen
, nicht aber jetzt mehr, nachdem man
demſelben die Amneſtie vor den Augen der gan⸗
zen
Welt gebrochen, ihn arretirt, und zur Ver⸗
urtheilung
und Hinrichtung an die brandenbur⸗4125
giſchen
Gerichte ausgeliefert haͤtte.
Der Kur⸗
fuͤrſt
ſagte: das Verſehen, den Eibenmayer ab⸗
geſchickt
zu haben, waͤre auch in der That nicht
groß; inzwiſchen wuͤnſche er, daß derſelbe vor⸗
laͤufig
, bis auf weiteren Befehl, in ſeiner Eigen⸗4130
ſchaft
als Anklaͤger zu Wien nicht auftraͤte, und
bat den Prinzen, deshalb das Erforderliche unver⸗
181Faksimilezuͤglich
durch einen Expreſſen, an ihn zu erlaſ⸗
ſen
.
Der Prinz antwortete: daß dieſer Befehl
leider um einen Tag zu ſpaͤt kaͤme, indem der 4135
Eibenmayer bereits nach einem Berichte, der
eben heute eingelaufen, in ſeiner Qualitaͤt als
Anwald aufgetreten, und mit Einreichung der
Klage bei der Wiener Staatskanzlei vorgegan⸗
gen
waͤre.
Er ſetzte auf die betroffene Frage 4140
des Kurfuͤrſten: wie dies uͤberall in ſo kurzer
Zeit moͤglich ſey? hinzu: daß bereits, ſeit der
Abreiſe dieſes Mannes drei Wochen verſtrichen
waͤren, und daß die Inſtruktion, die er erhalten,
ihm eine ungeſaͤumte Abmachung dieſes Geſchaͤfts, 4145
gleich nach ſeiner Ankunft in Wien zur Pflicht
gemacht haͤtte.
Eine Verzoͤgerung, bemerkte der
Prinz, wuͤrde in dieſem Fall um ſo unſchicklicher
geweſen ſeyn, da der brandenburgiſche Anwald
Zaͤuner, gegen den Junker Wenzel von Tronka 4150
mit dem trotzigſten Nachdruck verfahre, und be⸗
reits
auf eine vorlaͤufige Zuruͤckziehung der Rap⸗
pen
, aus den Haͤnden des Abdeckers, behufs ih⸗
rer
kuͤnftigen Wiederherſtellung, bei dem Gerichts⸗
hof
angetragen, und auch aller Einwendungen 4155
182Faksimile der Gegenpart des Gegenparts [emendiert] ›die Gegenpart‹ findet sich in der weiblichen Form haͤufig bis ins 19. Jahrhundert, z. B. ›in Abwesenheit der Gegenpart‹. Hinweis auch in [DWB: Gegenpart, 5]. ungeachtet, auch durchgeſetzt habe.

Der Kurfuͤrſt, indem er die Klingel zog, ſagte:
„gleichviel! es haͤtte nichts zu bedeuten!“ und
nachdem er ſich mit gleichguͤltigen Fragen: wie „wie [emendiert]
es ſonſt in Dresden ſtehe? und was in ſeiner 4160
Abweſenheit vorgefallen ſey?“ zu dem Prinzen
zuruͤckgewandt hatte: gruͤßte er ihn, unfaͤhig
ſeinen innerſten Zuſtand zu verbergen, mit der
Hand, und entließ ihn.
Er forderte ihm noch
an demſelben Tage ſchriftlich, unter dem Vor⸗4165
wande
, daß er die Sache, ihrer politiſchen Wich⸗
tigkeit
wegen, ſelbſt bearbeiten wolle, die ſaͤmmt⸗
lichen
Kohlhaaſiſchen Acten ab; und da ihm der
Gedanke, denjenigen zu verderben, von dem er
allein uͤber die Geheimniſſe des Zettels Auskunft 4170
erhalten konnte, unertraͤglich war: ſo verfaßte
er einen eigenhaͤndigen Brief an den Kaiſer, wor⸗
in
er ihn auf herzliche und dringende Weiſe bat,
aus wichtigen Gruͤnden, die er ihm vielleicht in
kurzer Zeit beſtimmter auseinander legen wuͤrde, 4175
die Klage, die der Eibenmayer gegen den Kohl⸗
haas
eingereicht, vorlaͤufig bis auf einen weiteren
Beſchluß, zuruͤcknehmen zu duͤrfen.
Der Kaiſer,
183Faksimilein einer durch die Staatskanzelei ausgefertigten
Note, antwortete ihm: „daß der Wechſel, der 4180
ploͤtzlich in ſeiner Bruſt vorgegangen zu ſeyn
ſcheine, ihn aufs Aeußerſte befremde; daß der
ſaͤchſiſcher Seits an ihn erlaſſene Bericht, die
Sache des Kohlhaas zu einer Angelegenheit ge⸗
ſammten
heiligen roͤmiſchen Reichs gemacht 4185
haͤtte; daß demgemaͤß er, der Kaiſer, als Ober⸗
haupt
desſelben, ſich verpflichtet geſehen haͤtte,
als Anklaͤger in dieſer Sache bei dem Hauſe
Brandenburg aufzutreten; dergeſtalt, daß da
bereits der Hof-Aſſeſſor Franz Muͤller, in der 4190
Eigenſchaft als Anwald nach Berlin gegangen
waͤre, um den Kohlhaas daſelbſt, wegen Ver⸗
letzung
des oͤffentlichen Landfriedens, zur Rechen⸗
ſchaft
zu ziehen, die Beſchwerde nunmehr auf
keine Weiſe zuruͤckgenommen werden koͤnne, und 4195
die Sache den Geſetzen gemaͤß, ihren weiteren
Fortgang nehmen muͤſſe.“
Dieſer Brief ſchlug
den Kurfuͤrſten voͤllig nieder; und da, zu ſeiner
aͤußerſten Betruͤbniß, in einiger Zeit Privat⸗
ſchreiben
aus Berlin einliefen, in welchen die 4200
Einleitung des Prozeſſes bei dem Kammerge⸗
184Faksimilericht
gemeldet, und bemerkt ward, daß der Kohl⸗
haas
wahrſcheinlich, allen Bemuͤhungen des ihm
zugeordneten Advocaten ungeachtet, auf dem
Schaffot enden werde: ſo beſchloß dieſer un⸗4205
gluͤckliche
Herr noch einen Verſuch zu machen,
und bat den Kurfuͤrſten von Brandenburg, in
einer eigenhaͤndigen Zuſchrift, um des Roßhaͤnd⸗
lers
Leben.
Er ſchuͤtzte vor, daß die Amneſtie,
die man dieſem Manne angelobt, die Vollſtrek⸗4210
kungVollſtreckung
eines Todesurtheils an demſelben, fuͤglicher
Weiſe, nicht zulaſſe; verſicherte ihn, daß es,
trotz der ſcheinbaren Strenge, mit welcher man
gegen ihn verfahren, nie ſeine Abſicht geweſen
waͤre, ihn ſterben zu laſſen; und beſchrieb ihm, 4215
wie troſtlos er ſeyn wuͤrde, wenn der Schutz,
den man vorgegeben haͤtte, ihm von Berlin aus
angedeihen laſſen zu wollen, zuletzt, in einer un⸗
erwarteten
Wendung, zu ſeinem groͤßeren Nach⸗
theile
ausſchluͤge, als wenn er in Dresden geblie⸗4220
ben
, und ſeine Sache nach ſaͤchſiſchen Geſetzen
entſchieden worden waͤre.
Der Kurfuͤrſt von
Brandenburg, dem in dieſer Angabe mancher⸗
lei
zweideutig und unklar ſchien, antwortete ihm:
185Faksimile„daß der Nachdruck, mit welchem der Anwald 4225
kaiſerlicher Majeſtaͤt verfuͤhre, platterdings nicht
erlaube, dem Wunſch, den er ihm geaͤußert, ge⸗
m
aͤß, von der ſtrengen Vorſchrift der Geſetze ab⸗
zuweichen
.
Er bemerkte, daß die ihm vorge⸗
legte
Beſorgniß in der That zu weit ginge, in⸗4230
dem
die Beſchwerde, wegen der dem Kohlhaas
in der Amneſtie verziehenen Verbrechen ja nicht
von ihm, der demſelben die Amneſtie ertheilt,
ſondern von dem Reichsoberhaupt, das daran
auf keine Weiſe gebunden ſey, bei dem Kammer⸗4235
gericht
zu Berlin anhaͤngig gemacht worden
waͤre. Dabei ſtellte er ihm vor, wie nothwen⸗
dig
bei den fortdauernden Gewaltthaͤtigkeiten des
Nagelſchmidt, die ſich ſogar ſchon, mit uner⸗
hoͤrter
Dreiſtigkeit, bis aufs brandenburgiſche 4240
Gebiet erſtreckten, die Statuirung eines ab⸗
ſchreckenden
Beiſpiels waͤre, und bat ihn, falls
er dies Alles nicht beruͤckſichtigen wolle, ſich
an des Kaiſers Majeſtaͤt ſelbſt zu wenden,
indem, wenn dem Kohlhaas zu Gunſten 4245
ein Machtſpruch fallen ſollte, dieß allein auf
eine Erklaͤrung von dieſer Seite her geſche⸗
186Faksimilehen
koͤnne.“
Der Kurfuͤrſt, aus Gram und
Aerger uͤber alle dieſe mißgluͤckten Verſuche,
verfiel in eine neue Krankheit; und da der Kaͤm⸗4250
merer
ihn an einem Morgen beſuchte, zeigte er
ihm die Briefe, die er, um dem Kohlhaas das
Leben zu friſten, und ſomit wenigſtens Zeit zu
gewinnen, des Zettels, den er beſaͤße, habhaft
zu werden, an den Wiener und Berliner Hof 4255
erlaſſen.
Der Kaͤmmerer warf ſich auf
Knieen vor ihm nieder, und bat ihn, um Alles
was ihm heilig und theuer ſey, ihm zu ſagen,
was dieſer Zettel enthalte?
Der Kurfuͤrſt ſprach,
er moͤgte das Zimmer verriegeln, und ſich auf 4260
das Bett niederſetzen; und nachdem er ſeine
Hand ergriffen, und mit einem Seufzer an ſein
Herz gedruͤckt hatte, begann er folgendergeſtalt:

„Deine Frau hat dir, wie ich hoͤre, ſchon er⸗
zaͤhlt
, daß der Kurfuͤrſt von Brandenburg und 4265
ich, am dritten Tage der Zuſammenkunft, die
wir in Juͤterbock hielten, auf eine Zigeunerinn
trafen; und da der Kurfuͤrſt, aufgeweckt wie er von
Natur iſt, beſchloß, den Ruf dieſer abentheuerlichen
Frau, von deren Kunſt, eben bei der Tafel, auf4270
187Faksimile ungebuͤhrliche Weiſe die Rede geweſen war, durch
einen Scherz im Angeſicht alles Volks zu nichte
zu machen: ſo trat et er mit verſchraͤnkten Armen
vor ihren Tiſch, und forderte, der Weisſagung
wegen, die ſie ihm machen ſollte, ein Zeichen von 4275
ihr, das ſich noch heute erproben ließe, vorſchuͤtzend,
daß er ſonſt nicht, und waͤre ſie auch die roͤmi⸗
ſche
Sybille ſelbſt, an ihre Worte glauben koͤnne.

Die Frau, indem ſie uns fluͤchtig von Kopf zu
Fuß maß, ſagte: das Zeichen wuͤrde ſeyn, daß 4280
uns der große, gehoͤrnte Rehbock, den der Sohn
des Gaͤrtners im Park erzog, auf dem Markt,
worauf wir uns befanden, bevor wir ihn noch
verlaſſen, entgegenkommen wuͤrde.
Nun mußt
du wiſſen, daß dieſer, fuͤr die Dresdner Kuͤche 4285
beſtimmte Rehbock, in einem mit Latten hoch
verzaͤunten Verſchlage, den die Eichen des Parks
beſchatteten, hinter Schloß und Riegel aufbe⸗
wahrt
ward, dergeſtalt, daß, da uͤberdies an⸗
deren
kleineren Wildes und Gefluͤgels wegen, 4290
der Park uͤberhaupt und obenein der Garten,
der zu ihm fuͤhrte, in ſorgfaͤltigem Beſchluß
gehalten ward, ſchlechterdings nicht abzuſehen
188Faksimilewar, wie uns das Thier, dieſem ſonderbaren
Vorgeben gemaͤß, bis auf dem Platz, wo wir 4295
ſtanden, entgegen kommen wuͤrde; gleichwohl
ſchickte der Kurfuͤrſt aus Beſorgniß vor einer
dahinter ſteckenden Schelmerei, nach einer kur⸗
zen
Abrede mit mir, entſchloſſen, auf unabaͤn⸗
derliche
Weiſe, Alles was ſie noch vorbringen 4300
wuͤrde, des Spaßes wegen, zu Schanden zu
machen, ins Schloß, und befahl, daß der Reh⸗
bock
augenblicklich getoͤdtet, und fuͤr die Tafel,
an einem der naͤchſten Tage, zubereitet werden
ſolle.
Hierauf wandte er ſich zu der Frau, vor 4305
welcher dieſe Sache laut verhandelt worden war,
zuruͤck, und ſagte: nun, wohlan! was haſt du
mir fuͤr die Zukunft zu entdecken?
Die Frau,
indem ſie in ſeine Hand ſah, ſprach: Heil mei⸗
nem
Kurfuͤrſten und Herrn!
Deine Gnaden 4310
wird lange regieren, das Haus, aus dem du
ſtammſt, lange beſtehen, und deine Nachkom⸗
men
groß und herrlich werden und zu Macht ge⸗
langen
, vor allen Fuͤrſten und Herren der Welt!

Der Kurfuͤrſt, nach einer Pauſe, in welcher er 4315
die Frau gedankenvoll anſah, ſagte halblaut,
189Faksimilemit einem Schritte, den er zu mir that, daß es
ihm jetzo faſt Leid thaͤte, einen Boten abgeſchickt
zu haben, um die Weisſagung zu nichte zu ma⸗
chen
; und waͤhrend das Geld aus den Haͤnden 4320
der Ritter, die ihm folgten, der Frau haufen⸗
weis
, unter vielem Jubel, in dem Schooß reg⸗
nete
, fragte er ſie, indem er ſelbſt in die Taſche
griff, und ein Goldſtuͤck dazu legte: ob der Gruß,
den ſie mir zu eroͤffnen haͤtte, auch von ſo ſil⸗4325
bernem
Klang waͤre, als der ſeinige?
Die Frau,
nachdem ſie einen Kaſten, der ihr zur Seite ſtand,
aufgemacht, und das Geld, nach Sorte und
Menge, weitlaͤufig und umſtaͤndlich darin ge⸗
ordnet
, und den Kaſten wieder verſchloſſen hatte, 4330
ſchuͤtzte ihre Hand vor die Sonne, gleichſam
als ob ſie ihr laͤſtig waͤre, und ſah mich an; und
da ich die Frage an ſie wiederholte, und, auf
ſcherzhafte Weiſe, waͤhrend ſie meine Hand
pruͤfte, zum Kurfuͤrſten ſagte: mir ſcheint es, 4335
hat ſie nichts, das eben angenehm waͤre, zu ver⸗
kuͤndigen
: ſo ergriff ſie ihre Kruͤcken, hob ſich
langſam daran vom Schemel empor, und in⸗
dem
ſie ſich, mit geheimnißvoll vorgehaltenen
190FaksimileHaͤnden, dicht zu mir heran draͤngte, fluͤſterte 4340
ſie mir vernehmlich ins Ohr: nein! —
So!
ſagt’ ich verwirrt, und trat einen Schritt vor
der Geſtalt zuruͤck, die ſich, mit einem Blick,
kalt und leblos, wie aus marmornen Augen,
auf den Schemel, der hinter ihr ſtand, zuruͤck⸗4345
ſetzte
: von welcher Seite her droht meinem
Hauſe Gefahr?
Die Frau, indem ſie eine Kohle
und ein Papier zur Hand nahm und ihre Knieen
kreuzte, fragte: ob ſie es mir aufſchreiben ſolle?
und da ich, verlegen in der That, bloß weil 4350
mir, unter den beſtehenden Umſtaͤnden, nichts
anders uͤbrig blieb, antworte: antwortete: [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] antwortete: [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] ja! das thu! ſo
verſetzte ſie: „wohlan! dreierlei ſchreib’ ich dir
auf: den Namen des letzten Regenten deines
Hauſes, die Jahrszahl, da er ſein Reich verlie⸗4355
ren
, und den Namen deſſen, der es, durch die
Gewalt der Waffen, an ſich reißen wird.“
Dieß,
vor den Augen allen Volks abgemacht, erhebt
ſie ſich, verklebt den Zettel mit Lack, den ſie in
ihrem welken Munde befeuchtet, und druͤckt 4360
einen bleiernen, an ihrem Mittelfinger befind⸗
lichen
Siegelring darauf.
Und da ich den Zettel,
191Faksimile neugierig, wie du leicht begreifſt, mehr als
Worte ſagen koͤnnen, erfaſſen will, ſpricht ſie:
„mit nichten, Hoheit!“ und wendet ſich und 4365
hebt ihrer Kruͤcken Eine empor: „von jenem
Mann dort, der, mit dem Federhuth, auf der
Bank ſteht, hinter allem Volk, am Kirchenein⸗
gang
, loͤſeſt du, wenn es dir beliebt, den Zettel
ein!“
Und damit, ehe ich noch recht begriffen, 4370
was ſie ſagt, auf dem Platz, vor Erſtaunen
ſprachlos, laͤßt ſie mich ſtehen; und waͤhrend ſie
den Kaſten, der hinter ihr ſtand, zuſammenſchlug,
und uͤber den Ruͤcken warf, miſcht ſie ſich, ohne
daß ich weiter bemerken konnte, was ſie thut, 4375
unter den Haufen des uns umringenden Volks.

Nun trat, zu meinem in der That herzlichen
Troſt, in eben dieſem Augenblick der Ritter auf,
den der Kurfuͤrſt ins Schloß geſchickt hatte, und
meldete ihm, mit lachendem Munde, daß der 4380
Rehbock getoͤdtet, und durch zwei Jaͤger, vor
ſeinen Augen, in die Kuͤche geſchleppt worden
ſey.
Der Kurfuͤrſt, indem er ſeinen Arm mun⸗
ter
in den meinigen legte, in der Abſicht, mich
von dem Platz hinwegzufuͤhren, ſagte: nun, 4385
192Faksimilewohlan! ſo war die Prophezeihung eine alltaͤg⸗
liche
Gaunerei, und Zeit und Gold, die ſie uns
gekoſtet nicht werth!
Aber wie groß war unſer
Erſtaunen, da ſich, noch waͤhrend dieſer Worte,
ein Geſchrei rings auf dem Platze erhob, und 4390
aller Augen ſich einem großen, vom Schloßhof
herantrabenden Schlaͤchterhund zuwandten, der
in der Kuͤche den Rehbock als gute Beute beim
Nacken erfaßt, und das Thier drei Schritte von
uns, verfolgt von Knechten und Maͤgden, auf 4395
den Boden fallen ließ: dergeſtalt, daß in der
That die Prophezeihung des Weibes, zum Un⸗
terpfand
alles deſſen, was ſie vorgebracht, er⸗
fuͤllt
, und der Rehbock uns bis auf den Markt,
obſchon allerdings todt, entgegen gekommen 4400
war.
Der Blitz, der an einem Wintertag vom
Himmel faͤllt, kann nicht vernichtender treffen,
als mich dieſer Anblick, und meine erſte Bemuͤ⸗
hung
, ſobald ich der Geſellſchaft in der ich mich
befand, uͤberhoben, war gleich, den Mann 4405
mit dem Federhuth, den mir das Weib bezeich⸗
net
hatte, auszumitteln; doch keiner meiner
Leute, unausgeſetzt waͤhrend drei Tage auf
Kund⸗193FaksimileKundſchaft geſchickt, war im Stande mir auch
nur auf die entfernteſte Weiſe Nachricht davon 4410
zu geben: und jetzt, Freund Kunz, vor wenig
Wochen, in der Meierei zu Dahme, habe ich
den Mann mit meinen eigenen Augen geſehn. gesehn.“ [emendiert] —

Und damit ließ er die Hand des Kaͤmmerers
fahren; und waͤhrend er ſich den Schweiß ab⸗4415
trocknete
, ſank er wieder auf das Lager zuruͤck.

Der Kaͤmmerer, der es fuͤr vergebliche Muͤhe
hielt, mit ſeiner Anſicht von dieſem Vorfall die
Anſicht, die der Kurfuͤrſt davon hatte, zu durch⸗
kreuzen
und zu berichtigen, bat ihn, doch irgend 4420
ein Mittel zu verſuchen, des Zettels habhaft zu
werden, und den Kerl nachher ſeinem Schickſal
zu uͤberlaſſen; doch der Kurfuͤrſt antwortete,
daß er platterdings kein Mittel dazu ſaͤhe, ob⸗
ſchon
der Gedanke, ihn entbehren zu muͤſſen, 4425
oder wohl gar die Wiſſenſchaft davon mit die⸗
ſen
die⸗
ſem
diesen [nicht emendiert] Die Aussage bezieht sich eindeutig auf Kohlhaas, deshalb ist der Singular angebracht.
Menſchen untergehen zu ſehen, ihn dem
Jammer und der Verzweiflung nahe braͤchte.

Auf die Frage des Freundes: ob er denn Ver⸗
ſuche
gemacht, die Perſon der Zigeunerin ſelbſt 4430
auszuforſchen? erwiederte der Kurfuͤrſt, daß das
Kleiſts Erzaͤhl. N194FaksimileGubernium, auf einen Befehl, den er unter
einem falſchen Vorwand an dasſelbe erlaſſen,
dieſem Weibe vergebens, bis auf den heutigen
Tag, in allen Plaͤtzen des Kurfuͤrſtenthums 4435
nachſpuͤre: wobei er, aus Gruͤnden, die er je⸗
doch
naͤher zu entwickeln ſich weigerte, uͤber⸗
haupt
zweifelte, daß ſie in Sachſen auszumit⸗
teln
ſey.
Nun traf es ſich, daß der Kaͤmmerer,
mehrerer betraͤchtlichen Guͤter wegen, die ſeiner 4440
Frau aus der Hinterlaſſenſchaft des abgeſetz⸗
ten
und bald darauf verſtorbenen Erzkanzlers,
Grafen Kallheim, in der Neumark zugefallen
waren, nach Berlin reiſen wollte; dergeſtalt,
daß, da er den Kurfuͤrſten in der That liebte, er 4445
ihn nach einer kurzen Ueberlegung fragte: ob er
ihm in dieſer Sache freie Hand laſſen wolle?
und da dieſer, indem er ſeine Hand herzlich an
ſeine Bruſt druͤckte, antwortete: „denke, du
ſeyſt ich, und ſchaff mir den Zettel!“ ſo beſchleu⸗4450
nigte
der Kaͤmmerer, nachdem er ſeine Geſchaͤfte
abgegeben, um einige Tage ſeine Abreiſe, und
fuhr, mit Zuruͤcklaſſung ſeiner Frau, bloß von
einigen Bedienten begleitet, nach Berlin ab.

195Faksimile

Kohlhaas, der inzwiſchen, wie ſchon geſagt, 4455
in Berlin angekommen, und, auf einen Spe⸗
cialbefehl
des Kurfuͤrſten, in ein ritterliches Ge⸗
faͤngniß
gebracht worden war, das ihn mit ſei⸗
nen
fuͤnf Kindern, ſo bequem als es ſich thun
ließ, empfing, war gleich nach Erſcheinung 4460
des kaiſerlichen Anwalds aus Wien, auf den
Grund wegen Verletzung des oͤffentlichen, kaiſer⸗
lichen
Landfriedens, vor den Schranken des
Kammergerichts zur Rechenſchaft gezogen wor⸗
den
; und ob er ſchon in ſeiner Verantwortung 4465
einwandte, daß er wegen ſeines bewaffneten
Einfalls in Sachſen, und der dabei veruͤbten
Gewaltthaͤtigkeiten, kraft des mit dem Kurfuͤr⸗
ſten
von Sachſen zu Luͤtzen abgeſchloſſenen
Vergleichs, nicht belangt werden koͤnne: ſo er⸗4470
fuhr
er doch, zu ſeiner Belehrung, daß des
Kaiſers Majeſtaͤt, deren Anwald hier die Be⸗
ſchwerde
fuͤhre, darauf keine Ruͤckſicht nehmen
koͤnne: ließ ſich auch ſehr bald, da man ihm die
Sache auseinander ſetzte und erklaͤrte, wie ihm 4475
dagegen von Dresden her, in ſeiner Sache ge⸗
gen
den Junker Wenzel von Tronka, voͤllige
N 2196FaksimileGenugthuung widerfahren werde, die Sache
gefallen.
Demnach traf es ſich, daß grade am
Tage der Ankunft des Kaͤmmerers, das Geſetz 4480
uͤber ihn ſprach, und er verurtheilt ward mit dem
Schwerdte vom Leben zum Tode gebracht zu wer⸗
den
; ein Urtheil, an deſſen Vollſtreckung gleich⸗
wohl
, bei der verwickelten Lage der Dinge, ſeiner
Milde ungeachtet, niemand glaubte, ja, das die 4485
ganze Stadt, bei dem Wohlwollen das der Kur⸗
fuͤrſt
fuͤr den Kohlhaas trug, unfehlbar durch ein
Machtwort desſelben, in eine bloße, vielleicht
beſchwerliche und langwierige Gefaͤngnißſtrafe
verwandelt zu ſehen hoffte.
Der Kaͤmmerer, 4490
der gleichwohl einſah, daß keine Zeit zu verlieren
ſeyn moͤgte, falls der Auftrag, den ihm ſein
Herr gegeben, in Erfuͤllung gehen ſollte, fing
ſein Geſchaͤft damit an, ſich dem Kohlhaas,
am Morgen eines Tages, da derſelbe in harm⸗4495
loſer
Betrachtung der Voruͤbergehenden, am
Fenſter ſeines Gefaͤngniſſes ſtand, in ſeiner ge⸗
woͤhnlichen
Hoftracht, genau und umſtaͤndlich zu
zeigen; und da er, aus einer ploͤtzlichen Bewe⸗
gung
ſeines Kopfes, ſchloß, daß der Roßhaͤndler 4500
197Faksimileihn bemerkt hatte, und beſonders, mit großem
Vergnuͤgen, einen unwillkuͤrlichen Griff desſel⸗
ben
mit der Hand auf die Gegend der Bruſt,
wo die Kapſel lag, wahrnahm: ſo hielt er das,
was in der Seele desſelben in dieſem Augenblick 4505
vorgegangen war, fuͤr eine hinlaͤngliche Vorbe⸗
reitung
, um in dem Verſuch, des Zettels habhaft
zu werden, einen Schritt weiter vorzuruͤcken.

Er beſtellte ein altes, auf Kruͤcken herumwan⸗
delndes
Troͤdelweib zu ſich, das er in den Stra⸗4510
ßen
von Berlin, unter einem Troß andern,
mit Lumpen handelnden Geſindels bemerkt hatte,
und das ihm, dem Alter und der Tracht nach,
ziemlich mit dem, das ihm der Kurfuͤrſt beſchrie⸗
ben
hatte, uͤbereinzuſtimmen ſchien; und in der 4515
Vorausſetzung, der Kohlhaas werde ſich die
Zuͤge derjenigen, die ihm in einer fluͤchtigen Er⸗
ſcheinung
den Zettel uͤberreicht hatte, nicht eben
tief eingepraͤgt haben, beſchloß er, das gedachte
Weib ſtatt ihrer unterzuſchieben, und bei Kohl⸗4520
haas
, wenn es ſich thun ließe, die Rolle, als
ob ſie die Zigeunerinn waͤre, ſpielen zu laſſen.
Dem gemaͤß, um ſie dazu in Stand zu ſetzen,
198Faksimileunterrichtete er ſie umſtaͤndlich von Allem, was
zwiſchen dem Kurfuͤrſten und der gedachten Zi⸗4525
geunerinn
in Juͤterbock vorgefallen war, wobei
er, weil er nicht wußte, wie weit das Weib in
ihren Eroͤffnungen gegen den Kohlhaas gegan⸗
gen
war, nicht vergaß, ihr beſonders die drei
geheimnißvollen, in dem Zettel enthaltenen Ar⸗4530
tikel
einzuſchaͤrfen; und nachdem er ihr ausein⸗
andergeſetzt
hatte, was ſie, auf abgeriſſene und
unverſtaͤndliche Weiſe, fallen laſſen muͤſſe, ge⸗
wiſſer
Anſtalten wegen, die man getroffen, ſey
es durch Liſt oder durch Gewalt, des Zettels, 4535
der dem ſaͤchſiſchen Hofe von der aͤußerſten Wich⸗
tigkeit
ſey, habhaft zu werden, trug er ihr auf,
dem Kohlhaas den Zettel, unter dem Vorwand,
daß derſelbe bei ihm nicht mehr ſicher ſey, zur
Aufbewahrung waͤhrend einiger verhaͤngnißvol⸗4540
len
Tage, abzufordern.
Das Troͤdelweib uͤber⸗
nahm
auch ſogleich gegen die Verheißung einer
betraͤchtlichen Belohnung, wovon der Kaͤmme⸗
rer
ihr auf ihre Forderung einen Theil im Vor⸗
aus
bezahlen mußte, die Ausfuͤhrung des beſag⸗4545
ten
Geſchaͤfts; und da die Mutter des bei
199FaksimileMuͤhlberg gefallenen Knechts Herſe, den Kohl⸗
haas
, mit Erlaubniß der Regierung, zuweilen
beſuchte, dieſe Frau ihr aber ſeit einigen Mon⸗
den
her, bekannt war: ſo gelang es ihr, an 4550
einem der naͤchſten Tage, vermittelſt einer kleinen
Gabe an den Kerkermeiſter, ſich bei dem Roß⸗
kamm
Eingang zu verſchaffen. —
Kohlhaas
aber, als dieſe Frau zu ihm eintrat, meinte, an
einem Siegelring, den ſie an der Hand trug, 4555
und einer ihr vom Hals herabhangenden Coral⸗
lenkette
, die bekannte alte Zigeunerinn ſelbſt
wieder zu erkennen, die ihm in Juͤterbock den
Zettel uͤberreicht hatte; und wie denn die Wahr⸗
ſcheinlichkeit
nicht immer auf Seiten der Wahr⸗4560
heit
iſt, ſo traf es ſich, daß hier etwas geſchehen
war, das wir zwar berichten: die Freiheit aber,
daran zu zweifeln, demjenigen, dem es wohlge⸗
faͤllt
, zugeſtehen muͤſſen: der Kaͤmmerer hatte
den ungeheuerſten Mißgriff begangen, und in 4565
dem alten Troͤdelweib, das er in den Straßen
von Berlin aufgriff, um die Zigeunerinn nach⸗
zuahmen
, die geheimnißreiche Zigeunerinn ſelbſt
getroffen, die er nachgeahmt wiſſen wollte.
We⸗
200Faksimilenigſtens
berichtete das Weib, indem sie, auf 4570
ihre Kruͤcken gestuͤtzt, die Wangen der Kinder
ſtreichelte, die ſich, betroffen von ihrem wunder⸗
lichen
Anblick, an den Vater lehnten: daß ſie
ſchon ſeit geraumer Zeit aus dem Saͤchſiſchen ins
Brandenburgiſche zuruͤckgekehrt ſey, und ſich, 4575
auf eine, in den Straßen von Berlin unvor⸗
ſichtig
gewagte Frage des Kaͤmmerers, nach
der Zigeunerinn, die im Fruͤhjahr des verfloſ⸗
ſenen
Jahres, in Juͤterbock geweſen, ſogleich
an ihn gedraͤngt, und, unter einem falſchen 4580
Namen, zu dem Geſchaͤfte, das er beſorgt
wiſſen wollte, angetragen habe.
Der Roß⸗
haͤndler
, der eine ſonderbare Aehnlichkeit zwi⸗
ſchen
ihr und ſeinem verſtorbenen Weibe Lis⸗
beth
bemerkte, dergeſtalt, daß er ſie haͤtte fragen 4585
koͤnnen, ob ſie ihre Großmutter ſey: denn nicht
nur, daß die Zuͤge ihres Geſichts, ihre Haͤnde,
auch in ihrem knoͤchernen Bau noch ſchoͤn, und
beſonders der Gebrauch, den ſie davon im Re⸗
den
machte, ihn aufs Lebhafteſte an ſie erinner⸗4590
ten
: auch ein Mahl, womit ſeiner Frauen Hals
bezeichnet war, bemerkte er an dem ihrigen.
Der
201FaksimileRoßhaͤndler noͤthigte ſie, unter Gedanken, die
ſich ſeltſam in ihm kreuzten, auf einen Stuhl
nieder, und fragte, was ſie in aller Welt in Ge⸗4595
ſchaͤften
des Kaͤmmerers zu ihm fuͤhre?
Die
Frau, waͤhrend der alte Hund des Kohlhaas ihre
Kniee umſchnuͤffelte, und von ihrer Hand ge⸗
kraut
, mit dem Schwanz wedelte, antwortete:
„der Auftrag, den ihr der Kaͤmmerer gegeben, 4600
waͤre, ihm zu eroͤffnen, auf welche drei dem ſaͤch⸗
ſiſchen
Hofe wichtigen Fragen der Zettel geheim⸗
nißvolle
Antwort enthalte; ihn vor einem Ab⸗
geſandten
, der ſich in Berlin befinde, um ſeiner
habhaft zu werden, zu warnen: und ihm den 4605
Zettel, unter dem Vorwande, daß er an ſeiner
Bruſt, wo er ihn trage, nicht mehr ſicher ſey,
abzufordern.
Die Abſicht aber, in der ſie kom⸗
me
, ſei, ihm zu ſagen, daß die Drohung ihn
durch Argliſt oder Gewaltthaͤtigkeit um den Zet⸗4610
tel
zu bringen, abgeſchmackt, und ein leeres Trug⸗
bild
ſey; daß er unter dem Schutz des Kurfuͤr⸗
ſten
von Brandenburg, in deſſen Verwahrſam er
ſich befinde, nicht das Mindeſte fuͤr denſelben
zu befuͤrchten habe; ja, daß das Blatt bei ihm 4615
202Faksimileweit ſicherer ſey, als bei ihr, und daß er ſich
wohl huͤten moͤgte, ſich durch Ablieferung desſel⸗
ben
, an wen und unter welchem Vorwand es
auch ſey, darum bringen zu laſſen. —
Gleich⸗
wohl
ſchloß ſie, daß ſie es fuͤr klug hielte, von 4620
dem Zettel den Gebrauch zu machen, zu welchem
ſie ihm denſelben auf dem Jahrmarkt zu Juͤter⸗
bock
eingehaͤndigt, dem Antrag, den man ihm
auf der Graͤnze durch den Junker von Stein ge⸗
macht
, Gehoͤr zu geben, und den Zettel, der 4625
ihm ſelbſt weiter nichts nutzen koͤnne, fuͤr Freiheit
und Leben an den Kurfuͤrſten von Sachſen aus⸗
zuliefern
.“
Kohlhaas, der uͤber die Macht
jauchzte, die ihm gegeben war, ſeines Feindes
Ferſe, in dem Augenblick, da ſie ihn in den 4630
Staub trat, toͤdtlich zu verwunden, antwortete:
nicht um die Welt, Muͤtterchen, nicht um die
Welt! und druͤckte der Alten Hand, und wollte
nur wiſſen, was fuͤr Antworten auf die unge⸗
heuren
Fragen im Zettel enthalten waͤren?
Die 4635
Frau, inzwiſchen ſie das Juͤngſte, das ſich zu
ihren Fuͤßen niedergekauert hatte, auf den Schooß
nahm, ſprach: „nicht um die Welt, Kohlhaas,
203Faksimileder Roßhaͤndler; aber um dieſen huͤbſchen, kleinen,
blonden Jungen!“ und damit lachte ſie ihn an, 4640
herzte und kuͤßte ihn, der ſie mit großen Augen
anſah, und reichte ihm, mit ihren duͤrren Haͤn⸗
den
, einen Apfel, den ſie in ihrer Taſche trug,
dar.
Kohlhaas ſagte verwirrt: daß die Kinder
ſelbſt, wenn ſie groß waͤren, ihn, um ſeines 4645
Verfahrens loben wuͤrden, und daß er, fuͤr ſie
und ihre Enkel nichts Heilſameres thun koͤnne,
als den Zettel behalten.
Zudem fragte er, wer
ihn, nach der Erfahrung, die er gemacht, vor
einem neuen Betrug ſicher ſtelle, und ob er nicht 4650
zuletzt, unnuͤtzer Weiſe, den Zettel, wie juͤngſt
den Kriegshaufen, den er in Luͤtzen zuſammenge⸗
bracht
, an den Kurfuͤrſten aufopfern wuͤrde?

„Wer mir ſein Wort einmal gebrochen,“ ſprach
er, „mit dem wechſle ich keins mehr; und nur 4655
deine Forderung, beſtimmt und unzweideutig,
trennt mich, gutes Muͤtterchen, von dem Blatt,
durch welches mir fuͤr Alles, was ich erlitten,
auf ſo wunderbare Weiſe Genugthuung gewor⸗
den
iſt.“
Die Frau, indem ſie das Kind auf den Bo⸗4660
den
ſetzte, ſagte: daß er in mancherlei Hinſicht
204FaksimileRecht haͤtte, und daß er thun und laſſen koͤnnte,
was er wollte!
Und damit nahm ſie ihre Kruͤcken
wieder zur Hand, und wollte gehn.
Kohlhaas
wiederholte ſeine Frage, den Inhalt des wunder⸗4665
baren
Zettels betreffend; er wuͤnſchte, da ſie fluͤch⸗
tig
antwortete: „daß er ihn ja eroͤffnen koͤnne,
obſchon es eine bloße Neugierde waͤre,“ noch uͤber
tauſend andere Dinge, bevor ſie ihn verließe, Auf⸗
ſchluß
zu erhalten; wer ſie eigentlich ſey, woher 4670
ſie zu der Wiſſenſchaft, die ihr inwohne, komme,
warum ſie dem Kurfuͤrſten, fuͤr den er doch ge⸗
ſchrieben
, den Zettel verweigert, und grade ihm,
unter ſo vielen tauſend Menſchen, der ihrer Wiſ⸗
ſenſchaft
nie begehrt, das Wunderblatt uͤberreicht 4675
habe? — —
Nun traf es ſich, daß in eben dieſem
Augenblick ein Geraͤuſch hoͤrbar ward, das ei⸗
nige
Polizei-Officianten, die die Treppe her⸗
aufſtiegen
, verurſachten; dergeſtalt, daß das
Weib, von ploͤtzlicher Beſorgniß, in dieſen Ge⸗4680
maͤchern
von ihnen betroffen zu werden, ergriffen,
antwortete: „auf Wiederſehen Kohlhaas, auf
Wiederſehn! Es ſoll dir, wenn wir uns wieder⸗
treffen
, an Kenntniß uͤber dies Alles nicht feh⸗
205Faksimilelen!“
Und damit, indem ſie ſich gegen die Thuͤr 4685
wandte, rief ſie: „lebt wohl, Kinderchen, lebt
wohl!“ kuͤßte das kleine Geſchlecht nach der
Reihe, und ging ab.

Inzwiſchen hatte der Kurfuͤrſt von Sachſen,
ſeinen jammervollen Gedanken preisgegeben, zwei 4690
Aſtrologen, Namens Oldenholm und Olearius,
welche damals in Sachſen in großem Anſehen
ſtanden, herbeigerufen, und wegen des Inhalts
des geheimnißvollen, ihm und dem ganzen Ge⸗
ſchlecht
ſeiner Nachkommen ſo wichtigen Zet⸗4695
tels
zu Rathe gezogen; und da die Maͤnner,
nach einer, mehrere Tage lang im Schloßthurm
zu Dresden fortgeſetzten, tiefſinnigen Unterſu⸗
chung
, nicht einig werden konnten, ob die Pro⸗
phezeihung
ſich auf ſpaͤte Jahrhunderte oder aber 4700
auf die jetzige Zeit beziehe, und vielleicht die Krone
Pohlen, mit welcher die Verhaͤltniſſe immer noch
ſehr kriegeriſch waren, damit gemeint ſey: ſo
wurde durch ſolchen gelehrten Streit, ſtatt ſie
zu zerſtreuen, die Unruhe, um nicht zu ſagen, 4705
Verzweiflung, in welcher ſich dieſer ungluͤckliche
Herr befand, nur geſchaͤrft, und zuletzt bis auf
206Faksimileeinen Grad, der ſeiner Seele ganz unertraͤglich
war, vermehrt.
Dazu kam, daß der Kaͤmme⸗
rer
um dieſe Zeit ſeiner Frau, die im Begriff 4710
ſtand, ihm nach Berlin zu folgen, auftrug, dem
Kurfuͤrſten, bevor ſie abreiſte, auf eine geſchickte
Art beizubringen, wie mißlich es nach einem ver⸗
ungluͤckten
Verſuch, den er mit einem Weibe ge⸗
macht
, das ſich ſeitdem nicht wieder habe blicken 4715
laſſen, mit der Hoffnung ausſehe, des Zettels
in deſſen Beſitz der Kohlhaas ſey, habhaft zu
werden, indem das uͤber ihn gefaͤllte Todesur⸗
theil
, nunmehr, nach einer umſtaͤndlichen Pruͤ⸗
fung
der Acten, von dem Kurfuͤrſten von Bran⸗4720
denburg
unterzeichnet, und der Hinrichtungstag
bereits auf den Montag nach Palmarum feſtge⸗
ſetzt
ſey; auf welche Nachricht der Kurfuͤrſt ſich,
das Herz von Kummer und Reue zerriſſen, gleich
einem ganz Verlorenen, in ſeinem Zimmer ver⸗4725
ſchloß,
waͤhrend zwei Tage, des Lebens ſatt,
keine Speiſe zu ſich nahm, und am dritten ploͤtz⸗
lich
, unter der kurzen Anzeige an das Guber⸗
nium
, daß er zu dem Fuͤrſten von Deſſau auf
die Jagd reiſe, aus Dresden verſchwand.
Wo⸗4730
207Faksimilehin
er eigentlich ging, und ob er ſich nach Deſ⸗
ſau
wandte, laſſen wir dahin geſtellt ſeyn, indem
die Chroniken, aus deren Vergleichung wir Be⸗
richt
erſtatten, an dieſer Stelle, auf befremdende
Weiſe, einander widerſprechen und aufheben.
4735
Gewiß iſt, daß der Fuͤrſt von Deſſau, unfaͤhig zu
jagen, um dieſe Zeit krank in Braunſchweig, bei
ſeinem Oheim, dem Herzog Heinrich, lag, und
daß die Dame Heloiſe, am Abend des folgenden
Tages, in Geſellſchaft eines Grafen von Koͤnig⸗4740
ſtein
, den ſie fuͤr ihren Vetter ausgab, bei dem
Kaͤmmerer Herrn Kunz, ihrem Gemahl, in Ber⸗
lin
eintraf. —
Inzwiſchen war dem Kohlhaas,
auf Befehl des Kurfuͤrſten, das Todesurtheil
vorgeleſen, die Ketten abgenommen, und die 4745
uͤber ſein Vermoͤgen lautenden Papiere, die ihm
in Dresden abgeſprochen worden waren, wieder
zugeſtellt worden; und da die Raͤthe, die das
Gericht an ihn abgeordnet hatte, ihn fragten,
wie er es mit dem, was er beſitze, nach ſeinem 4750
Tode gehalten wiſſen wolle: ſo verfertigte er,
mit Huͤlfe eines Notars, zu ſeiner Kinder Gun⸗
ſten
ein Teſtament, und ſetzte den Amtmann zu
208FaksimileKohlhaaſenbruͤck, ſeinen wackern Freund, zum
Vormund derſelben ein.
Demnach glich nichts 4755
der Ruhe und Zufriedenheit ſeiner letzten Tage;
denn auf eine ſonderbare Special-Verordnung des
Kurfuͤrſten war bald darauf auch noch der Zwin⸗
ger
, in welchem er ſich befand, eroͤffnet, und allen
ſeinen Freunden, deren er ſehr viele in der Stadt 4760
beſaß, bei Tag und Nacht freier Zutritt zu ihm
verſtattet worden.
Ja, er hatte noch die Ge⸗
nugthuung
, den Theologen Jacob Freiſing, als
einen Abgeſandten Doctor Luthers, mit einem
eigenhaͤndigen, ohne Zweifel ſehr merkwuͤrdigen 4765
Brief, der aber verloren gegangen iſt, in ſein
Gefaͤngniß treten zu ſehen, und von dieſem geiſt⸗
lichen
Herrn in Gegenwart zweier brandenbur⸗
giſchen
Dechanten, die ihm an die Hand gingen,
die Wohlthat der heiligen Kommunion zu em⸗4770
pfangen
.
Hierauf erſchien nun, unter einer all⸗
gemeinen
Bewegung der Stadt, die ſich immer
noch nicht entwoͤhnen konnte, auf ein Macht⸗
wort
, das ihn rettete, zu hoffen, der verhaͤng⸗
nißvolle
Montag nach Palmarum, an welchem 4775
er die Welt, wegen des allzuraſchen Verſuchs,
ſich209Faksimileſich ſelbſt in ihr Recht verſchaffen zu wollen, ver⸗
ſoͤhnen
ſollte.
Eben trat er, in Begleitung einer
ſtarken Wache, ſeine beiden Knaben auf dem
Arm (denn dieſe Verguͤnſtigung hatte er ſich 4780
ausdruͤcklich vor den Schranken des Gerichts
ausgebeten), von dem Theologen Jakob Jacob [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] Jacob [emendiert ohne Hinweis im Kommentar] Frei⸗
ſing
gefuͤhrt, aus dem Thor ſeines Gefaͤngniſſes,
als unter einem wehmuͤthigen Gewimmel von
Bekannten, die ihm die Haͤnde druͤckten, und 4785
von ihm Abſchied nahmen, der Kaſtellan des
kurfuͤrſtlichen Schloſſes, verſtoͤrt im Geſicht, zu
ihm herantrat, und ihm ein Blatt gab, das
ihm, wie er ſagte, ein altes Weib fuͤr ihn einge⸗
haͤndigt
.
Kohlhaas, waͤhrend er den Mann 4790
der ihm nur wenig bekannt war, befremdet an⸗
ſah
, eroͤffnete das Blatt, deſſen Siegelring ihn,
im Mundlack ausgedruͤckt, ſogleich an die be⸗
kannte
Zigeunerin erinnerte.
Aber wer beſchreibt
das Erſtaunen, das ihn ergriff, als er folgende 4795
Nachricht darin fand: „Kohlhaas, der Kurfuͤrſt
von Sachſen iſt in Berlin; auf den Richtplatz
ſchon iſt er vorangegangen, und wird, wenn dir
daran liegt, an einem Huth, mit blauen und
Kleiſts Erzaͤhl. O210Faksimile weißen Federbuͤſchen kenntlich ſeyn.
Die Ab⸗4800
ſicht
, in der er koͤmmt, brauche ich dir nicht zu
ſagen; er will die Kapſel, ſobald du verſcharrt
biſt, ausgraben, und den Zettel, der darin be⸗
findlich
iſt, eroͤffnen laſſen. —
Deine Eliſabeth.“
— Kohlhaas, indem er ſich auf das Aeußerſte 4805
beſtuͤrzt zu dem Kaſtellan umwandte, fragte ihn:
ob er das wunderbare Weib, das ihm den Zettel
uͤbergeben, kenne?
Doch da der Kaſtellan ant⸗
wortete
: „Kohlhaas, das Weib“ — — und
in Mitten der Rede auf ſonderbare Weiſe ſtockte, 4810
ſo konnte er, von dem Zuge, der in dieſem Au⸗
genblick
wieder antrat, fortgeriſſen, nicht ver⸗
nehmen
, was der Mann, der an allen Gliedern
zu zittern ſchien, vorbrachte. —
Als er auf dem
Richtplatz ankam, fand er den Kurfuͤrſten von 4815
Brandenburg mit ſeinem Gefolge, worunter ſich
auch der Erzkanzler, Herr Heinrich von Geuſau
befand, unter einer unermeßlichen Menſchenmen⸗
ge
, daſelbſt zu Pferde halten: ihm zur Rechten der
kaiſerliche Anwald Franz Muͤller, eine Abſchrift 4820
des Todesurtheils in der Hand; ihm zur Linken,
mit dem Concluſum des Dresdner Hofgerichts,
211Faksimilesein eigener Anwald, der Rechtſgelehrte Anton
Zaͤuner; ein Herold in der Mitte des halboffe⸗
nen
Kreiſes, den das Volk ſchloß, mit einem 4825
Buͤndel Sachen, und den beiden, von Wohl⸗
ſein
glaͤnzenden, die Erde mit ihren Hufen ſtam⸗
pfenden
Rappen.
Denn der Erzkanzler, Herr
Heinrich, hatte die Klage, die er, im Namen
ſeines Herrn, in Dresden anhaͤngig gemacht, 4830
Punkt fuͤr Punkt, und ohne die mindeſte Ein⸗
ſchraͤnkung
gegen den Junker Wenzel von Tron⸗
ka
, durchgeſetzt; dergeſtalt, daß die Pferde, nach⸗
dem
man ſie durch Schwingung einer Fahne
uͤber ihre Haͤupter, ehrlich gemacht, und aus den 4835
Haͤnden des Abdeckers, der ſie ernaͤhrte, zuruͤck⸗
gezogen
hatte, von den Leuten des Junkers dick⸗
gefuͤttert
, und in Gegenwart einer eigens dazu
niedergeſetzten Kommiſſion, dem Anwald, auf
dem Markt zu Dresden, uͤbergeben worden wa⸗4840
ren
.
Demnach ſprach der Kurfuͤrſt, als Kohl⸗
haas
von der Wache begleitet, auf den Huͤgel zu
ihm heranſchritt: Nun, Kohlhaas, heut iſt der
Tag, an dem dir dein Recht geſchieht!
Schau
her, hier liefere ich dir Alles, was du auf der 4845
O 2212FaksimileTronkenburg gewaltſamer Weiſe eingebuͤßt, und
was ich, als dein Landesherr, dir wieder zu ver⸗
ſchaffen
, ſchuldig war, zuruͤck: Rappen, Hals⸗
tuch
, Reichsgulden, Waͤſche, bis auf die Kur⸗
koſten
ſogar fuͤr deinen bei Muͤhlberg gefallenen 4850
Knecht Herſe. Biſt du mit mir zufrieden? —

Kohlhaas, waͤhrend er das, ihm auf den Wink
des Erzkanzlers eingehaͤndigte Concluſum, mit
großen, funkelnden Augen uͤberlas, ſetzte die bei⸗
den
Kinder, die er auf dem Arm trug, neben 4855
ſich auf den Boden nieder; und da er auch einen
Artikel darin fand, in welchem der Junker Wen⸗
zel
zu zweijaͤhriger Gefaͤngnißſtrafe verurtheilt
ward: ſo ließ er ſich, aus der Ferne, ganz uͤber⸗
waͤltigt
von Gefuͤhlen, mit kreuzweis auf die 4860
Bruſt gelegten Haͤnden, vor dem Kurfuͤrſten
nieder.
Er verſicherte freudig dem Erzkanzler,
indem er aufſtand, und die Hand auf ſeinen
Schooß legte, daß ſein hoͤchſter Wunſch auf Er⸗
den
erfuͤllt ſey; trat an die Pferde heran, mu⸗4865
ſterte
ſie, und klopfte ihren feiſten Hals; und er⸗
klaͤrte
dem Kanzler, indem er wieder zu ihm zu⸗
ruͤckkam
, heiter: „daß er ſie ſeinen beiden Soͤh⸗
213Faksimilenen
Heinrich und Leopold ſchenke!“
Der Kanz⸗
ler
, Herr Heinrich von Geuſau, vom Pferde 4870
herab mild zu ihm gewandt, verſprach ihm, in
des Kurfuͤrſten Namen, daß ſein letzter Wille
heilig gehalten werden ſolle: und forderte ihn
auf, auch uͤber die uͤbrigen im Buͤndel befindli⸗
chen
Sachen, nach ſeinem Gutduͤnken zu ſchal⸗4875
ten
.
Hierauf rief Kohlhaas die alte Mutter
Herſens, die er auf dem Platz wahrgenommen
hatte, aus dem Haufen des Volks hervor, und
indem er ihr die Sachen uͤbergab, ſprach er:
„da, Muͤtterchen; das gehoͤrt dir!“ — die 4880
Summe, die, als Schadenerſatz fuͤr ihn, bei den dem den [nicht emendiert]
im Buͤndel liegenden Gelde befindlich war, als
ein Geſchenk noch, zur Pflege und Erquickung ih⸗
rer
alten Tage, hinzufuͤgend. — —
Der Kur⸗
fuͤrſt
rief: „nun, Kohlhaas, der Roßhaͤndler, 4885
du, dem ſolchergeſtalt Genugthuung geworden,
mache dich bereit, kaiſerlicher Majeſtaͤt, deren
Anwald hier ſteht, wegen des Bruchs ihres
Landfriedens, deinerseits Genugthuung zu ge⸗
ben
!“
Kohlhaas, indem er ſeinen Huth abnahm, 4890
und auf die Erde warf, ſagte: daß er bereit dazu
214Faksimilewaͤre! uͤbergab die Kinder, nachdem er ſie noch
einmal vom Boden erhoben, und an ſeine Bruſt
gedruͤckt hatte, dem Amtmann von Kohlhaaſen⸗
bruͤck
, und trat, waͤhrend dieſer ſie unter ſtillen 4895
Thraͤnen, vom Platz hinwegfuͤhrte, an den
Block.
Eben knuͤpfte er ſich das Tuch vom
Hals ab und oͤffnete ſeinen Bruſtlatz: als er,
mit einem fluͤchtigen Blick auf den Kreis, den
das Volk bildete, in geringer Entfernung von 4900
ſich, zwiſchen zwei Rittern, die ihn mit ihren
Leibern halb deckten, den wohlbekannten Mann
mit blauen und weißen Federbuͤſchen wahrnahm.

Kohlhaas loͤſte ſich, indem er mit einem ploͤtzli⸗
chen
, die Wache, die ihn umringte, befremden⸗4905
den
Schritt, dicht vor ihn trat, die Kapſel von
der Bruſt; er nahm den Zettel heraus, entſie⸗
gelte
ihn, und uͤberlas ihn: und das Auge un⸗
verwandt
auf den Mann mit blauen und weißen
Federbuͤſchen gerichtet, der bereits ſuͤßen Hoff⸗4910
nungen
Raum zu geben anfing, ſteckte er
ihn in den Mund und verſchlang ihn.
Der
Mann mit blauen und weißen Federbuͤſchen ſank,
bei dieſem Anblick, ohnmaͤchtig, in Kraͤmpfen
215Faksimilenieder.
Kohlhaas aber, waͤhrend die beſtuͤrzten 4915
Begleiter desſelben ſich herabbeugten, und ihn
vom Boden aufhoben, wandte ſich zu dem
Schaffot, wo ſein Haupt unter dem Beil des
Scharfrichters fiel. Hier endigt die Geſchichte
vom Kohlhaas.
Man legte die Leiche unter 4920
einer allgemeinen Klage des Volks in einen
Sarg; und waͤhrend die Traͤger ſie aufhoben,
um ſie anſtaͤndig auf den Kirchhof der Vorſtadt
zu begraben, rief der Kurfuͤrſt die Soͤhne des
Abgeſchiedenen herbei und ſchlug ſie, mit der 4925
Erklaͤrung an den Erzkanzler, daß ſie in ſeiner
Pagenſchule erzogen werden ſollten, zu Rittern.

Der Kurfuͤrſt von Sachſen kam bald darauf,
zerriſſen an Leib und Seele, nach Dresden zu⸗
ruͤck
, wo man das Weitere in der Geſchichte 4930
nachleſen muß.
Vom Kohlhaas aber haben noch
im vergangenen Jahrhundert, im Mecklenbur⸗
giſchen
, einige frohe und ruͤſtige Nachkommen
gelebt.

https://daten.digitale-sammlungen.de/0001/bsb00013537/images/index.html?id=00013537&fip=193.174.98.30&seite=8

Michael Kohlhaas.

Quellenangaben für Zitation
https://kleist-digital.de/erzaehlungen/kohlhaas, [ggf. Angabe von Zeile/Vers oder Seite], 18.05.2025

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  • Editorische Anmerkungen
  • Emendationen
  • Kollation Editionen
  • Stellenkommentar

Apparat

Erstdruck: [D1] : Michael Kohlhaas. In: Heinrich von Kleist: Erzählungen. Erster Theil. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1810.  S. 1–215

Textwiedergabe nach: [D1] Kleist, Heinrich von: Michael Kohlhaas. In: Kleist, Heinrich von: Erzählungen. Erster Theil, Berlin, Realschulbuchhandlung, 1810, S. 1–215.

Zugrunde gelegte Exemplare: BSB. Bayerische StaatsBibliothek. Sigle: Rar. 4347-1.
Exemplar aus Privatbesitz.

Editorische Anmerkungen

  • 799die PferdeDurch Seitenumbruch entſtandene Dopplung von ›die‹.
  • 2852zugegefuͤgt,Durch Zeilentrennung bedingter Fehler.
  • 3172eroͤfneteBeide Formen ſind zeitgenoͤſſiſch belegt. Das DWB nennt nur die Form ›eroͤfnen‹.
  • 3768derZwar fuͤhrt auch das DWB ›Rudel‹ nur als ›Neutrum‹, es gibt aber viele zeitgenoͤſſiſche Belege fuͤr die hier benutzte maskuline Form: der Rudel.
  • 4156der Gegenpart›die Gegenpart‹ findet sich in der weiblichen Form haͤufig bis ins 19. Jahrhundert, z. B. ›in Abwesenheit der Gegenpart‹. Hinweis auch in [DWB: Gegenpart, 5].
  • 4426dieſenDie Aussage bezieht sich eindeutig auf Kohlhaas, deshalb ist der Singular angebracht.
 Emendationen (insges. 24)
  • 603FlacheFlaſche
  • 667eingeeingekommeneingekommen
  • 724abſcheullcheabſcheuliche
  • 799die PferdePferdeDurch Seitenumbruch entſtandene Dopplung von ›die‹.
  • 1248deder
  • 1599kurfuͤtſtlichenkurfuͤrſtlichen
  • 1643FrieddrichFriedrich
  • 1759ihmim
  • 1795dendenn
  • 2293Großkanzier,Großkanzler,
  • 2562abzuliefen. abzuliefern.
  • 2852zugegefuͤgt,zugefuͤgt,Durch Zeilentrennung bedingter Fehler.
  • 2894dendas
  • 3057EezgebirgesErzgebirges
  • 3461vorangegangene,vorangegangen,
  • 3642HauptſttadtHauptſtadt
  • 3714dendem
  • 3774dendem
  • 3798laͤcheludlaͤchelnd
  • 3958ihnihm
  • 4088MajeſtatMajeſtaͤt
  • 4273eter
  • 4426dieſendieſemDie Aussage bezieht sich eindeutig auf Kohlhaas, deshalb ist der Singular angebracht.
  • 4881dendem
Pagina Kleist-Ausgaben
  • [BKA] II/1 63–291
  • [MA] III 12–142"
  • [DKV] III 9–103
  • [SE:1993] II 9–106
  • [Bartl:2013 (Reclam)] 7–121
 Vergleich Editionen

Die durchgeführte Kollation mit unterschiedlichen historischen und aktuellen Kleist-Editionen zeigt bestimmte Lesarten und Emendationen, die von der vorliegenden emendierten Fassung abweichen. In den Anmerkungen finden sich hierzu häufig nähere Erläuterungen. (Gelegentlich ist die Ursache für Abweichungen ein Transkriptionsfehler in der jeweiligen Edition.)

Disclaimer: Abweichungen, die ihren Grund in typographisch bedingten Normalisierungen und Standardisierungen haben, werden nicht angezeigt. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden. Mitgeteilte Abweichungen müssen am Original überprüft werden.

In die Kollation einbezogene Kleist-Ausgaben

[BKA][MA][Bartl:2013 (Reclam)]

[DKV:1990] [2 Abw.]
  • 2310⁊c. ⁊c. ] etc. etc.
  • 3655dieſen ] diesem [emendiert]
[BKA:1989] [7 Abw.]
  • 2293Großkanzier, ] Großkanzler, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 2310⁊c. ⁊c. ] etc. etc.
  • 2852zuge/gefuͤgt, ] zugefuͤgt, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 3655dieſen ] diesem [emendiert]
  • 4073zugleicher ] zu gleicher [emendiert]
  • 4352antworte: ] antwortete: [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 4782Jakob ] Jacob [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
[Recl;Bartl:2013] [22 Abw.]
  • 1117empfindlich-feierlicher ] empfindlich feierlicher
  • 1599kurfuͤtſtlichen ] kurfuͤrſtlichen [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 2044Unternehmung ] Unternehmungen
  • 2293Großkanzier, ] Großkanzler, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 2310⁊c. ⁊c. ] etc. etc.
  • 2852zuge/gefuͤgt, ] zugefuͤgt, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 2976ſeine ] ſeinen [emendiert]
  • 3172eroͤf/nete ] eroͤffnete [emendiert] Beide Formen ſind zeitgenoͤſſiſch belegt. Das DWB nennt nur die Form ›eroͤfnen‹.
  • 3205ſein ] „sein [emendiert]
  • 3461vor/angegangene, ] vorangegangene, [nicht emendiert]
  • 3643verlaͤugne. ] verlaͤugne.“ [emendiert]
  • 3714den ] den [nicht emendiert]
  • 3768der ] das [emendiert] Zwar fuͤhrt auch das DWB ›Rudel‹ nur als ›Neutrum‹, es gibt aber viele zeitgenoͤſſiſche Belege fuͤr die hier benutzte maskuline Form: der Rudel.
  • 3774den ] den [nicht emendiert]
  • 3798laͤchelud ] laͤchelnd [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 3958ihn ] ihn [nicht emendiert]
  • 4073zugleicher ] zu gleicher [emendiert]
  • 4156der Gegenpart ] des Gegenparts [emendiert] ›die Gegenpart‹ findet sich in der weiblichen Form haͤufig bis ins 19. Jahrhundert, z. B. ›in Abwesenheit der Gegenpart‹. Hinweis auch in [DWB: Gegenpart, 5].
  • 4159wie ] „wie [emendiert]
  • 4413geſehn. ] gesehn.“ [emendiert]
  • 4426die/ſen ] diesen [nicht emendiert]
  • 4881den ] den [nicht emendiert]
[MA:2010] [9 Abw.]
  • 216Raͤthen, ] Rathen
  • 2293Großkanzier, ] Großkanzler, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 2310⁊c. ⁊c. ] etc. etc.
  • 2852zuge/gefuͤgt, ] zugefuͤgt, [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 3224Weitlaͤuftig/keit ] Weitlaͤufigkeit
  • 3655dieſen ] diesem [emendiert]
  • 4073zugleicher ] zu gleicher [emendiert]
  • 4352antworte: ] antwortete: [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
  • 4782Jakob ] Jacob [emendiert ohne Hinweis im Kommentar]
[SE:1993] [2 Abw.]
  • 2310⁊c. ⁊c. ] etc. etc.
  • 3655dieſen ] diesem [emendiert]
Stellenkommentar

1282Als der Morgen anbrach,Im Erſtdruck iſt der Abſatz nicht durch Einzug markiert.

2894Gewicht, den Sembdner erwaͤhnt nur im Kommentar die fehlerhafte Form, emendiert aber nicht, darauf verweisend: ›vielleicht dachte Kleist an 'Rang', 'Einfluß' oder aͤhnliches‹ [SE, II, S. 898]. [DKV] schließt sich Sembdner an, [BKA], [MA] und [Recl:2013] emendieren. Sembdners Loͤsung ist aus zwei Gruͤnden nicht plausibel: zum einen ist unbekannt, ob der Fehler tatsaͤchlich auf Kleist oder den Setzer zuruͤckgeht, zum anderen ist die Form schlicht falsch.

2976Theilnahme an ſeine SpitzbuͤbereienBis ins 19. Jahrhundert hinein wurde an ›Theilnahme an‹ haͤufig der Akkusativ angeschlossen, z. B. ›Theilnahme an ſeine Belehrungen‹, ›Theilnahme an ſeine Heimat‹, ›Theilnahme an ſeine Leiden‹ etc. Deshalb wird hier nicht emendiert (anders Sembdner, DKV, Reclam:2013).

3656aus dieſen Handel zuruͤckzuziehen›aus dieſen Handel zuruͤckzuziehen‹: Die Akkusativform findet sich im 18. Jahrhundert haͤufiger in Wendungen wie ›wenn ich nur aus dieſen Handel waͤre‹ oder ›trachtet aus dieſen Handel zu kommen‹ oder ›wie komme ich aus dieſen Handel‹. Sembdner, DKV, BKA und MA emendieren in ›aus dieſem Handel‹.

4073 zugleicher Der Ausdruck ›zugleicher Zeit‹ iſt in Drucken um 1800 ſowohl in dieſer Form als auch in der Schreibung ›zu gleicher Zeit‹ zu finden. Deshalb wird hier nicht emendiert.

4157bei dem Im Erstdruck sind die Wortabstaͤnde in der Zeile sehr eng gesetzt, insbesondere zwischen ›bei‹ und ›dem‹, so dass auch ›beidem‹ gelesen werden koͤnnte. Tatsaͤchlich scheint ein minimaler Abstand vorhanden. [Recl:2013] liest ›beidem‹ und emendiert entsprechend.

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