[038] An Ulrike v. Kleist, 23. März 1801
Alle Textversionen sind inhaltlich identisch. Die Handschrift wird in konstituierter und emendierter Fassung dargestellt (eine textkritische Darstellung ist in Planung). Alle Emendationen sind im Anhang einzeln verzeichnet.
Die
Fassung Handschrift zeigt die emendierte Wiedergabe der Handschrift. Der originale Zeilenfall ist beibehalten. Diese Fassung wird wegen der Zeilenlänge auf Smartphones nicht angezeigt.
In der Textversion ohne originalen Zeilenfall wird der Zeilenfall mit einem Schrägstrich / angezeigt, die Zeile wird aber nicht umbrochen. Die Zeilenzahl wird alle 10 Zeilen angezeigt.
In der Textversion ohne langes ſ sind das lange ſ und historische Umlautformen der heutigen Darstellungsweise angepasst. Der originale Zeilenumbruch wird nicht angezeigt, Seitenumbrüche bleiben erhalten.
[1] [BKA IV/1 512] [DKV IV 207] [SE:1993 II 636] [Heimböckel:1999 (Reclam) 215] [MA II 714] Berlin, d.]den 23t ]23. März, ]März 1801. ]1801
Mein liebes Ulrikchen, ich kann Dir jetzt nicht so weitläufig schreiben, warum ich mich entschlossen habe, Berlin sobald als möglich zu verlassen u.]und ins Ausland zu reisen. Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Thorheit]Torheit werden würde, deren die Kantische Philosophie so viele auf das Gewissen hat. Mich eckelt]ekelt vor dieser Gesellschaft u.], und doch kann ich mich nicht losringen aus ihren Banden. Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach [Heimböckel:1999 (Reclam) 216] dem Tode ganz anders heißt, u.]und daß folglich das Bestreben, sich ein Eigenthum]Eigentum zu erwerben, das uns auch in das Grab [DKV IV 208] folgt, ganz vergeblich u.]und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligthum]Heiligtum meiner Seele erschüttert — Mein einziges u.]und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem eckelt]ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und suche ein neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäfftigt,]froh-beschäftigt, von Neuem]neuem [MA II 715] entgegenschreiten könnte. Aber ich finde es nicht, u.]und eine innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf Caffeehäuser]Kaffeehäuser u.]und Tabagien, in Concerte]Konzerte u.]und Schauspiele, ich begehe, um mich zu zerstreuen u.]und zu betäuben, Thorheiten,]Torheiten, die ich mich schäme aufzuschreiben, und doch ist der einzige Gedanke, den in diesem äußern Tumult meine Seele unaufhörlich mit glühender Angst bearbeitet, dieser: dein einziges, u.]und höchstes Ziel ist gesunken — — Ich habe mich zwingen wollen zur Arbeit, aber mich eckelt]ekelt vor Allem,]allem, was Wissen heißt. Ich kann nicht einen Schrit]Schritt thun,]tun, ohne mir deutlich bewußt zu sein, wohin ich will? — Mein Wille ist zu reisen. Verloren ist die Zeit nicht, denn arbeiten könnte ich doch nicht, ich wüßte nicht, zu welchem Zwecke? Ich will mir einen Zweck suchen, wenn es einen giebt.]gibt. Wenn ich zu Hause bliebe, so müßte ich die Hände in den Schooß]Schoß legen u.]und denken; so will [SE:1993 II 637] ich lieber spatzieren]spazieren gehen, u.]und denken. Ich kehre um, so]sobald bald] ich weiß, was ich thun]tun soll. Ist es eine Verirrung, so läßt sie sich vergüten u.]und schützt mich vielleicht vor einer andern, die unwiderruflich wäre. Ich habe Dir versprochen, das Vaterland nicht zu verlassen, ohne Dich davon zu benachrichtigen u.], und ich erfülle mein Wort. Willst Du mitreisen, so steht es in Deiner Willkühr.]Willkür. Einen frohen Gesellschafter [2] [BKA IV/1 515] wirst Du nicht finden, auch würden die Kosten nicht gering sein, denn mein Zuschuß kann nicht mehr sein, als 1 Rth. Rth für jeden Tag. Willst Du aber dennoch, so mache ich Dir gleich einige Vorschläge. Das Wohlfeilste würde sein, mit eigner Equipage zu reisen. Den Wagen könntest Du hier kaufen, eben]ebenso so] ein Paar]paar alte ausrangirte]ausrangierte pohlnische]polnische [Heimböckel:1999 (Reclam) 217] Husarenpferde, welche zu diesem Zwecke am beßten]besten tauglich sein mögten.]möchten. Unser hiesiger Bedienter, ein brauchbarer guter Mensch, geht gern mit. Doch auf diesen Fall wäre zu viel zu verab[DKV IV 209] reden, als daß es sich schriftlich leicht thun]tun ließe. Das Beßte]beste wäre daher, Du führest bis Eggersdorf, u.]und schriebst mir, wann ich Dich dort abholen sollte. Kommt Dir dies alles aber zu rasch, so bleibe ruhig, unsre Reise aufs künftige Jahr bleibt Dir doch unverloren. In diesem Falle hilf mir doch (wenn Du nicht kannst, durch Minetten) mit 300 Rth. Aber so bald als möglich, denn die Unthätigkeit]Untätigkeit macht mich unglücklich. Ich mögte möchte ]möchte gern mit dem 1t ]1. Aprill]April abreisen, das heißt also schon in 8 Tagen. Mein Wille ist durch Frankreich (Paris) die Schweiz [MA II 716] u.]und Deutschland zu reisen. Ich kehre vielleicht in kurzem zurück, vielleicht auch nicht, doch gewiß noch vor Weihnachten. Heinrich.
N. S. Dieser Brief ist verspätet worden, u.]und wenn ich nun auch nicht den ersten Aprill]April reisen kann, so möchte ich doch gern in den ersten Tagen dieses Monats reisen.
Sage doch Tante Massow sie möchte mir sobald als möglich meine Zulage schicken. Auch außer dieser Zulage von 75 Rth. Rth erhält sie noch 140 Rth. Rth vom Vormund, (worüber](worüber sie quittiren]quittieren muß,) ]muß), die ich zugleich zu erhalten wünschte.