[081] An Henriette v. Schlieben, 29. Juli 1804
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Meine theure]teure Freundinn]Freundin Henriette,
ich will dieſe Reiſe des Hauptmanns von Gleißenberg, meines Jugendfreundes, nicht unbenutzt laſſen, Ihnen ein Paar]paar flüchtige Zeilen von Ihrem immer treuen Heinrich Kleiſt in die Hände zu ſchanzen. Verzeihen Sie, wenn ich alle Verſprechungen, mit welchen ich in Dreßden]Dresden von Ihnen ſchied, ſo gänzlich unerfüllt [SE:1993 II 744] gelaſſen habe. Wenn uns das Schickſal ſo unerbittlich grimmig auf der Ferſe folgt, ſo haben wir alle Beſinnung nöthig]nötig, um uns nur vor ſeinen Schlägen einigermaßen zu retten. Doch es bedarf nur einer kurzen Ruhe, um uns alle frohen Augenblicke der Vergangenheit, und mit ihnen alle gute Menſchen in’s]ins Gedächtniß]Gedächtnis zu rufen, denen wir ſie ſchuldig ſind.
Wie iſt es Ihnen denn dieſes ganze lange Jahr über, das wir uns nicht geſehen haben, gegangen? Wie befindet ſich Ihre würdige Frau Mutter? Und Ihre Tante? Was macht unſre liebenswürdige Freundinn]Freundin Caroline? Iſt Wilhelm in Dreßden]Dresden geweſen? Und iſt ihm ſein Wunſch erfüllt, und ihm eine Laufbahn im Civil]Zivil eröffnet worden? Schreibt Lohſe öfter als ſonſt? Und geht es ihm gut? Wo iſt er denn jetzt? Dürfen wir hoffen, unſre liebe Caroline durch ihn bald [DKV IV 330] glücklich zu ſehen? — Auf alle dieſe Fragen, mein theuerſtes]teuerstes Couſinchen]Kusinchen, wird Ihnen Ihr Herz ſagen, daß Sie mir die Antwort ſchuldig ſind.
Ich habe Lohſen auf einige Zeit in Vareſe geſehen, wo ich einen der frohſten Tage meines Lebens verlebt habe. Wir fuhren, Werdecks, Pfuel, er, u. und ]und ich, zuſammen nach Madonna del monte]Monte, einem ehemaligen Kloſter an dem ſüdlichen Fuße der Alpen; und war es dieſe Geſellſchaft, und dieſer Ort, dieſer wunderſchöne Ort, vielleicht auch der Genuß der gewürzreichen [2] [BKA IV/2 313] Weine, und der noch gewürzreicheren Lüfte dieſes Landes: ich weiß es nicht; aber Freude habe ich an dieſem Tage ſo lebhaft empfunden, [Heimböckel:1999 (Reclam) 339] daß mir dieſe Erſcheinung noch jetzt, bei dem Kummer, der mir zugleich damals freſſend an’s]ans Herz [MA II 827] nagte, ganz verwundrungswürdig iſt. — Übrigens hatte ich, bei der Geſellſchaft, die uns immer umgab, nur ſelten Gelegenheit, mich ihm vertraulich zu nähern. Seine Verhältniſſe ſchienen in dieſer Stadt ſehr mannichfaltig]mannigfaltig, ſelbſt ein wenig verwickelt, er ſelber gegen mich etwas geheimnißvoll]geheimnisvoll, ſo daß ich Ihnen keine ganz ſichere Nachricht über ihn zu geben im][] Stande]imstande war; ſonſt hätte ich wirklich gleich von dort aus an Sie geſchrieben. — Auch hatte er eben einen Brief an Caroline angefangen, ſo daß ich einen Aufſchub wagen zu dürfen glaubte, u. und ]und ſpäterhin durch eine zunehmende Gemüthskrankheit]Gemütskrankheit immer unfähiger ward, die Feder zu einem Briefe an Sie anzuſetzen.
Von dort aus bin ich, wie von der Furie getrieben, Frankreich [SE:1993 II 745] von Neuem]neuem mit blinder Unruhe in zwei Richtungen durchreiſet, über Genf, Lyon, Paris nach Boulogne sur Mer gegangen, wo ich, wenn Bonaparte ſich damals wirklich nach England mit dem Heere eingeſchifft hätte, aus Lebensüberdruß einen raſenden Streich begangen haben würde; ſodann von da wieder zurück über Paris nach Mainz, wo ich endlich krank niederſank, und nahe an fünf Monaten abwechſelnd das Bett oder das Zimmer gehütet habe. Ich bin nicht im][] Stande]imstande vernünftigen Menſchen einigen Aufſchluß über dieſe ſeltſame Reiſe zu geben. Ich ſelber habe [DKV IV 331] ſeit meiner Krankheit die Einſicht in ihre Motiven verloren, u. und ]und begreife nicht mehr, wie gewiſſe Dinge auf andere erfolgen konnten. — Jetzt werde ich in meinem [3] [BKA IV/2 314] Vaterlande bei dem Departement der auswärtigen Angelegenheiten angeſtellt werden, und mich vielleicht in Kurzem]kurzem wieder zu einer neuen Reiſe rüſten müſſen. Denn ich ſoll mit einer Geſandtſchafft]Gesandtschaft nach Spanien gehen, und werde auf dieſe Art wohl Verzicht leiſten müſſen, jemals auf dieſem Sterne zur Ruhe zu kommen. — Wie lieb ſollte es mir aber ſein, wenn mich dieſe Reiſe über Dreßden]Dresden führte, und ich an Ihrer Seite, meine liebenswürdigen Freundinnen, einige [Heimböckel:1999 (Reclam) 340] der ſchönen Tage der Vergangenheit wiederholen könnte! Bis dahin erfreuen Sie mich gütigſt mit einem Paar]paar Zeilen von Ihrer Hand, u. und ]und vergeſſen Sie meine Bitte nicht um Nachricht über Alles]alles, Frohes oder und und ]und Trauriges, was Ihr Haus betroffen haben könnte; denn Alles]alles, was Sie, geht auch mich an.
Berlin, d.]den 29t ]29. Juli, ]Juli 1804. ]1804 Heinrich Kleiſt.
[MA II 828]N.S. Dieſen Brief gebe ich dem Hauptmann v]v. Gleissenberg Gleißenberg ]Gleißenberg mit, der nach Gulben bei Cottbus zu ſeiner Braut, meiner Cousine]Kusine, dem Fräulein v Pannwitz, u. und ]und vielleicht von dort, in Geſchäfften]Geschäften ſeines künftigen Schwiegervaters, nach Dreßden]Dresden geht. In dieſem Falle, denk’]denk ich, werden Sie ihm wohl, als meinem Freunde, vorläufig ein freundliches Geſicht ſchenken, bis er Zeit gewonnen hat, es ſich bei Ihnen zu verdienen. Er wird ſich auch meinen Koffer ausbitten, für deſſen gütige Aufbewahrung ich Ihnen allerſeits ergebenſt danke. — Sollten Hinderniße]Hindernisse ihn abhalten, nach Dreßden]Dresden zu gehen, ſo wird er Ihnen dieſen Brief mit der Poſt ſchicken; und in dieſem Falle mögte]möchte ich wohl wiſſen, ob ſich Gelegenheit fände, dieſen Koffer mit einem Frachtwagen [SE:1993 II 746] nach Gulben bei Cottbus an den Herrn Hauptmann v]v. Pannwitz zu ſchicken? Wenn dies nicht möglich iſt, ſo bitte ich ihn gradezu dorthin auf die Poſt zu geben.