[064] An Ulrike v. Kleist, 01. Mai 1802
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[1] [BKA IV/2 206] [DKV IV 305] [SE:1993 II 723] [Heimböckel:1999 (Reclam) 314] [MA II 804] Auf der Aarinsel bei Thun, d.]den 1t ]1. Mai, ]Mai 1802. ]1802 /
Mein liebes Ulrikchen, ich muß meiner Arbeit einmal / einen halben Tag stehlen, um dir Dir ]Dir Rechenschaft zu geben / von meinem Leben; denn ich habe immer eine undeutliche / Vorstellung, als ob ich dir Dir ]Dir das schuldig wäre, gleichsam als ob / ich von deinem Deinem ]Deinem Eigenthume]Eigentume zehrte. /
[DKV IV 306]Deinen letzten Brief mit Inschriften u.]und Einlagen / von den Geliebten, habe ich zu großer Freude in Bern / empfangen, wo ich [SE:1993 II 724] eben ein Geschäft hatte bei dem / Buchhändler Geßner, Sohn des berühmten, der eine Wieland, / 10 Tochter des berühmten, zur Frau, u.]und Kinder, wie die leben/digen Idyllen hat: ein Haus, in welchem sich gern verwei/len läßt. Drauf machte ich mit Zschokke und Wieland, / Schwager des Geßner, eine kleine Streiferei durch den / Aargau — Doch das wäre zu weitläufig, ich muß dich]Dich / überhaupt doch von manchen andern Wunderdingen unter/halten, wenn wir einmal wieder beisammen sein werden./ — Jetzt leb’ ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluß / des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, ¼ Meile von / der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen / 20 seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für / sechs Monate gemiethet]gemietet u.]und bewohne es ganz allein. Auf / der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der / andern Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon / einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn / sie Netze einzieht u.]und auswirft. Der Va[MA II 805] ter hat mir von / zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirth/schaft]Wirtschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich / [2] [BKA IV/2 209] ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli. Mit der Sonne / stehn wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, [Heimböckel:1999 (Reclam) 315] bereitet / 30 mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu euch]Euch; / dann essen wir zusammen; Sonntags]sonntags zieht sie ihre schöne / Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns / über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, / u.]und nach der Andacht kehren wir beide zurück. Weiter weiß / ich von der ganzen Welt nichts mehr. Ich würde ganz ohne alle / widrigen Gefühle sein, wenn ich nicht, durch mein ganzes / Leben daran gewöhnt, sie mir selbst erschaffen müßte. So / habe ich zum Beispiel jetzt eine seltsame Furcht,/ ich mögte]möchte sterben, ehe ich / 40 meine Arbeit vollendet habe. Von allen Sorgen vor dem Hungertod / bin ich aber, Gott sei dank]Dank, befreit, obschon Alles]alles, was ich erwerbe, / so grade wieder drauf geht. Denn, du]Du weißt, daß mir das / Sparen auf keine Art gelingt. Kürz[DKV IV 307] lich fiel es mir einmal / ein, u.]und ich sagte dem Mädeli: sie sollte sparen. Das Mädchen / verstand aber das Wort nicht, ich war nicht im]imstande Stande] ihr / das Ding begreiflich zu machen, wir lachten beide, u.]und es muß / nun beim Alten]alten bleiben. — Übrigens muß ich hier wohlfeil / leben, ich komme selten von der Insel, sehe niemand, lese keine / Bücher, Zeitungen, kurz, brauche nichts, als mich selbst. / 50 Zuweilen doch kommen [SE:1993 II 725] Geßner, oder Zschokke oder Wieland aus / Bern, hören etwas von meiner Arbeit, u.]und schmeicheln mir —/ kurz, ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir / drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht,/ und eine große That]Tat. Denn das Leben hat doch immer / nichts Erhabneres, als nur dieses, daß man es erhaben / wegwerfen kann. — Mit einem Worte, diese außerordentlichen / [3] [BKA IV/2 210] Verhältnisse thun]tun mir erstaunlich wohl, u.]und ich bin von allem / Gemeinen so entwöhnt, daß ich gar nicht mehr hinüber / mögte]möchte an die andern Ufer, wenn ihr Ihr ]Ihr nicht da wohntet. Aber / 60 ich arbeite unaufhörlich um Befreiung von der Verbanung Verbannung ]Verbannung / — du]Du verstehst mich. Vielleicht bin ich in einem Jahre wieder bei / euch]Euch. — Gelingt es mir nicht, so bleibe ich in der Schweiz, und / dann kommst du]Du zu mir. Denn wenn sich mein Leben wür/dig [Heimböckel:1999 (Reclam) 316] beschließen soll, so muß es doch in deinen]Deinen Armen sein. / — Adieu. Grüße, küsse, danke Alle]alle. Heinrich Kleist. /
[MA II 806]N. S. Ich war vor etwa 4 Wochen, ehe ich hier einzog, im Begrif]Begriff nach Wien / zu gehen, weil es mir hier an Büchern fehlt; doch es geht so auch u.]und / vielleicht noch besser. Auf den Winter aber werde ich dorthin — / oder vielleicht gar schon nach Berlin. — Bitte doch nur Leopold, daß er / 70 nicht böse wird, weil ich nicht schreibe, denn es ist mir wirklich immer eine erstaunliche / Zerstreuung, die ich vermeiden muß. In etwa 6 Wochen werde ich wenigstens / ein Dutzend Briefe schreiben. — /