Der Findling.
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Der Findling.
Antonio Piachi, ein wohlhabender Guͤterhaͤndler in Rom, war genoͤthigt, in ſeinen Handelsgeſchaͤften zuweilen große Reiſen zu machen. Er pflegte dann gewoͤhnlich Elvire, ſeine junge Frau, unter dem Schutz ihrer Verwandten, daſelbſt zuruͤckzulaſſen. Eine dieſer Reiſen fuͤhrte ihn ihn [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] mit ſeinem Sohn Paolo, einem eilfjaͤhrigen Knaben, den ihm ſeine erſte Frau gebohren hatte, nach Raguſa. Es traf ſich, daß hier eben eine peſtartige Krankheit ausgebrochen war, welche die Stadt und Gegend umher in großes Schrecken ſetzte. Piachi, dem die Nachricht davon erſt auf der Reiſe zu Ohren gekommen war, hielt in der 94Vorſtadt an, um ſich nach der Natur derſelben zu erkundigen. Doch da er hoͤrte, daß das Uebel von Tage zu Tage bedenklicher werde, und daß man damit umgehe, die Thore zu ſperren; ſo uͤberwand die Sorge fuͤr ſeinen Sohn alle kaufmaͤnniſchen Intereſſen: er nahm Pferde und reiſete wieder ab.
Er bemerkte, da er im Freien war, einen Knaben neben ſeinem Wagen, der, nach Art der Flehenden, die Haͤnde zu ihm ausſtreckte und in großer Gemuͤthsbewegung zu ſein ſchien. Piachi ließ halten; und auf die Frage: was er wolle? antwortete der Knabe in ſeiner Unſchuld: er ſei angeſteckt; die Haͤſcher verfolgten ihn, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, wo ſein Vater und ſeine Mutter ſchon geſtorben waͤren; er bitte um aller Heiligen willen, ihn mitzunehmen, und nicht in der Stadt umkommen zu laſſen. Dabei faßte er des Alten Hand, druͤckte und kuͤßte ſie und weinte darauf nieder. Piachi wollte in der erſten Regung des Entſetzens, den Jungen weit von ſich ſchleudern; doch da dieſer, 95in eben dieſem Augenblick, ſeine Farbe veraͤnderte und ohnmaͤchtig auf den Boden niederſank, ſo regte ſich des guten Alten Mitleid: er ſtieg mit ſeinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr mit ihm fort, obſchon er auf der Welt nicht wußte, was er mit demſelben anfangen ſollte.
Er unterhandelte noch, in der erſten Station, mit den Wirthsleuten, uͤber die Art und Weiſe, wie er ſeiner wieder los werden koͤnne: als er ſchon auf Befehl der Polizei, welche davon Wind bekommen hatte, arretirt und unter einer Bedeckung, er, ſein Sohn und Nicolo, ſo hieß der kranke Knabe, wieder nach Raguſa zuruͤck transportirt ward. Alle Vorſtellungen von Seiten Piachis, uͤber die Grauſamkeit dieſer Maaßregel, halfen zu nichts; in Raguſa angekommen, wurden nunmehr alle drei, unter Aufſicht eines Haͤſchers, nach dem Krankenhauſe abgefuͤhrt, wo er zwar, Piachi, geſund blieb, und Nicolo, der Knabe, ſich von dem Uebel wieder erholte: ſein Sohn aber, der eilfjaͤhrige Paolo, von 96demſelben angeſteckt ward, und in drei Tagen ſtarb.
Die Thore wurden nun wieder geoͤffnet und Piachi, nachdem er ſeinen Sohn begraben hatte, erhielt von der Polizei Erlaubniß, zu reiſen. Er beſtieg eben, ſehr von Schmerz bewegt, den Wagen und nahm, bei dem Anblick des Platzes, der neben ihm leer blieb, ſein Schnupftuch heraus, um ſeine Thraͤnen fließen zu laſſen: als Nicolo, mit der Muͤtze in der Hand, an ſeinen Wagen trat und ihm eine gluͤckliche Reiſe wuͤnſchte. Piachi beugte ſich aus dem Schlage heraus und fragte ihn, mit einer von heftigem Schluchzen unterbrochenen Stimme: ob er mit ihm reiſen wollte? Der Junge, ſobald er den Alten nur verſtanden hatte, nickte und ſprach: o ja! ſehr gern; und da die Vorſteher des Krankenhauſes, auf die Frage des Guͤterhaͤndlers: ob es dem Jungen wohl erlaubt waͤre, einzuſteigen? laͤchelten und verſicherten: daß er Gottes Sohn waͤre und niemand ihn vermiſſen wuͤrde; ſo hob ihn Piachi, in 97einer großen Bewegung, in den Wagen, und nahm ihn, an ſeines Sohnes ſtatt, mit ſich nach Rom.
Auf der Straße, vor den Thoren der Stadt, ſah ſich der Landmaͤkler den Jungen erſt recht an. Er war von einer beſondern, etwas ſtarren Schoͤnheit, ſeine ſchwarzen Haare hingen ihm, in ſchlichten Spitzen, von der Stirn herab, ein Geſicht beſchattend, das, ernſt und klug, ſeine Mienen niemals veraͤnderte. Der Alte that mehrere Fragen an ihn, worauf jener aber nur kurz antwortete: ungeſpraͤchig und in ſich gekehrt ſaß er, die Haͤnde in die Hoſen geſteckt, im Winkel da, und ſah ſich, mit gedankenvoll ſcheuen Blicken, die Gegenſtaͤnde an, die an dem Wagen voruͤberflogen. Von Zeit zu Zeit holte er ſich, mit ſtillen und geraͤuſchloſen Bewegungen, eine Handvoll Nuͤſſe aus der Taſche, die er bei ſich trug, und waͤhrend Piachi ſich die Thraͤnen vom Auge wiſchte, nahm er ſie zwiſchen die Zaͤhne und knackte ſie auf.
In Im [nicht emendiert] Im [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] Rom ſtellte ihn Piachi, unter einer 98kurzen Erzaͤhlung des Vorfalls, Elviren, ſeiner jungen trefflichen Gemahlinn vor, welche ſich zwar nicht enthalten konnte, bei dem Gedanken an Paolo, ihren kleinen Stiefſohn, den ſie ſehr geliebt hatte, herzlich zu weinen; gleichwohl aber den den [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] Nicolo, ſo fremd und ſteif er auch vor ihr ſtand, an ihre Bruſt druͤckte, ihm das Bette, worin jener geſchlafen hatte, zum Lager anwies, und ſaͤmmtliche Kleider desſelben zum Geſchenk machte. Piachi ſchickte ihn in die Schule, wo er Schreiben, Leſen und Rechnen lernte, und da er, auf eine leicht begreifliche Weiſe, den Jungen in dem Maaße lieb gewonnen, als er ihm theuer zu ſtehen gekommen war, ſo adoptirte er ihn, mit Einwilligung der guten Elvire, welche von dem Alten keine Kinder mehr zu erhalten hoffen konnte, ſchon nach wenigen Wochen, als ſeinen Sohn. Er dankte ſpaͤterhin einen Commis ab, mit dem er, aus mancherlei Gruͤnden, unzufrieden war, und hatte, da er den Nicolo, ſtatt ſeiner, in dem Comtoir anſtellte, die Freude 99zu ſehn, daß derſelbe die weitlaͤuftigen Geſchaͤfte, in welchen er verwickelt war, auf das Thaͤtigſte und Vortheilhafteſte verwaltete. Nichts hatte der Vater, der ein geſchworner Feind aller Bigotterie war, an ihm ihm [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] auszuſetzen, als den Umgang mit den Moͤnchen des Carmeliterkloſters, die dem jungen Mann, wegen des betraͤchtlichen Vermoͤgens das ihm einſt, aus der Hinterlaſſenſchaft des Alten, zufallen ſollte, mit großer Gunſt zugethan waren; und nichts ihrer Seits die Mutter, als einen fruͤh, wie es ihr ſchien, in der Bruſt desſelben ſich regenden Hang fuͤr das weibliche Geſchlecht. Denn ſchon in ſeinem funfzehnten fuͤnfzehnten Jahre, war er, bei Gelegenheit dieſer Moͤnchsbeſuche, die Beute der Verfuͤhrung einer gewiſſen Xaviera Tartini, Beiſchlaͤferinn ihres Biſchoffs, geworden, und ob er gleich, durch die ſtrenge Forderung des Alten genoͤthigt, dieſe Verbindung zerriß, ſo hatte Elvire doch mancherlei Gruͤnde zu glauben, daß ſeine Enthaltſamkeit auf dieſem gefaͤhrlichen Felde nicht 100eben groß war. Doch da Nicolo ſich, in ſeinem zwanzigſten Jahre, mit Conſtanza Parquet,einer jungen liebenswuͤrdigen Genueſerinn, Elvirens Nichte, die unter ihrer Aufſicht in Rom erzogen wurde, vermaͤhlte, ſo ſchien, ſchien wenigſtens das letzte Uebel damit an der Quelle verſtopft; beide Eltern vereinigten ſich in der Zufriedenheit mit ihm, und um ihm davon einen Beweis zu geben, ward ihm eine glaͤnzende Ausſtattung zu Theil, wobei ſie ihm einen betraͤchtlichen Theil ihres ſchoͤnen und weitlaͤuftigen Wohnhauſes einraͤumten. Kurz, als Piachi ſein ſechzigſtes Jahr erreicht hatte, that er das Letzte und Aeußerſte, was er fuͤr ihn thun konnte: er uͤberließ ihm, auf gerichtliche Weiſe, mit Ausnahme eines kleinen Capitals, das er ſich vorbehielt, das ganze Vermoͤgen, das ſeinem Guͤterhandel zum Grunde lag, und zog ſich, mit ſeiner treuen, trefflichen Elvire, die wenige Wuͤnſche in der Welt hatte, in den Ruheſtand zuruͤck.
Elvire hatte einen ſtillen Zug von Trau 101rigkeit im Gemuͤth, der ihr aus einem ruͤhrenden Vorfall, aus der Geſchichte ihrer Kindheit, zuruͤckgeblieben war. Philippo Parquet, ihr Vater, ein bemittelter Tuchfaͤrber in Genua, bewohnte ein Haus, das, wie es ſein Handwerk erforderte, mit der hinteren Seite hart an den, mit Quaderſteinen eingefaßten, Rand des Meeres ſtieß; große, am Giebel eingefugte Balken, an welchen die gefaͤrbten Tuͤcher aufgehaͤngt wurden, liefen, mehrere Ellen weit, uͤber die See hinaus. Einſt, in einer ungluͤcklichen Nacht, da Feuer das Haus ergriff, und gleich, als ob es von Pech und Schwefel erbaut waͤre, zu gleicher Zeit in allen Gemaͤchern, aus welchen es zuſammengeſetzt war, emporknitterte, fluͤchtete ſich, uͤberall von Flammen geſchreckt, die dreizehnjaͤhrige Elvire von Treppe zu Treppe, und befand ſich, ſie wußte ſelbſt nicht wie, auf einem dieſer Balken. Das arme Kind wußte, zwiſchen Himmel und Erde ſchwebend, gar nicht, wie es ſich retten ſollte; hinter ihr der brennende Giebel, deſſen Glut, vom 102Winde gepeitſcht, ſchon den Balken angefreſſen hatte, und unter ihr die weite, oͤde, entſetzliche See. Schon wollte ſie ſich allen Heiligen empfehlen und unter zwei Uebeln das Kleinere waͤhlend, in die Fluthen hinabſpringen; als ploͤtzlich ein junger Genueſer, vom Geſchlecht der Patrizier, am Eingang erſchien, ſeinen Mantel uͤber den Balken warf, ſie umfaßte, und ſich, mit eben ſo viel Muth als Gewandtheit, an einem der feuchten Tuͤcher, die von dem Balken niederhingen, in die See mit ihr herabließ. Hier griffen Gondeln, die auf dem Hafen ſchwammen, ſie auf, und brachten ſie, unter vielem Jauchzen des Volks, ans Ufer; doch es fand ſich, daß der junge Held, ſchon beim Durchgang durch das Haus, durch einen vom Geſims desſelben herabfallenden Stein, eine ſchwere Wunde am Kopf empfangen hatte, die ihn auch bald, ſeiner Sinne nicht maͤchtig, am Boden niederſtreckte. Der Marquis, ſein Vater, in deſſen Hotel er gebracht ward, rief, da ſeine Wiederherſtellung ſich 103in die Laͤnge zog, Aerzte aus allen Gegenden Italiens herbei, die ihn zu verſchiedenen Malen trepanirten und ihm mehrere Knochen aus dem Gehirn nahmen; doch alle Kunſt war, durch eine unbegreifliche Schickung des Himmels, vergeblich: er erſtand nur ſelten an der Hand Elvirens, die ſeine Mutter zu ſeiner Pflege herbeigerufen hatte, und nach einem dreijaͤhrigen hoͤchſt ſchmerzenvollen Krankenlager, waͤhrend deſſen das Maͤdchen nicht von ſeiner Seite wich, reichte er ihr noch einmal freundlich die Hand und verſchied.
Piachi, der mit dem Hauſe dieſes Herrn in Handelsverbindungen ſtand, und Elviren eben dort, da ſie ihn pflegte, kennen gelernt und zwei Jahre darauf geheirathet hatte, huͤtete ſich ſehr, ſeinen Namen vor ihr zu nennen, oder ſie ſonſt an ihn zu erinnern, weil er wußte, daß es ihr ſchoͤnes und empfindliches Gemuͤth auf das heftigſte bewegte. Die mindeſte Veranlaſſung, die ſie auch nur von fern an die Zeit erinnerte, da der Juͤng104ling fuͤr ſie litt und ſtarb, ruͤhrte ſie immer bis zu Thraͤnen, und alsdann gab es keinen Troſt und keine Beruhigung fuͤr ſie; ſie brach, wo ſie auch ſein mogte, auf, und keiner folgte ihr, weil man ſchon erprobt hatte, daß jedes andere Mittel vergeblich war, als ſie ſtill fuͤr ſich, in der Einſamkeit, ihren Schmerz ausweinen zu laſſen. Niemand, außer Piachi, kannte die Urſache dieſer ſonderbaren und haͤufigen Erſchuͤtterungen, denn niemals, ſo lange ſie lebte, war ein Wort, jene Begebenheit betreffend, uͤber ihre Lippen gekommen. Man war gewohnt, ſie auf Rechnung eines uͤberreizten Nervenſyſtems zu ſetzen, das ihr aus einem hitzigen Fieber, in welches ſie gleich nach ihrer Verheirathung verfiel, zuruͤckgeblieben war, und ſomit allen Nachforſchungen uͤber die Veranlaſſung derſelben ein Ende zu machen.
Einſtmals war Nicolo, mit jener Xaviera Tartini, mit welcher er, trotz des Verbots des Vaters, die Verbindung nie ganz aufgegeben hatte, heimlich, und ohne Vorwiſſen 105ſeiner Gemahlin, unter der Vorſpiegelung, daß er bei einem Freund eingeladen ſei, auf dem Carneval geweſen und kam, in der Maske eines genueſiſchen Ritters, die er zufaͤllig gewaͤhlt hatte, ſpaͤt in der Nacht, da ſchon alles ſchlief, in ſein Haus zuruͤck. Es traf ſich, daß dem Alten ploͤtzlich eine Unpaͤßlichkeit zugeſtoßen war, und Elvire, um ihm zu helfen, in Ermangelung der Maͤgde, aufgeſtanden, und in den Speiſeſaal gegangen war, um ihm eine Flaſche mit Eſſig zu holen. Eben hatte ſie einen Schrank, der in dem Winkel ſtand, geoͤffnet, und ſuchte, auf der Kante eines Stuhles ſtehend, unter den Glaͤſern und Caravinen umher: als Nicolo die Thuͤr ſacht oͤffnete, und mit einem Licht, das er ſich auf dem Flur angeſteckt hatte, mit Federhut, Mantel und Degen, durch den Saal ging. Harmlos, ohne Elviren zu ſehen, trat er an die Thuͤr, die in ſein Schlafgemach fuͤhrte, und bemerkte eben mit Beſtuͤrzung, daß ſie verſchloſſen war: als Elvire hinter ihm, mit Flaſchen und Glaͤſern, die ſie in 106der Hand hielt, wie durch einen unſichtbaren Blitz getroffen, bei ſeinem Anblick von dem Schemel, auf welchem ſie ſtand, auf das Getaͤfel des Bodens niederfiel. Nicolo, von Schrecken bleich, wandte ſich um und wollte der Ungluͤcklichen beiſpringen; doch da das Geraͤuſch, das ſie gemacht hatte, nothwendig nothwendig [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] den Alten herbeiziehen mußte, ſo unterdruͤckte die Beſorgniß, einen Verweis von ihm zu erhalten, alle andere Ruͤckſichten: er riß ihr, mit verſtoͤrter Beeiferung, ein Bund Schluͤſſel von der Huͤfte, das ſie bei ſich trug, und einen gefunden, der paſſte, warf er den Bund in den Saal zuruͤck und verſchwand. Bald darauf, da Piachi, krank wie er war, aus dem Bette geſprungen war, und ſie aufgehoben hatte, und auch Bediente und Maͤgde, von ihm zuſammengeklingelt, mit Licht erſchienen waren, kam auch Nicolo in ſeinem Schlafrock, und fragte, was vorgefallen ſei; doch da Elvire, ſtarr vor Entſetzen, wie ihre Zunge war, nicht ſprechen konnte, und außer ihr nur er ſelbſt noch Auskunft auf dieſe 107Frage geben konnte, ſo blieb der Zuſammenhang der Sache in ein ewiges Geheimniß gehuͤllt; man trug Elviren, die an allen Gliedern zitterte, zu Bett, wo ſie mehrere Tage lang an einem heftigen Fieber darniederlag, gleichwohl aber durch die natuͤrliche Kraft ihrer Geſundheit den Zufall uͤberwand, und bis auf eine ſonderbare Schwermuth, die ihr zuruͤckblieb, ſich ziemlich wieder erholte.
So verfloß ein Jahr, als Conſtanze, Nicolos Gemahlin, niederkam, und ſammt dem Kinde, das ſie gebohren hatte, in den Wochen ſtarb. Dieſer Vorfall, bedauernswuͤrdig an ſich, weil ein tugendhaftes und wohlerzogenes Weſen verloren ging, war es doppelt, weil er den beiden Leidenſchaften Nicolos, ſeiner Bigotterie und ſeinem Hange zu den Weibern, wieder Thor und Thuͤr oͤffnete. Ganze Tage lang trieb er ſich wieder, unter dem Vorwand, ſich zu troͤſten, in den Zellen der Carmelitermoͤnche umher, und gleichwohl wußte man, daß er waͤhrend der Lebzeiten ſeiner Frau, nur mit geringer Liebe und 108Treue an ihr gehangen hatte. hatte. [liest ›hatte,‹, emendiert in ›hatte.‹] Ja, Conſtanze war noch nicht unter der Erde, als Elvire ſchon zur Abendzeit, in Geſchaͤften des bevorſtehenden Begraͤbniſſes in ſein Zimmer tretend, ein Maͤdchen bei ihm fand, das, geſchuͤrzt und geſchminkt, ihr als die Zofe der Xaviera Tartini nur zu wohl bekannt war. Elvire ſchlug bei dieſem Anblick die Augen nieder, kehrte ſich, ohne ein Wort zu ſagen, um, und verließ das Zimmer; weder Piachi, noch ſonſt jemand, erfuhr ein Wort von dieſem Vorfall, ſie begnuͤgte ſich, mit betruͤbtem Herzen bei der Leiche Conſtanzens, die den Nicolo ſehr geliebt hatte, niederzuknieen und zu weinen. Zufaͤllig aber traf es ſich, daß Piachi, der in der Stadt geweſen war, beim Eintritt in ſein Haus dem Maͤdchen begegnete, und da er wohl merkte, was ſie hier zu ſchaffen gehabt hatte, ſie heftig anging und ihr halb mit Liſt, halb mit Gewalt, den Brief, den ſie bei ſich trug, abgewann. Er ging auf ſein Zimmer, um ihn zu leſen, und fand, was er vorausgeſehen hatte, eine 109dringende Bitte Nicolos an Xaviera, ihm, Behufs einer Zuſammenkunft, nach der er ſich ſehne, gefaͤlligſt Ort und Stunde zu beſtimmen. Piachi ſetzte ſich nieder und antwortete, mit verſtellter Schrift, im Namen Xavieras: „gleich, noch vor Nacht, in der Magdalenen-Kirche.“ — ſiegelte dieſen Zettel mit einem fremden Wappen zu, und ließ ihn, gleich als ob er von der Dame kaͤme, in Nicolo’s Zimmer abgeben. Die Liſt gluͤckte vollkommen; Nicolo nahm augenblicklich ſeinen Mantel, und begab ſich in Vergeſſenheit Conſtanzens, die im Sarg ausgeſtellt war, aus dem Hauſe. Hierauf beſtellte Piachi, tief entwuͤrdigt, das feierliche, fuͤr den kommenden Tag feſtgeſetzte Leichenbegaͤngniß ab, ließ die Leiche, ſo wie ſie ausgeſetzt war, von einigen Traͤgern aufheben, und bloß von Elviren, ihm und einigen Verwandten begleitet, ganz in der Stille in dem Gewoͤlbe der Magdalenen-Kirche, das fuͤr ſie bereitet war, beiſetzen. Nicolo, der in dem Mantel gehuͤllt, unter den Hallen der Kirche ſtand, und zu 110ſeinem Erſtaunen einen ihm wohlbekannten Leichenzug herannahen ſah, fragte den Alten, der dem Sarge folgte: was dies bedeute? und wen man herantruͤge? Doch dieſer, das Gebetbuch in der Hand, ohne das Haupt zu erheben, antwortete bloß: Xaviera Tartini: — worauf die Leiche, als ob Nicolo gar nicht gegenwaͤrtig waͤre, noch einmal entdeckelt, durch die Anweſenden geſegnet, und alsdann verſenkt und in dem Gewoͤlbe verſchloſſen ward.
Dieſer Vorfall, der ihn tief beſchaͤmte, erweckte in der Bruſt des Ungluͤcklichen einen brennenden Haß gegen Elviren; denn ihr glaubte er den Schimpf, den ihm der Alte vor allem Volk angethan hatte, zu verdanken zu haben. Mehrere Tage lang ſprach Piachi kein Wort mit ihm; und da er gleichwohl, wegen der Hinterlaſſenſchaft Conſtanzens, ſeiner Geneigtheit und Gefaͤlligkeit bedurfte: ſo ſah er ſich genoͤthigt, an einem Abend des Alten Hand zu ergreifen und ihm mit der Miene der Reue, unverzuͤglich und auf im111merdar, die Verabſchiedung der Xaviera anzugeloben. Aber dies Verſprechen war er wenig geſonnen zu halten; vielmehr ſchaͤrfte der Widerſtand, den man ihm entgegen ſetzte, nur ſeinen Trotz, und uͤbte ihn in der Kunſt, die Aufmerkſamkeit des redlichen Alten zu umgehen. Zugleich war ihm Elvire niemals ſchoͤner vorgekommen, als in dem Augenblick, da ſie, zu ſeiner Vernichtung, das Zimmer, in welchem ſich das Maͤdchen befand, oͤffnete und wieder ſchloß. Der Unwille, der ſich mit ſanfter Glut auf ihren Wangen entzuͤndete, goß einen unendlichen Reiz uͤber ihr mildes, von Affecten nur ſelten bewegtes Antlitz; es ſchien ihm unglaublich, daß ſie, bei ſoviel Lockungen dazu, nicht ſelbſt zuweilen auf dem Wege wandeln ſollte, deſſen Blumen zu brechen er eben ſo ſchmaͤhlich von ihr geſtraft worden worden [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] war. Er gluͤhte vor Begierde, ihr, falls dies der Fall ſein ſollte, bei dem Alten denſelben Dienſt zu erweiſen, als ſie ihm, und bedurfte und ſuchte nichts, als die Gelegenheit, dieſen Vorſatz ins Werk zu richten.
112Einſt ging er, zu einer Zeit, da gerade Piachi außer dem Hauſe war, an Elvirens Zimmer vorbei, und hoͤrte, zu ſeinem Befremden, daß man darin ſprach. Von raſchen, heimtuͤckiſchen Hoffnungen durchzuckt, beugte er ſich mit Augen und Ohren gegen das Schloß nieder, und — Himmel! was erblickte er? Da lag ſie, in der Stellung der Verzuͤckung, Verzuͤkkung, zu Jemandes Fuͤßen, und ob er gleich die Perſon nicht erkennen konnte, ſo vernahm er doch ganz deutlich, recht mit dem Accent der Liebe ausgeſprochen, das gefluͤſterte Wort: Colino. Er legte ſich mit klopfendem Herzen in das Fenſter des Corridors, von wo aus er, ohne ſeine Abſicht zu verrathen, den Eingang des Zimmers beobachten konnte; und ſchon glaubte er, bei einem Geraͤuſch, das ſich ganz leiſe am Riegel erhob, den unſchaͤtzbaren Augenblick, da er die Scheinheilige entlarven koͤnne gekommen: als, ſtatt des Unbekannten den er erwartete, Elvire ſelbſt, ohne irgend eine Begleitung, mit einem ganz gleichguͤltigen und ruhigen Blick, den ſie aus 113der Ferne auf ihn warf, aus dem Zimmer hervortrat. Sie hatte ein Stuͤck ſelbſtgewebter Leinwand unter dem Arm; und nachdem ſie das Gemach, mit einem Schluͤſſel, den ſie ſich von der Huͤfte nahm, verſchloſſen hatte, ſtieg ſie ganz ruhig, die Hand ans Gelaͤnder gelehnt, die Treppe hinab. Dieſe Verſtellung, dieſe ſcheinbare Gleichguͤltigkeit, ſchien ihm der Gipfel der Frechheit und Argliſt, und kaum war ſie ihm aus dem Geſicht, als er ſchon lief, einen Hauptſchluͤſſel herbeizuholen, und nachdem er die Umringung, mit ſcheuen Blicken, ein wenig gepruͤft hatte, heimlich die Thuͤr des Gemachs oͤffnete. Aber wie erſtaunte er, als er Alles leer fand, und in allen vier Winkeln, die er durchſpaͤhte, nichts, das einem Menſchen auch nur aͤhnlich war, entdeckte: außer dem Bild eines jungen Ritters in Lebensgroͤße, das in einer Niſche der Wand, hinter einem rothſeidenen Vorhang, von einem beſondern Lichte beſtrahlt, aufgeſtellt war. war. [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] war. [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] Nicolo erſchrack, er wußte ſelbſt nicht warum: und eine Menge von Gedan 114ken fuhren ihm, den großen Augen des Bildes, das ihn ſtarr anſah, gegenuͤber, durch die Bruſt: doch ehe er ſie noch geſammelt und geordnet hatte, ergriff ihn ſchon Furcht, von Elviren entdeckt und geſtraft zu werden; er ſchloß, in nicht geringer Verwirrung, die Thuͤr wieder zu, und entfernte ſich.
Je mehr er uͤber dieſen ſonderbaren Vorfall nachdachte, je wichtiger ward ihm das Bild, das er entdeckt hatte, und je peinlicher und brennender ward die Neugierde in ihm, zu wiſſen, wer damit gemeint ſei. Denn er hatte ſie, im ganzen Umriß ihrer Stellung auf Knieen liegen geſehen, und es war nur zu gewiß, daß derjenige, vor dem dies geſchehen war, die Geſtalt des jungen Ritters auf der Leinwand war. In der Unruhe des Gemuͤths, die ſich ſeiner bemeiſterte, ging er zu Xaviera Tartini, und erzaͤhlte ihr die wunderbare Begebenheit, die er erlebt hatte. Dieſe, die in dem Intereſſe, Elviren zu ſtuͤrzen, mit ihm zuſammentraf, indem alle Schwierigkeiten, die ſie in ihrem Umgang fan115den, von ihr herruͤhrten, aͤußerte den Wunſch, das Bild, das in dem Zimmer derſelben aufgeſtellt war, einmal zu ſehen. Denn einer ausgebreiteten Bekanntſchaft unter den Edelleuten Italiens konnte ſie ſich ruͤhmen, und falls derjenige, der hier in Rede ſtand, nur irgend einmal in Rom geweſen und von einiger Bedeutung war, ſo durfte ſie hoffen, ihn zu kennen. Es fuͤgte ſich auch bald, daß die beiden Eheleute Piachi, da ſie einen Verwandten beſuchen wollten, an einem Sonntag auf das Land reiſeten, und kaum wußte Nicolo auf dieſe Weiſe das Feld rein, als er ſchon zu Xavieren eilte, und dieſe mit einer kleinen Tochter, die ſie von dem Cardinal hatte, unter dem Vorwande, Gemaͤhlde und Stickereien zu beſehen, als eine fremde Dame in Elvirens Zimmer fuͤhrte. Doch wie betroffen war Nicolo, als die kleine Klara, (ſo hieß die Tochter) ſobald er nur den Vorhang erhoben hatte, ausrief: „Gott, mein Vater! Signor Nicolo, wer iſt das anders, als Sie? — Xaviera verſtummte. 116 Das Bild, in der That, je laͤnger ſie es anſah, hatte haͤtte eine auffallende Aehnlichkeit mit ihm: beſonders wenn ſie ſich ihn, wie ihrem Gedaͤchtniß gar wohl moͤglich war, in dem ritterlichen Aufzug dachte, in in [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] welchem er, vor wenigen Monaten, heimlich mit ihr auf dem Carneval geweſen war. Nicolo verſuchte ein ploͤtzliches Erroͤthen, das ſich uͤber ſeine Wangen ergoß, wegzuſpotten; er ſagte, indem er die Kleine kuͤßte: wahrhaftig, liebſte Klara, das Bild gleicht mir, wie du demjenigen, der ſich deinen Vater glaubt! — Doch Xaviera, in deren Bruſt das bittere Gefuͤhl der Eiferſucht rege geworden war, warf einen Blick auf ihn; ſie ſagte, indem ſie vor den Spiegel trat, zuletzt ſei es gleichguͤltig, wer die Perſon ſei; empfahl ſich ihm ziemlich kalt und verließ das Zimmer.
Nicolo verfiel, ſobald Xaviera ſich entfernt hatte, in die lebhafteſte Bewegung uͤber dieſen Auftritt. Er erinnerte ſich, mit vieler Freude, der ſonderbaren und lebhaften Erſchuͤtterung, in welche er, durch die phan 117taſtiſche Erſcheinung jener Nacht, Elviren verſetzt hatte. Der Gedanke, die Leidenſchaft dieſer, als ein Muſter der Tugend umwandelnden Frau erweckt zu haben, ſchmeichelte ihn faſt eben ſo ſehr, als die Begierde, ſich an ihr zu raͤchen; und da ſich ihm die Ausſicht eroͤffnete, mit einem und demſelben Schlage beide, das eine Geluͤſt, wie das andere, zu befriedigen, ſo erwartete er mit vieler Ungeduld Elvirens Wiederkunft, und die Stunde, da ein Blick in ihr Auge ſeine ſchwankende Ueberzeugung kroͤnen wuͤrde. Nichts ſtoͤrte ihn in dem Taumel, der ihn ergriffen hatte, als die beſtimmte Erinnerung, daß Elvire das Bild, vor dem ſie auf Knieen lag, damals, als er ſie durch das Schluͤſſelloch belauſchte: Colino, genannt hatte; doch auch in dem Klang dieſes, im Lande nicht eben gebraͤuchlichen Namens, lag mancherlei, das das [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] ſein Herz, er wußte nicht warum, in ſuͤße Traͤume wiegte, und in der Alternative, einem von beiden Sinnen, ſeinem Auge oder ſeinem Ohr zu mißtrauen, neigte er ſich, wie 118natuͤrlich, zu demjenigen hinuͤber, der ſeiner Begierde am lebhafteſten ſchmeichelte.
Inzwiſchen kam Elvire erſt nach Verlauf mehrerer Tage von dem Lande zuruͤck, und da ſie aus dem Hauſe des Vetters, den ſie beſucht hatte, eine junge Verwandte mitbrachte, die ſich in Rom umzuſehen wuͤnſchte, ſo warf ſie, mit Artigkeiten gegen dieſe beſchaͤftigt, auf Nicolo, der ſie ſehr freundlich aus dem Wagen hob, nur einen fluͤchtigen nichtsbedeutenden Blick. Mehrere Wochen, der Gaſtfreundinn, die man bewirthete, aufgeopfert, vergingen in einer dem Hauſe ungewoͤhnlichen Unruhe; man beſuchte, in- und außerhalb der Stadt, was einem Maͤdchen, jung und lebensfroh, wie ſie war, merkwuͤrdig ſein mogte; und Nicolo, ſeiner Geſchaͤfte im Comtoir halber, zu allen dieſen kleinen Fahrten nicht eingeladen, fiel wieder, in Bezug auf Elviren, in die uͤbelſte Laune zuruͤck. Er begann wieder, mit den bitterſten und quaͤlendſten Gefuͤhlen, an den Unbekannten zuruͤck zu denken, den ſie in heimlicher Erge 119bung vergoͤtterte; und dies Gefuͤhl zerriß beſonders am Abend der laͤngſt mit Sehnſucht erharrten Abreiſe jener jungen Verwandten ſein verwildertes Herz, da Elvire, ſtatt nun mit ihm zu ſprechen, ſchweigend, waͤhrend einer ganzen Stunde, mit einer kleinen, weiblichen Arbeit beſchaͤftigt, am Speiſetiſch ſaß. Es traf ſich, daß Piachi, wenige Tage zuvor, nach einer Schachtel mit kleinen, elfenbeinernen Buchſtaben gefragt hatte, vermittelſt welcher Nicolo in ſeiner Kindheit unterrichtet worden, und die dem Alten nun, weil ſie niemand mehr brauchte, in den Sinn gekommen war, an ein kleines Kind in der Nachbarſchaft zu verſchenken. Die Magd, der man aufgegeben hatte, ſie, unter vielen anderen, alten Sachen, aufzuſuchen, hatte inzwiſchen nicht mehr gefunden, als die ſechs, die den Namen: Nicolo ausmachen; wahrſcheinlich weil die andern, ihrer geringeren Beziehung auf den Knaben wegen, minder in Acht genommen und, bei welcher Gelegenheit es ſei, verſchleudert worden waren. Da 120nun Nicolo die Lettern, welche ſeit mehreren Tagen auf dem Tiſch lagen, in die Hand nahm, und waͤhrend er, mit dem Arm auf auf [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] die Platte geſtuͤtzt, in truͤben Gedanken bruͤtete, damit ſpielte, fand er — zufaͤllig, in der That, ſelbſt, denn er erſtaunte daruͤber, wie er noch in ſeinem Leben nicht gethan — die Verbindung heraus, welche den Namen: Colino bildet. Nicolo, dem dieſe logogriphiſche Eigenſchaft ſeines Namens fremd war, warf, von raſenden Hoffnungen von neuem getroffen, einen ungewiſſen und ſcheuen Blick auf die ihm zur Seite ſitzende Elvire. Die Uebereinſtimmung, die ſich zwiſchen beiden Woͤrtern angeordnet fand, ſchien ihm mehr als ein bloßer Zufall, er erwog, in unterdruͤckter Freude, den Umfang dieſer ſonderbaren Entdeckung, und harrte, die Haͤnde vom Tiſch genommen, mit klopfendem Herzen des Augenblicks, da Elvire aufſehen und den Namen, der offen da lag, erblicken wuͤrde. Die Erwartung, in der er ſtand, taͤuſchte ihn auch keineswegs; denn kaum hatte Elvire,121 in einem muͤßigen Moment, die Aufſtellung der Buchſtaben bemerkt, und harmlos und gedankenlos, weil ſie ein wenig kurzſichtig war, ſich naͤher daruͤber hingebeugt, um ſie zu leſen: als ſie ſchon Nicolos Antlitz, der in ſcheinbarer Gleichguͤltigkeit darauf niederſah, mit einem ſonderbar beklommenen Blick uͤberflog, ihre Arbeit, mit einer Wehmuth, die man nicht beſchreiben kann, wieder aufnahm, und, unbemerkt wie ſie ſich glaubte, eine Thraͤne nach der anderen, unter ſanftem Erroͤthen, auf ihren Schooß fallen ließ. Nicolo, der alle dieſe innerlichen Bewegungen, ohne ſie anzuſehen, beobachtete, zweifelte gar nicht mehr, daß ſie unter dieſer Verſetzung der Buchſtaben nur ſeinen eignen Namen verberge. Er ſah ſie die Buchſtaben mit einem mal ſanft uͤbereinander ſchieben, und ſeine wilden Hoffnungen erreichten den Gipfel der Zuverſicht, als ſie aufſtand, ihre Handarbeit weglegte und in ihr Schlafzimmer verſchwand. Schon wollte er aufſtehen und ihr dahin folgen: folgen; als Piachi eintrat, und von einer Haus122magd, auf die Frage, wo Elvire ſei? zur Antwort erhielt: „daß ſie ſich nicht wohl befinde und ſich auf das Bett gelegt habe.“ Piachi, ohne eben große Beſtuͤrzung zu zeigen, wandte ſich um, und ging, um zu ſehen, was ſie mache; und da er nach einer Viertelſtunde, mit der Nachricht, daß ſie nicht zu Tiſche kommen wuͤrde, wiederkehrte und weiter kein Wort daruͤber verlor: ſo glaubte Nicolo den Schluͤſſel zu allen raͤthſelhaften Auftritten dieſer Art, die er erlebt hatte, gefunden zu haben.
Am andern Morgen, da er, in ſeiner ſchaͤndlichen Freude, beſchaͤftigt war, den Nutzen, den er aus dieſer Entdeckung zu ziehen hoffte, zu uͤberlegen, erhielt er ein Billet von Xavieren, worin ſie ihn bat, zu ihr zu kommen, indem ſie ihm, Elviren betreffend, etwas, das ihm intereſſant ſein wuͤrde, zu eroͤffnen haͤtte. Xaviera ſtand, durch den Biſchof, der ſie unterhielt, in der engſten Verbindung mit den Moͤnchen des Carmeliterkloſters; und da ſeine Mutter in dieſem Kloſter zur Beichte ging, 123ſo zweifelte er nicht, daß es jener moͤglich geweſen waͤre, uͤber die geheime geheime [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] Geſchichte ihrer Empfindungen Nachrichten, die ſeine unnatuͤrlichen Hoffnungen beſtaͤtigen konnten, einzuziehen. Aber wie unangenehm, nach einer ſonderbaren ſchalkhaften Begruͤßung Xavierens, ward er aus der Wiege genommen, als ſie ihn laͤchelnd auf den Divan, auf welchem ſie ſaß, niederzog, und ihm ſagte: ſie muͤſſe ihm nur eroͤffnen, daß der Gegenſtand von Elvirens Liebe ein, ſchon ſeit zwoͤlf Jahren, im Grabe ſchlummernder Todter ſei. — Aloyſius, Marquis von Montferrat, dem ein Oheim zu Paris, bei dem er erzogen worden war, den Zunamen Collin, ſpaͤterhin in Italien ſcherzhafter Weiſe in Colino umgewandelt, gegeben hatte, war das Original des Bildes, das er in der Niſche, hinter dem rothſeidenen Vorhang, in Elvirens Zimmer entdeckt hatte; der junge, genueſiſche Ritter, der ſie, in ihrer Kindheit, auf ſo edelmuͤthige Weiſe aus dem Feuer gerettet und an den Wunden, die er dabei empfan 124gen hatte, geſtorben war. — Sie ſetzte hinzu, daß ſie ihn nur bitte, von dieſem Geheimniß weiter keinen Gebrauch zu machen, indem es ihr, unter dem Siegel der aͤußerſten Verſchwiegenheit, von einer Perſon, die ſelbſt kein eigentliches Recht daruͤber habe, im Carmeliterkloſter anvertraut worden ſei. Nicolo verſicherte, indem Blaͤſſe und Roͤthe auf ſeinem Geſicht wechſelten, daß ſie nichts zu befuͤrchten habe; und gaͤnzlich außer Stand, wie er war, Xavierens ſchelmiſchen Blicken gegenuͤber, die Verlegenheit, in welche ihn dieſe Eroͤffnung geſtuͤrzt hatte, zu verbergen, ſchuͤtzte er ein Geſchaͤfft vor, das ihn abrufe, nahm, unter einem haͤßlichen Zucken ſeiner Oberlippe, ſeinen Huth, empfahl ſich und ging ab.
Beſchaͤmung, Wolluſt und Rache vereinigten ſich jetzt, um die abſcheulichſte That, die je veruͤbt worden iſt, auszubruͤten. Er fuͤhlte wohl, daß Elvirens reiner Seele nur durch einen Betrug beizukommen ſei; und kaum hatte ihm Piachi, der auf einige Tage 125aufs Land ging, das Feld geraͤumt, als er auch ſchon Anſtalten traf, den ſataniſchen Plan, den er ſich ausgedacht hatte, ins Werk zu richten. Er beſorgte ſich genau denſelben Anzug wieder, in welchem er, vor wenig Monaten, da er zur Nachtzeit heimlich vom Carneval zuruͤckkehrte, Elviren erſchienen war; und Mantel, Collet und Federhuth, genueſiſchen Zuſchnitts, genau ſo, wie ſie das Bild trug, umgeworfen, ſchlich er ſich, kurz vor dem Schlafengehen, in Elvirens Zimmer, hing ein ſchwarzes Tuch uͤber das in der Niſche ſtehende Bild, und wartete, einen Stab in der Hand, ganz in der Stellung des gemahlten jungen Patriziers, Elvirens Vergoͤtterung ab. Er hatte auch, im Scharfſinn ſeiner ſchaͤndlichen Leidenſchaft, ganz richtig gerechnet; denn kaum hatte Elvire, die bald darauf eintrat, nach einer ſtillen und ruhigen Entkleidung, wie ſie gewoͤhnlich zu thun pflegte, den ſeidnen Vorhang, der die Niſche bedeckte, eroͤffnet und ihn erblickt: als ſie ſchon: Colino! Mein Geliebter! rief und ohn 126maͤchtig auf das Getaͤfel des Bodens niederſank. Nicolo trat aus der Niſche hervor; er ſtand einen Augenblick, im Anſchauen ihrer Reize verſunken, und betrachtete ihre zarte, unter dem Kuß des Todes ploͤtzlich erblaſſende Geſtalt: hob ſie aber bald, da keine Zeit zu verlieren war, in ſeinen Armen auf, und trug ſie, indem er das ſchwarze Tuch von dem Bild herabriß, auf das im Winkel des Zimmers ſtehende Bett. Dies abgethan, ging er, die Thuͤr zu verriegeln, fand aber, daß ſie ſchon verſchloſſen war; und ſicher, daß ſie auch nach Wiederkehr ihrer verſtoͤrten Sinne, ſeiner phantaſtiſchen, dem Anſehen nach uͤberirdiſchen Erſcheinung keinen Widerſtand leiſten wuͤrde, kehrte er jetzt zu dem Lager zuruͤck, bemuͤht, ſie mit heißen Kuͤſſen auf Bruſt und Lippen aufzuwecken. Aber die Nemeſis, die dem Frevel auf dem Fuß folgt, wollte, daß Piachi, den der Elende noch auf mehrere Tage entfernt glaubte, unvermuthet, in eben dieſer Stunde, in ſeine Wohnung zuruͤckkehren mußte; leiſe, da er Elviren ſchon ſchlafen glaubte, ſchlich 127er durch den Corridor heran, und da er immer den Schluͤſſel bei ſich trug, ſo gelang es ihm, ploͤtzlich, ohne daß irgend ein Geraͤuſch ihn angekuͤndigt haͤtte, in das Zimmer einzutreten. Nicolo ſtand wie vom Donner geruͤhrt; er warf ſich, da ſeine Buͤberei auf keine Weiſe zu bemaͤnteln war, dem Alten zu Fuͤßen, und bat ihn, unter der Betheurung, den Blick nie wieder zu ſeiner Frau zu erheben, um Vergebung. Und in der That war der Alte auch geneigt, die Sache ſtill abzumachen; ſprachlos, wie ihn einige Worte Elvirens gemacht hatten, die ſich von ſeinen Armen umfaßt, mit einem entſetzlichen Blick, den ſie auf den Elenden warf, erholt hatte, nahm er bloß, indem er die Vorhaͤnge des Bettes, auf welchem ſie ruhte, zuzog, die Peitſche von der Wand, oͤffnete ihm die Thuͤr und zeigte ihm den Weg, den er unmittelbar wandern ſollte. Doch dieſer, eines Tartuͤffe voͤllig wuͤrdig, ſah nicht ſobald, daß auf dieſem Wege nichts auszurichten war, als er ploͤtzlich vom Fußboden erſtand und erklaͤrte: 128an ihm, dem Alten, ſei es, das Haus zu raͤumen, denn er durch vollguͤltige Documente eingeſetzt, ſei der Beſitzer und werde ſein Recht, gegen wen immer auf der Welt es ſei, zu behaupten wiſſen! — Piachi traute ſeinen Sinnen nicht; durch dieſe unerhoͤrte Frechheit wie entwaffnet, legte er die Peitſche weg, nahm Huth und Stock, lief augenblicklich zu ſeinem alten Rechtsfreund, dem Doctor Valerio, klingelte eine Magd heraus, die ihm oͤffnete, und fiel, da er ſein Zimmer erreicht hatte, bewußtlos, noch ehe er ein Wort vorgebracht hatte, an ſeinem Bette nieder. Der Doctor, der ihn und ſpaͤterhin auch Elviren in ſeinem Hauſe aufnahm, eilte gleich am andern Morgen, die Feſtſetzung des hoͤlliſchen Boͤſewichts, der mancherlei Vortheile fuͤr ſich hatte, auszuwirken; doch waͤhrend Piachi ſeine machtloſen Hebel anſetzte, ihn aus den Beſitzungen, die ihm einmal zugeſchrieben waren, wieder zu verdraͤngen, flog jener ſchon mit einer Verſchreibung uͤber den ganzen Inbegriff derſelben, zu den Carmeli129termoͤnchen, ſeinen Freunden, und forderte ſie auf, ihn gegen den alten Narren, der ihn daraus vertreiben wolle, zu beſchuͤtzen. Kurz, da er Xavieren, welche der Biſchof los zu ſein wuͤnſchte, zu heirathen willigte, ſiegte die Bosheit, und die Regierung erließ, auf Vermittelung dieſes geiſtlichen Herrn, ein Dekret, in welchem Nicolo in den Beſitz beſtaͤtigt und dem Piachi aufgegeben ward, ihn nicht darin zu belaͤſtigen.
Piachi hatte gerade Tags zuvor die ungluͤckliche Elvire begraben, die an an [emendiert, ohne Hinweis im Kommentar] den Folgen eines hitzigen Fiebers, das ihr jener Vorfall zugezogen hatte, geſtorben war. Durch dieſen doppelten Schmerz gereizt, ging er, das Dekret in der Taſche, in das Haus, und ſtark, wie die Wuth ihn machte, warf er den von Natur ſchwaͤcheren Nicolo nieder und druͤckte ihm das Gehirn an der Wand ein. Die Leute die im Hauſe waren, bemerkten ihn nicht eher, als bis die That geſchehen war; ſie fanden ihn noch, da er den Nicolo zwiſchen den Knien hielt, und ihm das De 130kret in den Mund ſtopfte. Dies abgemacht, ſtand er, indem er alle ſeine Waffen abgab, auf; ward ins Gefaͤngniß geſetzt, verhoͤrt und verurtheilt, mit dem Strange vom Leben zum Tode gebracht zu werden.
In dem Kirchenſtaat herrſcht ein Geſetz, nach welchem kein Verbrecher zum Tode gefuͤhrt werden kann, bevor er die Abſolution empfangen. Piachi, als ihm der Stab gebrochen war, verweigerte ſich hartnaͤckig der Abſolution. Nachdem man vergebens Alles, was die Religion an die Hand gab, verſucht hatte, ihm die Strafwuͤrdigkeit ſeiner Handlung fuͤhlbar zu machen, hoffte man, ihn durch den Anblick des Todes, der ſeiner wartete, in das Gefuͤhl Gefuͤhl Gefuͤhl Gefuͤhl Gefuͤhl der Reue hineinzuſchrecken und fuͤhrte ihn nach dem Galgen hinaus. Hier ſtand ein Prieſter und ſchilderte ihm, mit der Lunge der letzten Poſaune, alle Schreckniſſe der Hoͤlle, in die ſeine Seele hinabzufahren im Begriff war; dort ein anderer, den Leib des Herrn, das heilige Entſuͤhnungsmittel in der Hand, und pries ihm131 die Wohnungen des ewigen Friedens. — „Willſt du der Wohlthat der Erloͤſung theilhaftig werden?“ fragten ihn beide. „Willſt du das Abendmahl empfangen?" — Nein, antwortete Piachi. — „Warum nicht?“ — Ich will nicht ſelig ſein. Ich will in den unterſten Grund der Hoͤlle hinabfahren. Ich will den Nicolo, der nicht im Himmel ſein wird, wiederfinden, und meine Rache, die ich hier nur unvollſtaͤndig befriedigen konnte, wieder aufnehmen! — Und damit beſtieg er die Leiter und forderte den Nachrichter auf, ſein Amt zu thun. Kurz, man ſah ſich genoͤthigt, mit der Hinrichtung einzuhalten, und den Ungluͤcklichen, den das Geſetz in Schutz nahm, wieder in das Gefaͤngniß zuruͤckzufuͤhren. Drei hinter einander folgende Tage machte man dieſelben Verſuche und immer mit demſelben Erfolg. Als er am dritten Tage wieder, ohne an den Galgen geknuͤpft zu werden, die Leiter herabſteigen mußte: hob er, mit einer grimmigen Gebaͤhrde, die Haͤnde empor, das unmenſchliche Geſetz verfluchend, 132das ihn nicht zur Hoͤlle fahren laſſen wolle. Er rief die ganze Schaar der Teufel herbei, ihn zu holen, verſchwor ſich, ſein einziger Wunſch ſei, gerichtet und verdammt zu werden, und verſicherte, er wuͤrde noch dem erſten, beſten Prieſter an den Hals kommen, um des Nicolo in der Hoͤlle wieder habhaft zu werden! — Als man dem Pabſt dies meldete, befahl er, ihn ohne Abſolution hinzurichten; kein Prieſter begleitete ihn, man knuͤpfte ihn, ganz in der Stille, auf dem Platz del popolo auf.