[075] An Ulrike v. Kleist, 5. Oktober 1803
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Der Himmel weiß, meine theuerste]teuerste Ulrike, (und ich will umkommen, wenn / es nicht wörtlich wahr ist) wie gern ich einen Blutstropfen aus meinem Herzen / für jeden Buchstaben eines Briefes gäbe, der so anfangen könnte: „mein / Gedicht ist fertig.“ Aber, du]Du weißt, wer, nach dem Sprüch[DKV IV 320] wort, mehr thut]tut, / als er kann. Ich habe nun ein Halbtausend hinter einander folgender / Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet, an den Versuch gesetzt, zu so / vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie herabzuringen: jetzt / ruft mir unsere heilige Schutzgöttinn]Schutzgöttin zu, daß es genug sei. Sie küßt mir / gerührt den Schweiß von der Stirne, und tröstet mich „wenn Jeder]jeder ihrer / lieben Söhne nur eben so]ebenso viel thäte]täte, so würde unserm Namen ein Platz / 10 in den Sternen nicht fehlen.“ ]fehlen«. Und so sei es denn genug. Das Schicksal, das den / Völkern jeden Zuschuß zu ihrer Bildung zumißt, will, denke ich, die Kunst / in diesem nördlichen Himmelsstrich noch nicht reifen lassen. Thörigt]Töricht wäre es / [SE:1993 II 726] wenigstens, wenn ich meine Kräfte länger an ein Werk setzen wollte, das, / wie ich mich endlich überzeugen muß, für mich zu schwer ist. Ich trete vor / Einem]einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend im / Voraus]voraus, vor seinem Geiste. Denn in der Reihe der menschlichen Erfindungen / ist diejenige, die ich gedacht habe, unfehlbar ein Glied, und es wächst ir/gendwo ein Stein schon für den, der sie einst ausspricht. /
[MA II 818]Und so soll ich denn niemals zu euch]Euch, meine theuersten]teuersten Menschen, zurück/ 20 kehren? O niemals! Rede mir nicht zu. [Heimböckel:1999 (Reclam) 329] Wenn du]Du es thust]tust, so kennst / du]Du das gefährliche Ding nicht, das man Ehrgeiz nennt. Ich kann jetzt darü/ber lachen, wenn ich mir einen Prätendenten mit Ansprüchen unter einem / Haufen von Menschen denke, die sein Geburtsrecht zur Krone nicht an/erkennen; aber die Folgen für ein empfindliches Gemüth]Gemüt, sie sind, ich / schwöre es dir]Dir, nicht zu berechnen. Mich entsetzt die Vorstellung. /
Ist es aber nicht unwürdig, wenn sich das Schicksal herabläßt, ein / so hülfloses Ding, wie der Mensch ist, bei der Nase herum zu führen? Und / [2] [BKA IV/2 279] sollte man es nicht fast so nennen, wenn es uns gleichsam Kuxe / auf Goldminen giebt]gibt, die, wenn wir nachgraben, überall kein ächtes]echtes / 30 Metall enthalten? Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Himmel / schenkt dem Menschen ein ganzes, oder gar keins. /
Ich kann dir]Dir nicht sagen, wie groß mein Schmerz ist. Ich würde vom / Herzen gern hingehen, wo ewig kein Mensch [DKV IV 321] hinkommt. Es hat sich eine / gewisse ungerechte Erbitterung meiner gegen sie bemeistert, ich komme / mir fast vor wie Minette, wenn sie in einem Streite recht hat, und / sich nicht aussprechen kann. /
Ich bin jetzt auf dem Wege nach Paris sehr entschlossen, ohne große / Wahl zuzugreifen, wo sich etwas finden wird. Geßner hat mich nicht / bezahlt, meine unseelige]unselige Stimmung hat mir viel Geld gekostet, und / 40 wenn du]Du mich noch einmal unterstützen willst, so kann es mir / nur helfen, wenn es bald geschieht. Kann sein, auch, wenn es gar / nicht geschieht. /
Lebe wohl, grüße Alles]alles — ich kann nicht mehr. /
Genf, d.]den 5t ]5. October, ]Oktober 1803. ]1803 Heinrich. /
N.S. Schicke mir doch Wielands Brief. Du mußt poste restante / nach Paris schreiben.